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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2016, 2016

, verfasst von Wolfgang Vögele

[Christus spricht:] „Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Zeit, dass ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater. An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten will; denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“

 

Liebe Gemeinde,

an diesem Frühlingstag sehen die grauen Wolken nach Nieselregen aus. Die hellblaue Straßenbahn bremst und kommt an der Haltestelle Johanneskirche zum Stehen. Heidelberg-Neuenheim. Der junge Mann steigt aus und überquert die Straße. Zuerst steht er zögernd vor einer Kirche. Er geht dann darum herum, bis er an der Nordseite eine Eingangstür findet. Zu seiner Überraschung ist die Tür nicht verschlossen. Er drückt die Klinke und tritt ein. Seine Augen müssen sich an das schummrige Licht gewöhnen. Das dauert ein paar Sekunden. Auf dem Gemeindebrief, den er sich aus einem Ständer nimmt, steht der Name Johanneskirche[1]. Er blättert darin. Dann geht er den Mittelgang entlang nach vorne und setzt sich in die fünfte oder sechste Reihe. Den Rucksack hat er neben sich abgestellt. Weiter hinten hört er jemanden herumwerkeln, den Hausmeister oder Putzfrau. Davon läßt er sich nicht stören. Der junge Mann, der einen dunkelgrünen Anorak und Jeans trägt, kennt die Kirche sehr gut. Er hat vor drei Jahren hier seine Freundin geheiratet. Er hat oft Gottesdienste besucht, er hört sehr gerne die Konzerte der Kantorei, die hier regelmäßig auftritt.

Bis zu seinem nächsten Termin bleibt ihm noch eine Viertelstunde Zeit. Darum betrachtet er die Bilder, die im Altarraum zu sehen sind. Ihm fallen die Bilder Jesu ins Auge. Er kann gar nicht anders. Architekt und Künstler haben es so eingerichtet, daß alle Aufmerksamkeit auf ihn fällt. Auf dem Altar steht ein Kruzifix: der gekreuzigte Jesus. Auf die Wand dahinter hat ein Maler in großem Format eine Szene aus der Bergpredigt gemalt: der predigende Jesus. Hinter der Orgel fällt dem Betrachter zuletzt ein rundes Glasfenster auf: der auferstandene und segnende Jesus.

Jesus von Nazareth erscheint dem Kirchenbesucher in Bildern. Dem jungen Mann im Anorak kommt er in Holz, in Farbe und in Glas entgegen. Die Künstler haben stellvertretend für die Betrachter ein Bild von Jesus: Er leidet am Kreuz. Er predigt auf dem Berg. Und er segnet, bevor er in den Himmel fährt. Die Künstler machen sich Bild von Jesus. Und Jesus ist selbst ein Bild – das Bild Gottes. Noch mehr, wie aus dem Johannesevangelium zu erfahren ist: Jesus redet in Bildern.

Ein Bild erleichtert, einen anderen Menschen zu verstehen. Darum haben Künstler durch die Jahrhunderte nicht davon abgelassen, den Betrachtern Jesus, den Heiland in Bild und Skulptur vor Augen zu stellen.

Im Johannesevangelium sagt Jesus: Es kommt die Zeit, da ich nicht mehr mit euch in Bildern reden werde. Was dann? Eigentlich müßte es das Reden in Bildern den Jüngern einfacher machen, ihn zu verstehen. Denn in jeder kirchlichen Öffentlichkeitsabteilung kann man mittlerweile lernen: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Und deswegen schaut sich alle User auf Facebook, Instagram und Snapchat Bilder fortwährend Bilder an, die sie selbst mit dem Smartphone gemacht haben. Immer weniger der User machen sich noch die Mühe, Worte und Sätze zu lesen. Die User sind von Bildern überflutet, überschüttet, zugemüllt. Darum bleibt kaum ein Bild im Gedächtnis haften. Und die Wörter haben den Kampf gegen die Bilder längst verloren.

Gegen die übergroße Menge der Bilder hilft nur Gleichgültigkeit: Wer sich mit Bildern überfrißt, dessen Sensibilität schläft ein und dessen Einfühlungsvermögen versteinert. Ein gewöhnliches Bild löst beim Betrachter keine Reaktion mehr aus.

Die Jünger, die Jesus zuhören, saugen alle seine Bilder auf. Denn sie wissen: Jesus wird sich verabschieden. Er wird nicht mehr da sein. Und wer kann den Jüngern dann die Kraft geben, die sie aus der Begegnung mit ihrem Meister schöpfen? Sie haben Angst vor der Zeit, die kommen wird. Aus dieser Angst heraus reagieren sie auf jedes Wort und jedes Komma, das aus Jesu Mund kommt. Sie wollen wissen, was mit ihnen geschieht. Und jedes Bild, das ihr Heiland gebraucht, deuten sie bis in die kleinste Einzelheit aus. Aus jedem Detail schließen sie auf ihre eigene Zukunft, auf die Zeit, wenn Jesus nicht mehr unter seinen Anhängern weilen wird.

Die Jünger sehnen sich nach diesen Bildern. Sie vermitteln ihnen eine Vorstellung davon, wie sie Gott, die Menschen, sich selbst und die Wirklichkeit zusammendenken können. Solche Bilder vermitteln keine gleichgültige Gegenwart wie die Schnappschüsse bei Instagram und Facebook. In Jesu Bildern des Glaubens ist eine Hoffnung enthalten, die zuerst seine Anhänger, aber dann auch seine Nachfolger auf die Zukunft und auf Gott ausrichtet. Mit Hilfe der Bilder erhalten die Menschen eine Ahnung davon, wie sie Glauben entwickeln und Hoffnung schöpfen können.

Das Johannesevangelium ist philosophisch und theologisch genau durchdacht und komponiert. Trotzdem orientiert es sich nicht an Begriffen, sondern an Bildern. In all diesen Bildern steht der Heiland aus Nazareth im Zentrum:

Ich bin der Weg.

Ich bin die Wahrheit.

Ich bin der Hirte.

Ich bin der Weinstock.

Ich bin das Brot.

Diese Bilder machen den Glauben einfacher; sie erleichtern Verstehen und Vertrauen. Diese Bilder schaffen Nähe, Hoffnung und Zuversicht. Wenn ein Künstler das malt oder gestaltet, entstehen Bilder der Schönheit. Diese sind Gegenbilder zu dem anderen Bild, über das die Menschen seit Jahrhunderten in der Passionszeit immer wieder nachdenken, meditieren und beten.

Liebe Gemeinde, Sie erinnern sich an den jungen Mann vom Anfang? Das Kruzifix, das der junge Mann sieht, steht auf dem Altar. Jesus sagt damit: Ich bin der von Menschen Gequälte. Ich bin der Verurteilte und der Leidende. Ich bin der Gekreuzigte.

Beides gehört zusammen: Weinstock und Kreuz, Leiden und Wahrheit, Urteil und Weg. Wer glaubt, lernt diesen Widerspruch auszuhalten. Die Bilder aus dem Johannesevangelium und die Bilder aus der Kirche leiten uns dazu an, helfen uns dabei.

Der junge Mann im Anorak steht auf. Nun ist die Viertelstunde in der Johanneskirche vorbei. Er verläßt die Kirche. Die Bilder vom gekreuzigten und segnenden Christus haben sich in seinem Kopf festgesetzt.  Sie stärken seinen Glauben. Er wird sich daran erinnern. Amen.

 

[1] Ein Bild des Innenraums der Johanneskirche findet sich https://de.wikipedia.org/wiki/Johanneskirche_%28Heidelberg-Neuenheim%29#/media/File:Heidelberg_Johanneskirche_Innenraum_20110110.jpg. Wem das nicht zusagt, der kann diesen Einstieg leicht umarbeiten und einen anderen Kirchenraum als Vor-Bild einsetzen.



Pfarrer Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
E-Mail: wolfgangvoegele1@googlemail.com

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