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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2016, 2016

-----------------------9.3.2016, verfasst von Rainer Oechslen

Der Herr sprach: Das habe ich zu euch geredet, damit ihr nicht abfallt. Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen. Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, er tue Gott einen Dienst damit. Und das werden sie darum tun, weil sie weder meinen Vater noch mich erkennen. Aber dies habe ich zu euch geredet, damit, wenn eure Stunde kommen wird, ihr daran denkt, dass ich’s euch gesagt habe. Zu Anfang aber habe ich es euch nicht gesagt, denn ich war bei euch. Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voller Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über ihre Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben; über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.

Joh 16, 1-11

 

Liebe Gemeinde!

Wenn der Tröster kommt,“ sagt Jesus, „wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht“. Es muss ein sehr besonderer Trost sein, der uns die Augen auftut über unsere Sünde, über die Gerechtigkeit und das Gericht.

 

Über unsere Sünde, habe ich gesagt. Jesus kündigt allerdings an: Der Tröster wird der Welt die Augen auftun. Tatsächlich wird in den Abschiedsworten Jesu im Johannesevangelium das Bild einer Gemeinde sichtbar, die unter Druck steht, die „Angst hat in der Welt“ (16,33), die verfolgt wird, ausgestoßen, isoliert. Sogar der Tod um ihres Glaubens willen droht manchen Gemeindegliedern. Eine solche Gemeinde sieht auf der einen Seite sich selbst als die Gesellschaft der „Freunde Jesu“ (15,14), auf der andern Seite die „Welt“ – die der Gemeinde bestenfalls mit Unverständnis, schlimmstenfalls mit Verfolgung begegnet.

 

Eine solche Gemeinde sind wir, die wir hier versammelt sind, jedenfalls nicht. Wir sind weder verfolgt noch isoliert. Im Gegenteil: Die christliche Gemeinde, mag sie auch kleiner werden, ist in dieser Stadt und in diesem Land nach wie vor wohlgelitten. In Bayern ist sie so wohlgelitten, dass man manchmal von einer Umarmungs-strategie des Staates sprechen kann. Deshalb sage ich: Auch wir gehören zur „Welt“. Auch uns muss „der Tröster, der heilige Geist,“ (14,26) die Augen auftun über die Sünde, über die Gerechtigkeit und über das Gericht.

 

Eine Predigt ist mir eingefallen, die mindestens einem Menschen die Augen auftat und die sich mir eingeprägt hat beim Lesen. Gehalten wurde diese Predigt im Herbst 1960 in den Vereinigten Staaten von Amerika. Im Jahr 1960 war Wahlkampf in den USA, so wie auch in diesem Jahr wieder. Vor 56 Jahren allerdings kandidierten andere Politiker als heute: John F. Kennedy und Richard M. Nixon bewarben sich um das Präsidentenamt. Wir wissen, wer die Wahl gewonnen hat.

 

Noch vor dem Wahltag tritt der Schriftsteller John Steinbeck eine lange Reise an. Steinbeck ist damals schon ein bekannter Mann – den Nobelpreis wird er erst 1962 bekommen. Aber er ist in einer Krise. Es geht ihm nicht gut. Er möchte allein sein. So rüstet er einen Lieferwagen zu einer Art Wohnmobil, nimmt nur seinen Hund Charley mit und fährt von Gegend um Boston im Norden der USA die kanadische Grenze entlang, dann die ganze Westküste hinunter bis Kalifornien und über Texas und Louisiana die Ostküste wieder hinauf nach Norden. Am Sonntag aber geht ein Amerikaner in die Kirche – zumindest einer wie Steinbeck. Nun lese ich Steinbecks Bericht, den er in seinem Buch „Die Reise mit Charley“ veröffentlicht hat.

 

Sonntagmorgen in einer Stadt in Vermont, an meinem letzten Tag in Neuengland, rasierte ich mich, zog einen Anzug an, polierte meine Schuhe, machte mich fein und sah mich nach einer Kirche um. Mehrere schied ich aus Gründen aus, an die ich mich nicht mehr erinnere, aber als ich eine John-Knox-Kirche - Knox war der Reformator Schottlands, ein strenger Reformierter - sah, fuhr ich in eine Seitenstraße und parkte außer Sichtweite, gab Charley Instruktionen hinsichtlich der Bewachung des Wagens und machte mich würdevoll auf den Weg in eine Kirche aus blendend weißen Schiffplanken. Ich setzte mich in den hinteren Teil des makellos blankgeputzten Ortes der Andacht. Die Gebete zielten aufs Wesentliche, indem sie die Aufmerksamkeit des Allmächtigen auf gewisse Schwächen und unfromme Neigungen lenkten, von denen ich weiß, dass ich sie habe, und nur annehmen konnte, dass sie auch von den anderen dort Versammelten geteilt wurden.

Der Gottesdienst tat meinem Herzen und hoffentlich auch meiner Seele wohl. Es war ziemlich lange her, dass ich eine solche Ansprache gehört hatte. Wir haben uns daran gewöhnt, zumindest in den Großstädten, von unserer psychiatrischen Priesterschaft zu hören, dass unsere Sünden in Wirklichkeit gar keine Sünden sind, sondern bloß Zwischenfälle, verursacht von Kräften, die sich unserer Kontrolle entziehen.

 

Nichts von solchem Unsinn war in jener Kirche zu hören. Der Prediger, ein Mann aus Eisen mit stählernem Blick und einer Sprechweise wie ein Presslufthammer, begann mit einem Gebet und versicherte uns sodann, dass wir eine ziemlich üble Bagage seien. Und damit hatte er recht. Wir hatten von Anfang an nicht viel getaugt und waren dann infolge unserer nichtsnutzigen Bemühungen immer mehr abgeglitten. Nachdem er uns solcherart weichgeklopft hatte, ging er zu einer gewaltigen Predigt über, einer wahren Feuer-und-Schwefel-Predigt. Zuerst bewies er uns, dass wir – oder vielleicht auch bloß ich – keinen Pfifferling wert waren, dann malte er uns mit kalter Gewissheit aus, was wir zu erwarten hatten, wenn wir nicht einige elementare Neuorientierungen vornähmen, wofür er allerdings nicht viel Hoffnung sah. Er sprach als Experte über die Hölle, und zwar nicht über die windelweiche Hölle unserer verzärtelten Tage, sondern über eine gut ausstaffierte, weißglühende Hölle, die von erstklassigen Fachleuten bedient wird. Er brachte die Sache so auf den Punkt, dass wir begreifen konnten, was ein richtiges tüchtiges Kohlenfeuer ist, das einen guten Durchzug hat und von einer Schar wackerer Teufel geschürt wird, die mit ganzem Herzen bei der Sache sind – und ihre Sache war ich. Mir war rundum wohl zumute. Einige Jahre lang war Gott für uns ein Kumpel gewesen, der sich mit uns auf eine Stufe gestellt hatte, was ebenso frustrierend ist, wie wenn ein Vater mit seinem Sohn bloß immer Softball spielt. Aber diesem Gott in Vermont war ich so wichtig, dass er sich große Mühe gab, mir den Teufel auszutreiben. Er zeigte mir meine Sünden in einem neuen Licht. Waren sie bisher klein und gemein und hässlich gewesen, so dass man sie am besten vergaß, gab ihnen dieser Gottesmann nun eine gewisse Größe und Blütenfrische und Würde. Jahrelang hatte ich nicht sehr viel von mir gehalten, aber wenn meine Sünden ein solches Format hatten, konnte ich stolz auf sie sein. Ich war nun kein ungezogenes Kind mehr, sondern ein Sünder erster Ordnung, und das ging mir runter wie Butter.

Ich fühlte mich geistig so wiederbelebt, dass ich fünf Dollar auf den Teller legte – fünf Dollar waren 1960 viel Geld, als der Dollar noch fünf Mark zählte – und dann draußen vor der Kirche dem Pfarrer und möglichst vielen Gemeindegliedern herzlich die Hände schüttelte. Überall im Land ging ich sonntags zur Kirche, jedes Mal in die einer anderen Konfession, aber nirgends fand ich die Qualität jenes Predigers in Vermont. Er schmiedete eine Religion, die auf Dauer angelegt war, nicht auf schnelles vorgeplantes Veralten.

 

Fünf Punkte möchte ich zu dieser Predigt anmerken – und damit zu dem Tröster, der uns die Augen auftut über die Sünde, über die Gerechtigkeit und über das Gericht.

 

Punkt 1: Natürlich trieft diese Nacherzählung einer Predigt von Ironie.

Wilhelm Busch hat einmal gesagt:

„Zu Fraun und kleinen Kindern fein

soll man gar niemals nicht ironisch sein.“

Und ein befreundeter Pfarrer hat mir strikt untersagt, bei Predigten in seiner Gemeinde ironisch zu werden.

Aber wie soll ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, ein Intellektueller aus den USA anders als ironisch von einer Predigt reden, die ihn getroffen hat? Soll er etwa eine dieser peinlichen Bekehrungsberichte abliefern? Oder noch schlimmer: Soll er seinen Lesern die Hölle heiß machen? Mit der Hölle drohen – das geht wirklich nicht.

Nein: Die Ironie gehört dazu, gerade wenn man ernsthaft von Sünde und Gericht reden will.

Das Gute dabei ist: Gott verträgt diese Ironie. Er verträgt das Lachen. Mag es womöglich in manchen christlichen Kreisen anders sein – ich meine, dass unser Glaube

sich sehr gut mit Witz, Humor und Lachen verträgt. Der weiß Gott ernsthafte Paul Gerhardt hat nicht nur den Vers geschrieben:

„Was ist mein ganzes Leben

von meiner Jugend an

als Müh und Not gewesen?“ (EG 529,2)

 

Er hat auch geschrieben:

„Die Welt ist mir ein Lachen

Mit ihrem großen Zorn,

sie zürnt und kann nichts machen,

all Arbeit ist verlorn.“ (EG 112,5)

Und noch besser ist, wenn wir nicht nur über die Welt und ihren Zorn lachen können, sondern auch über uns selbst und über „gewisse Schwächen und unfromme Neigungen, von denen wir wissen, dass wir sie haben“.

 

Punkt 2: Wir dürfen Sünder sein.

Es ist manchmal eine Wohltat, dass wir Sünder sein dürfen. Ich denke an manche kirchliche Neugründungen: Da möchte eine Gemeinde ernst machen mit dem Glauben. Alles soll neu und gut werden: von Christus erneuerte Menschen in einer durch Gottes Wort erneuerten Gemeinde. Das geht gut, bis etwa der erste Ehebruch in der Gemeinde geschieht. Was ist dann? War alles falsch, was wir geglaubt haben? Es kann sehr unangenehm sein, wenn die Sünde nicht nur ein abstrakter Begriff, sondern eine konkrete Geschichte wird. Gerade deshalb bin ich froh, dass wir keine perfekte Gemeinde sein müssen, sondern eine Gemeinde der begnadigten Sünder sind.

 

Punkt 3: Gott sieht uns, Gott sieht mich und dich – und das ist ein Trost.

Immer wieder einmal kann man hören oder lesen, dass ein Mensch viele Jahre, vielleicht ein Leben lang unter dem Alles-wissenden Gott gelitten hat. Man hat diesem Menschen beigebracht: „Gott sieht alles, ob du heimlich Schokolade naschst oder ein Mädchen auf dem Heimweg küsst – Gott sieht alles.“ Das ist freilich ein Missbrauch Gottes. So als ob Gott etwas gegen Schokolade oder Küsse hätte. Ich ärgere mich jetzt ein wenig, dass ich im entsprechenden Alter nicht mehr Mädchen geküsst habe. Gott ist kein Geheimdienstagent – weder vom CIA noch vom Bundesnachrichtendienst. Er ist auch kein „Big brother watching you“.

Nein: Gottes Allwissenheit ist ein Trost. Auch das kann man bei Paul Gerhardt lernen, wenn er im Lied zu Gott spricht:

„Du zählst, wie oft ein Christe wein

Und was sein Kummer sei…“ (EG 324,11)

 

Wie viel Enttäuschung, wie viel unausgesprochenen Kummer tragen wir mit uns! Gott sieht das – IHM sei Lob und Dank. Und wenn es nicht um unseren Kummer, sondern um „gewisse Schwächen und unfromme Neigungen“ geht? Dann ist der Trost noch größer. Denn das Problem mit diesen Schwächen und Neigungen ist die Scham Mit wem soll man darüber reden? Wer wird uns anhören, wer uns verstehen? Auch Katholiken, wenn sie mehr zu beichten haben als „Ich habe mein Morgengebet vergessen“ fahren nach Altötting oder zu den Karmelitern nach Regensburg, wo der Beichtvater sie nicht kennt. Und welche Erleichterung, wenn man das Beschämende aussprechen darf. Gott kennt das alles, wendet den Blick nicht einmal dann von uns ab,

wenn es uns vor uns selber graut. „Wenn uns unser Herz verdammt, ist Gott größer als unser Herz und erkennt alle Dinge.“ (1.Joh 3,20) Gott sei Dank.

 

Punkt 4: Gott behandelt uns als Erwachsene.

„Ich war nun kein ungezogenes Kind mehr, sondern ein Sünder erster Ordnung“, sagt John Steinbeck. Das erhebt ihn. Ich weiß wohl, wie viel Schuld in dieser Welt aus schwierigen Umständen entsteht, aus einem schwierigen Elternhaus, einer unglücklichen Ehe oder einfach aus Armut und mangelnden Bildungschancen. Aber wenn es um mich geht, um meine „gewissen Schwächen und unfrommen Neigungen“, dann brauche ich weder faule Ausreden noch ernsthafte Entschuldigungen. Dann will ich ernst genommen werden als ein Mensch, der zu beidem fähig ist: zu Hohem und zu Niederträchtigem. Gott nimmt mich ernst. Auch das ist ein Trost.

 

Punkt 5: Der Tröster, der Heilige Geist, hat noch einige Arbeit mit uns.

Dass der Tröster uns „die Augen auftut über die Sünde, über die Gerechtigkeit und über das Gericht“ ist erst der Anfang.

Oft kann man hören: „Gott nimmt uns an wie wir sind.“ – Nun ja, der Satz ist allenfalls halb wahr und jedenfalls ein schwacher Trost. Noch sind wir nicht so, wie wir sein sollen. Noch tragen wir nicht die weißen Kleider der Seligen. Noch müssen wir verwandelt werden, umgestaltet durch den Geist Gottes.

Die katholische Kirche hat deshalb mit gewissem Recht die Lehre vom Fegefeuer entwickelt. Sie meint, das die Menschen in diesem Leben und nach dem Tod verwandelt werden müssen – gereinigt, so dass sie fähig werden, geeignet für den Himmel.

Die Reformatoren haben – ebenfalls mit gewissem Recht – diese Lehre nicht übernommen. Aber auch wir Protestanten glauben, dass Gott an uns arbeitet, uns verwandelt und dass dieser Prozess für uns schmerzhaft ist und befreiend zugleich. Noch einmal soll Paul Gerhardt zu Wort kommen. In seinem Abendlied sagt er:

„Der Leib eilt nun zur Ruhe,

legt ab das Kleid und Schuhe,

das Bild der Sterblichkeit;

die zieh ich aus: dagegen

wird Christus mir anlegen

den Rock der Ehr und Herrlichkeit“ (EG 477,4)

Noch sind wir unterwegs. Noch sind wir nicht reif für den „Rock der Ehr und Herrlichkeit“. Noch tragen wir „das Bild der Sterblichkeit“ an unserem Leib und mit ihm „gewisse Schwächen und unfromme Neigungen“. Aber der Tröster, der heilige Geist, zieht an uns, zieht uns hinein in die Verwandlung.

Mit meinen eigenen Worten: Wenn uns die Augen aufgehen über uns selber, dann tut das weh. Aber es macht uns zugleich größer und stärker. Es beginnt ein Weg, der uns in die Seligkeit führt.

Und das ist das Werk des heiligen Geistes an uns.

 

Amen

 



Pfarrer Rainer Oechslen
München
E-Mail: rainer.oechslen@elkb.de

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