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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2016, 2016

, verfasst von Sibylle Reh

„Ich habe euch das gesagt, damit ihr in meinem Frieden geborgen seid. In der Welt wird man Druck auf euch ausüben. Aber verliert nicht den Mut! Ich habe die Welt besiegt!"

Liebe Gemeinde,

Wenn ich nicht wüsste, wie die Geschichte ausgeht und mit der Sprache des Johannesevangeliums nicht vertraut wäre, ich glaube, ich fände es sehr merkwürdig, was Jesus sagt. Da steht er kurz vor seinem Tod, irgendwo zwischen dem Ort des letzten Abendmahls und dem Garten Gethsemane, und sagt, er habe die Welt besiegt. In dem Moment, in dem er das sagt, sieht es aber ganz anders aus: Eher scheint Jesus besiegt. Er ist überall von Feinden umzingelt: Viele Juden bestreiten seinen Messiasanspruch, und die Römer sehen ihn als Aufrührer an, der sich selbst zum König krönen lassen will. Der Zwölferkreis ist soeben zerbrochen: Judas ist bereits losgegangen, um ihn zu verraten, Jesus hat Petrus bereits vorausgesagt, dass er ihn verleugnen wird. Da ist es doch merkwürdig, wenn Jesus sagt: „Ich habe die Welt besiegt.“

Wenn heute jemand so etwas sagt, würde man es ihm abnehmen? Die Lutherübersetzung „ich habe die Welt überwunden“ klingt da harmloser. Einem Menschen, der dem Tod ins Auge blickt, würde man glauben, wenn er so etwas sagt. Überwinden kann man die Welt und ihr Leiden, indem man sie verlässt, aber besiegen?

Liebe Gemeinde, Jesus spricht diese Worte im Johannesevangelium aber aus einer anderen Perspektive, schon nicht mehr aus der Sicht eines Menschen, der an die Erde gebunden ist. Die Welt, wie wir Menschen sie sehen können, ist nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit. Und Jesus steht bereits außerhalb der Welt und kann auf sie herabblicken.

Ich stelle mir das etwa so vor: Wenn eine Made, die in einem Apfel lebt, überhaupt denken könnte, so müsste sie denken, der Apfel sei die ganze Welt. Und wenn der Apfel vom Baume fällt, ist es aus, dann ist die Welt aus den Fugen geraten. Der Made bleibt nichts anderes übrig, als den Apfel, die Welt, in der sie bisher gelebt hat, zu verlassen, sich zu verpuppen und reglos liegenzubleiben. Aber aus der scheinbar toten Puppe schlüpft irgendwann ein Falter, der seine Flügel ausstreckt, fliegen lernt und den Apfelbaum nun von oben betrachten kann. Und aus der Perspektive des Falters spricht Jesus zu den verängstigten Maden, die sich noch im Apfel befinden.

Liebe Gemeinde, ich weiß, der Vergleich stimmt nicht, wenn ich jetzt zu sehr ins Detail ginge, würde ich mich in Widersprüche verstricken. Darum bleibe ich bei einer Aussage: Wenn eine armselige kleine Made in einem Apfel Hoffnung auf ein neues Leben als Falter hat, warum sollten wir keine Hoffnung auf ein neues Leben haben?

Warum soll diese Welt, so wir wie sie kennen, alles sein, was es gibt? Jesus spricht in den Abschiedsreden schon, als stünde er außerhalb der Welt, und sagt zu seinen Jüngern: „Es geht weiter, es gibt mehr als diese Welt und mehr, als ihr euch vorstellen könnt.“

Liebe Gemeinde, der Teil des Johannesevangeliums, aus dem diese Worte Jesu stammen, wird nicht umsonst „Abschiedsreden“ genannt. Jesus verabschiedet sich von seinen Jüngern, zugleich werden diese Worte gerne als Predigttext verwendet, wenn Menschen Trost suchen, um einen Abschied zu verarbeiten. Besonders bei Beerdigungen wird oft aus den Abschiedsreden Jesu vorgelesen. Kein Wunder, denn wenn jemand stirbt, dann verlässt er diese Welt, und alle ihre Sorgen und Nöte. Die Hinterbliebenen haben dann zwar oft nicht den Frieden, von dem Jesus spricht, aber für die Verstorbenen hoffen wir, dass sie zu Jesus kommen. Das ist der Trost, den nur Christen haben können. Ehrlich gesagt, wenn ich statt einer Beerdigungspredigt eine weltliche Beerdigungsrede halten müsste, ich wüsste oft nicht, welchen Trost ich spenden könnte.

Liebe Gemeinde, eigentlich bin ich ein sehr diesseitig veranlagter Mensch: Ich genieße mein Leben, wenn es geht, ich habe Freude an meiner Arbeit und Freude daran, meine Kinder aufwachsen zu sehen. Ich liebe die Natur und freue mich, wenn ich die Anzeichen des Frühlings um mich herum sehe. Ich bin traurig bei beruflichen Rückschlägen und enttäuscht, wenn ich mich von meiner Umgebung falsch verstanden fühle oder mir ungeliebt vorkomme. Ich freue mich an materiellen Dingen, wie Computer, Handys oder einfach einem guten Abendessen. Und ich gönne auch anderen Menschen ihre kleinen Freuden. Und doch, wenn ich nur die Welt, die ich sehen kann, vor mir hätte, würde mir das Leben armselig und sinnlos scheinen. Denn egal wie groß mir meine Sorgen und Nöte vorkommen, wenn man sie aus dem Blickwinkel der Weltgeschichte betrachtet, bin ich doch nicht viel wichtiger als eine Ameise, die sich bemüht, einen Brotkrümel zu schleppen. Dieser Gedanke kann erschreckend und tröstlich sein, je nachdem aus welcher Perspektive. Wenn ich glaubte, es gäbe nichts, außer dieser Welt, wäre er erschreckend. Für mich ist er aber eher tröstlich. Ich habe hier meine Sorgen und Nöte, und ich habe meine Freuden. Von ferne betrachtet sind sie lächerlich klein, aber sie sind Teil einer größeren Geschichte, einer Wirklichkeit, die größer ist, als ich sie begreifen kann. Was macht es schon, wenn ich diesen oder jenen Lebenstraum nicht verwirklichen kann, es geht doch um viel mehr als um mich und um dieses Leben.

Liebe Gemeinde, der Glaube ans Jenseits ist etwas in Verruf geraten, weil mit diesem Menschen oft vertröstet worden sind, dass sie ja in diesem Leben weder Glück noch Gerechtigkeit bräuchten, sie würden im Jenseits doch alles erhalten. Wenn das Menschen sagen, die im Diesseits doch zumindest materiell alles haben, wirkt es wie eine Ausrede.

Ich verstehe den Frieden Jesu, der uns jenseits dieser Welt erwartet, aber nicht als Ausrede, nicht für Gerechtigkeit zu kämpfen, sondern als Kraftquelle und als Trost: Christus spricht: „Ich habe euch das gesagt, damit ihr in meinem Frieden geborgen seid. In der Welt wird man Druck auf euch ausüben. Aber verliert nicht den Mut! Ich habe die Welt besiegt!"



Sibylle Reh
Strausberg
E-Mail: sreh(at)gmx.de

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