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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2016, 2016

, verfasst von Manfred Wussow



Pfarrer Manfred Wussow
Das habe ich zu euch geredet, damit ihr nicht abfallt.
Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen. Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, er tue Gott einen Dienst damit.
Und das werden sie darum tun, weil sie weder meinen Vater noch mich erkennen.

Aber dies habe ich zu euch geredet, damit, wenn ihre Stunde kommen wird, ihr daran denkt, dass ich's euch gesagt habe. Zu Anfang aber habe ich es euch nicht gesagt, denn ich war bei euch.
Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin?
Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer.
Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.
Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht;
über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben;
über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht;
über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.


Predigt

Adlerblick

Heute ist Mittwoch. Alltag. Vorhin habe ich noch gearbeitet. Ich wende Kleinkram in meinem Kopf – und bewege Kleinkram mit meinen Händen. Darin bin ich Meister geworden. Nach außen bin ich cool und wichtig. Ich träume davon, ein Adler zu sein. Den Dingen enthoben. Ein weiter Blick – und doch in das Detail verliebt. Johannes gefällt mir sehr. Nicht umsonst wird er in der Ikonografie als Adler dargestellt – leider nie im Flug. Aber ich sitze doch auch oft fest – in meinen Gedanken und auf meinem Stuhl.

Der weite Blick

Doch: der Geschichte, die Johannes erzählt, sieht man den weiten Blick an. Ich liebe abenteuerliche Geschichten! Schaurig dürfen sie auch sein. Da hat doch jemand Anzeige erstattet. Wer denn angezeigt werden sollte? Der Fürst dieser Welt. Jetzt ist es heraus. Die Augenbrauen runzeln sich, die Mundwinkel verraten einen feinen spöttischen Zug. Der Fürst dieser Welt? Ob er denn auch eine Adresse habe? Wo er denn wohnen würde? Was er wohl angestellt habe? Können wir jetzt nicht ein wenig ernster sein – höre ich. Der Fürst dieser Welt ist ein böser Geist, der alles vergiftet. Gedanken, Herzen, Begegnungen, Entdeckungen, Gefühle … Ein Wort gibt das andere. Nein, gesehen habe ihn keiner, aber unter seiner Knute würden alle nur ächzen. Einfache Leute wie ich, Professoren, Politiker, Schöngeister, Dummköpfe. Die Worte verknoten sich fast. Habe ich keinen vergessen? Ist auch egal. Hauptsache, der Fürst dieser Welt wird angezeigt. Soll doch keiner sagen, er habe von ihm nichts gewusst. Furchtbar, was alles durch unsere Welt geistert. Jetzt habe ich es: Der Fürst dieser Welt regiert mit Angst, er hebelt sogar den gesunden Menschenverstand aus und vergeht sich an jeder Gewissheit, jedem Glauben, jeder Wahrheit. Wir sollen das Maul halten. Die Dummen spielen. Uns bloß nicht aus der Ruhe bringen lassen. Dabei läuft der Fürst dieser Welt nackt herum. Ohne jeden Anstand. Vielleicht haust der Fürst dieser Welt in einer Höhle? Hat er vielleicht ein Baumhaus? Nicht auszudenken, dass er es sich im meinem Herzen schon bequem gemacht hat. Dieser Unhold. Nein, die Anzeige muss sein. Heute. Mittwoch. Arbeiten kann ich auch morgen noch. - Im Formular steht dann aber: gegen unbekannt. So ein Schmarrn – unbekannt? Es gibt keinen Menschen, der von ihm nicht ein Lied singen könnte. Unbekannt! Unbekannt … Dem Fürsten dieser Welt wird wohl ein Lächeln übers Gesicht huschen. So kann er gut weitermachen. Inkognito. Nicht zu fassen. Stecken die denn alle unter einer Decke?


Detail verliebt

Johannes, Evangelist mit Adleraugen, lenkt unsere Blicke auf drei Dinge (oder Worte): Sünde, Gerechtigkeit und Gericht. Wie doch alles zusammengehört! Aber es muss sein: jede kleine Szene muss ins Licht gerückt werden:

Menschen werden schuldig – und viele glauben an nichts mehr. Nur noch an die großen (und einfachen) Worte, die leicht und eingängig sind. Dabei wird sogar Hass in Kaufgenommen – oder mit Feuer gespielt. AfD, Pegida – und der Stammtisch nebenan. Auch Fremdenfeindlichkeit lässt sich fein und klug verpacken. Oder wird bullig zelebriert. Dann sehen wir die Angst, die Mutlosigkeit und das Misstrauen, können das aber nicht zugeben – und wenn wir es zugeben, werden wir selbst zu Fremden im eigenen Land.

Menschen sehnen sich nach Gerechtigkeit – und wissen nicht, was das ist. Dubios sind die Erwartungen. Die Erwartungen an die anderen. Was die alles können, alles machen sollen!
Aber manchmal bin ich erstaunt. Auch über mich. Ich sehe meine Ungerechtigkeit – und finde Worte für sie. Dann sehe ich auf einmal meinen Spielraum und traue mich an den Ball. Ich krieg‘ ihn schon ins Tor!

Menschen sehen sich oft vor ein Tribunal gezerrt – manchmal sogar vor ihr eigenes Gewissen gestellt. Was recht ist, was wahr und gut, muss erkämpft, abgerungen werden. Worte stehen gegen Worte, Erinnerungen gegen Erinnerungen, Träume gegen Träume. Bin ich Angeklagter? Ankläger? Bin ich Verteidiger? Aber für wen spreche ich? Von wem lasse ich mir etwas sagen? Wenn ich in meinem Herzen auf die Abgründe stoße – oder gestoßen werde-, brauche ich einen gerechten Richter. Ich bleibe immer etwas schuldig. Mir – und den anderen.

Johannes, nicht umsonst in der Ikonographie als Adler dargestellt (mit einem festen Blick), kennt die Weite der Welt. Er lässt uns die Ungerechtigkeit sehen, die Menschen zu Flüchtlingen macht. Er zeigt uns die die Kriege, die Menschen heimatlos machen. Er lenkt unsere Augen auf die reichen Länder in Europa, die sich schützen wollen. Er stößt uns aber auch auf das Lachen, das Menschen verbindet. Und erzählt die Geschichte, dass Gott die Welt sosehr geliebt hat, dass er seinen Sohn für sie – für uns – hingegeben hat. Die Liebe hält nichts zurück – sie nimmt es sogar mit dem Tod auf. Ihr gehört der Sieg, das letzte Wort, der Himmel.


Kurzer Prozess

Von den drei Worten, die im Evangelium – auf hohem Ton gesungen – vorkommen, komme ich nicht los:
Sünde, Gerechtigkeit und Gericht. Wie Hammerschläge hören sie sich an – oder wie Nebelwolken – oder wie Träume.

Ich bin in einem Gerichtsprozess. Sogar im Himmel. Ich weiß noch nicht, welche Rolle mir zugedacht ist. Beobachter? Gutachter? Zeuge? Ich kann alle drei Rollen übernehmen. Heute noch.

Der Fürst dieser Welt schillert. Er redet ganz vernünftig und versprüht doch nur bösen Geist, er weiß die Worte zu wenden und bringt sie gegeneinander auf, er umgarnt wie ein Charmeur die Herzen und versetzt ihnen den Todesstoß. Jede noch so kleine Hoffnung wird für sinnlos erklärt, die Angst erklimmt den Thron der Beredsamkeit und mit wohlgesetzten und furchtbar klugen Worten werden Menschen von einer Feindschaft in die nächste jagt.

Aber jetzt ergeht das Urteil: ist gerichtet! Ihr braucht ihn nicht mehr zu fürchten – ihr wisst, wer er ist. Ihm müsst ihr nicht mehr auf den Leim gehen. Das Urteil ist verkündet und rechtskräftig. Gott gibt seine Schöpfung, seine Welt, uns nicht ab – und lässt uns auch nicht fallen. Er hat der Liebe das letzte Wort gelassen – und überhaupt gegeben. Bevor überhaupt etwas wurde von dieser Welt – die Liebe war schon da. Sie ging mit dem Licht auf. Am ersten Tag. Da bekam das Tohuwabohu eine Form, Konturen und Farben. Von dem Fürst dieser Welt mag ich mich nicht länger einschüchtern, blenden oder verwirren lassen. Er ist – gerichtet!


Beistand

Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Wir begleiten ihn auf seinem Weg zum Kreuz. Aber auch zu seiner Auferweckung. Auf diesem Weg nehmen wir die vielen Leidensgeschichten wahr, in die Menschen verwickelt sind. Auf diesem Weg nehmen wir die Hoffnungen wahr, die dem Unheil die Stirn bieten.

Jesus sagt uns, dass er uns verlässt – er sagt, dass er zum Vater geht. Er lässt uns aber nicht alleine zurück – oder als Waisen. Er schenkt uns seinen Tröster. Das ist ein altes Wort. Es hört sich warm und nah an. Tröster, so übersetzt Martin Luther, das alte Wort für „Beistand“ – oder „Anwalt“ – oder „Advokat“. Ein schönes Bild: Wir haben einen Anwalt an unserer Seite, der von Gott kommt. Ein Advokat, der für uns spricht. Ein Beistand, der uns zur Seite steht.
Der uns Worte schenkt, wenn wir schweigsam werden.
Der uns Mut schenkt, wenn wir in Fragen steckenbleiben.
Der uns Gelassenheit schenkt, wenn die Wellen über uns zusammenschlagen.
Das macht uns stark. Auch wenn wir oft darüber traurig sind, dass wir uns nicht wirklich hinter Jesus verstecken können. Es gibt keine Deckung für uns – uns ist aber das Wort gegeben. Und der Freimut, es mit Tod und Teufel aufzunehmen. Wir sind geliebt. Das hält und trägt uns. Vielleicht hat Martin Luther dann doch die schönste Übersetzung gefunden für den Geist Gottes: Tröster. Der Tröster nimmt einen Menschen in den Arm. Viele Worte muss er nicht machen – er ist einfach nur da. Wenn er da ist, können wir sogar klagen, schreien. Wir können über uns hinauswachsen. Wir können dann auch Geborgenheit schenken.
Darum sind wir, mit den Worten Jesu im Herzen und auf den Lippen, stark. So stark, dass wir Jesus unter uns, leibhaftig, nicht einmal brauchen. Er kann uns alleine zurück lassen, weil er seine Sache in unseren Händen gut aufgehoben weiß. Das ist ein Vertrauen! Jesus glaubt an uns! Ein Trost ist das – wenn uns bei nächster Gelegenheit schon wieder der Zweifel einholt oder einfach alles zu viel wird.


Traumblick

Johannes, der viel von einem Adler hat (und sogar verworrene Wege im Blick behält), führt uns eine Passage aus einer Jesus-Predigt vor Augen. Während Jesus – wortreich – von seinem Abschied spricht, wir – auch wortreich – trauern, wird uns eine ganz neue Aufgabe zuteil: fest und unbeirrbar an Jesus zu glauben, seine Gerechtigkeit zum Maß aller Dinge zu machen und dem Fürst dieser Welt nicht den Hof, wohl aber das Gericht zu machen. Weil das doch eine Nummer zu groß für mich ist, bitte ich jeden Tag darum, dass mir einer beisteht, tröstet und aufrichtet: der Geist Gottes. Mit weniger möchte ich auch nicht antreten. Oder mich zufrieden geben.

Heute ist Mittwoch. Alltag. Vorhin habe ich noch gearbeitet. Ich habe große Dinge in meinem Kopf – und bewege große Dinge mit meinen Händen. Darin kann ich Meister werden. Nach außen bin ich oft schwach und hilflos. Ich träume davon, ein Adler zu sein. Den Dingen enthoben. Ein weiter Blick – und doch in das Detail verliebt. Johannes gefällt mir sehr. Nicht umsonst wird er in der Ikonografie als Adler dargestellt – als schaute er aus seinem Horst zu mir herüber. Es ist schon gut, einen weiten Blick zu haben – und wenigstens einen Menschen in den Blick zu nehmen.

Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.



E-Mail: M.Wussow@gmx.de

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