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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2016, 2016

, verfasst von Uland Spahlinger

Johannes 16,33

Jesus sagte seinen Jüngern: Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

 

Angst, Unsicherheit, Ratlosigkeit – welches Gefühl beschleicht Sie, wenn Sie an Flüchtlingsströme denken, wenn Sie zerfetzte Autowracks, Rettungsfahrzeuge nach Terroranschlägen, zerbombte Häuser in Aleppo oder Donetsk, Menschen im regenverschlammten Lager in Idomeni sehen oder Hassparolen skandierende Fremdenfeinde und schon vorab angezündete Unterkünfte bei uns; wenn Sie davon hören, dass „die Balkanroute geschlossen“ wird oder dass „750 Arbeitsplätze bei Siemens in Nürnberg aufgegeben“ werden?

Man muss nicht Jünger in einem kleinen abgeschlossenen Raum in Jerusalem irgendwann um das Jahr 30 gewesen sein, um eine Ahnung davon zu bekommen, was das heißt: in der Welt habt ihr Angst. Was da aus dem Ruder läuft, das ist die Sicherheit für unseren Alltag. Die Ruhe, die uns signalisiert: heute so wie gestern und morgen so wie heute. Arbeit, Auskommen und verlässliche Rahmenbedingungen für unseren Alltag. Das scheint entglitten zu sein. Können wir unsere Kinder abends noch auf die Straße lassen? Werden wir morgen noch genug haben? Kommen wir zu dem, was uns zusteht? Kriegen „die anderen – die Fremden“ alles zugeschoben, und „unsere Leute“ haben das Nachsehen?

 

Wo Unsicherheit und Angst um sich greifen, haben Gerüchte Konjunktur. Sie werden leicht aufgegriffen, weitergereicht, geglaubt, weil sie ja von unterschiedlichsten Seiten zu kommen scheinen.

Der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch hat den Niederrheinern einmal in freundlicher Ironie attestiert, dass sie „Nichtwissen ganz langsam in Wissen verwandeln“ können. Das ist aber etwas anderes, als wenn sich manifeste Lüge ganz langsam in geglaubte Wahrheit verkehrt. Wo Angst und Unsicherheit herrschen, haben aggressive Verleumdungen, Lügen und radikale, einfache Lösungsvorschläge leichtes Spiel.

 

Denn eins ist Angst nicht: durch rationales Management zu beherrschen. Angst ist ja keine Kopfsache – sie sitzt „im Bauch“, sagen wir, sie lässt das Herz rasen oder steckt in den Gliedern. Wir können sie als biochemische oder psychosomatische Vorgänge beschreiben, aber beherrschen oder abschalten können wir sie nicht. Insofern ist es vielleicht sogar zweitrangig, ob meine Angst für andere nachvollziehbar ist – es reicht, wenn sie in mir sitzt und mein Denken und Handeln beeinflusst oder gar bestimmt.

 

Ich glaube, es gibt nur drei Möglichkeiten, mit der Angst umzugehen. Die erste wäre: ich lebe mit der Angst und halte sie aus – oder ich verdränge sie. Ich kann das hier nicht vertiefen, aber so viel ist sicher: Beides kostet viel Kraft – Widerstands- und Ausweichkräfte sind unterschiedlich ausgeprägt.

 

Die zweite: ich entferne oder überwinde die Ursachen. Als unser kleiner Sohn – das ist nun schon viele Jahre her – Angst vor der Dunkelheit hatte, reichte ein kleines Licht in seinem Zimmer, um ihm zum friedlichen Einschlafen zu helfen. Manchmal geht es ganz einfach, manchmal braucht es längerfristige oder aufwendigere Maßnahmen. Und auch eine Portion Mut. Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ begegnen auf ihrer Reise durch die Wüste Herrn Tur Tur, dem Scheinriesen. Der leidet darunter, dass die Leute ihn in der Ferne als riesig wahrnehmen und Angst haben, ihm näher zu kommen. Aber je näher sie sich heranwagen, desto kleiner wird er – am Ende ist er ein kleiner freundlicher alter Herr. Michael Endes Geschichte will die Angst nicht forterzählen – sie zeigt, dass es möglich ist, der Angst Herr zu werden. Und dazu ist es gut, nicht allein zu sein.

 

Die dritte Möglichkeit deutet Jesus an in seiner Abschiedsrede an die Jünger „am Abend, bevor er ausgeliefert wurde“. Da sagt er: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Das ist nun eine ganz eigene Dimension, größer als das, von dem wir bisher gesprochen haben. Es klingt wie die Beschreibung einer Grundbefindlichkeit: In der Welt habt ihr Angst. Es ist geradezu eine Beschreibung von Lebensqualität – wenn auch keiner erstrebenswerten. Was kann das für Angst sein? Nun, für die Johannesgemeinde, an die sich das Evangelium und also auch dieser Satz wendet, war es sicher die dauernde Angst vor der mächtigen römischen Obrigkeit mit ihren Spitzeln und ihrer brutalen Soldateska. Es kann, ganz allgemein gesprochen, die Angst vor dem unausweichlichen Tod sein. Und in der Szene, in der Jesus mit seinen Jüngern spricht, kommt die Angst vor dem drohenden Abschied. Es gibt sie, diese Szenarien, denen wir nicht auskommen und vor denen wir hilflos und machtlos stehen. Terror, Trennung, Tod. Und dann, ja, dann ist es so: In der Welt habt ihr Angst.

 

Angst verbergen wir oft, denn sie gilt uns als peinliche Schwäche. Jesus spricht sie an, er spricht aus, was er bei seinen Jüngern wahrnimmt. Er vermeidet dabei den Ton der Anklage oder des Vorwurfs – nichts von dem, was er sagt, weist in diese Richtung. Nein, da ist Verständnis zu spüren. Er redet vorher von den Wehen einer Mutter, den Schmerzen, die sie auszuhalten hat. Er weiß, das gibt es. Er weiß auch – das macht Johannes seinen Lesern zweifelsfrei deutlich -, dass sie Zeugen einer ganz außergewöhnlichen Szene werden: Der Abschied, die Trennung steht bevor. Und der Weg, der vor Jesus liegt, ist ein Weg in die Gefangenschaft, in einen Unrechtsprozess, in Folter, öffentliche Bloßstellung und einen schmerzhaften, elenden Tod. Also ein Weg, der IHM Angst machen kann. Und dennoch sieht Jesus die Angst seiner Jünger: vor der Verlassenheit, vor der Gefahr und vor Verfolgung, die sie wohl für sich ahnen, vor der Trennung vom geliebten und verehrten Meister. Jesus nimmt das ernst. Er nimmt seine Freunde ernst. Nichts redet er klein. Denn er weiß selbst gut genug, was da kommen kann.

In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Jesus sagt nicht: seid getrost, ich habe die Angst überwunden. Das wäre ja schon etwas: Nehmt euch ein Beispiel; lasst mich erzählen, welche Strategien ich mir überlegt habe; erinnert euch daran, welche Erfahrungen wir gemeinsam gesammelt haben, um Angst zu überwinden.

Erinnerung kann Mut machen: Wir haben es schon einmal geschafft, warum also nicht wieder?

 

Aber das ist nicht der Zielpunkt in dem Gedanken, den Jesus seinen Jüngern anbietet. Vielmehr: „seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Das ist viel größer. Damit ist die Quelle der Angst, oder sollten wir sagen: der See der Angst in den Blick genommen. Die Welt ist nicht mehr die letzte mächtige und übermächtige Größe. Nicht die Spötter und die Verächter, nicht die Intriganten und Hinterträger falscher Behauptungen, nicht die obersten Mächte der Religion oder der Staatsgewalt. Nicht der gottgleich angesehene Kaiser in Rom. „Ich habe die Welt überwunden“, das meint nicht weniger als: Am Ende von allem kann mir die Welt mit ihren Mächten nichts anhaben. Daran könnt ihr euch aufrichten. Daran könnt ihr euch festhalten in eurer Angst. Daran könnt ihr euch trösten – und deshalb seid getrost. Seid zuversichtlich. Bewahrt euer Vertrauen in mich und meinen Auftrag.

 

Liebe Gemeinde, eigentlich klingt das ja paradox. Wir wissen, welchen Weg Jesus vor sich hat. Das wussten auch die Menschen in der Johannesgemeinde. Aber sie und wir kennen auch den weiteren Gang der Geschichte. Jesus wird gekreuzigt, aber er stirbt nach Johannes mit den Worten „es ist vollbracht“: Mein Auftrag ist erfüllt. Ich bin nicht gescheitert, sondern angekommen in meiner (für uns kaum fassbaren) Verherrlichung.

 

Den Jüngern wird es da kaum anders gegangen sein. Und auch in die Johannesgemeinde ragte die Lebensgefahr durch Verfolgung als andauernde Bedrohung zur Tür herein. Wenn also Jesus sagt: ich habe die Welt überwunden, dann mutet er ihnen wie uns ein Vertrauen zu, das sich gegen die Fakten anstemmt, gegen Hass und Gewalt, gegen Grausamkeiten ohne Maß, gegen Vertreibung, Verfolgung, Folter, gegen die vielen kleinen vorläufigen und den einen großen endgültigen Tod. Das alles, sagt Jesus, habe ich überwunden. Das alles liegt hinter mir. Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern Gott – Gott in mir und ich in ihm, denn ich und der Vater sind eins. Immer wieder betont Johannes die unlösliche Einheit zwischen Jesus und seinem himmlischen Vater. Das und nichts anderes ist die Quelle, aus der er schöpft, um seinen Jüngern Trost zu spenden. Das und nichts anderes hält er ihnen vor Augen, sich daran zu stärken und Zuversicht zu fassen.

 

Mit diesem Trost will auch Johannes seine Gemeinde ermutigen, gegen alle Feindseligkeit der Welt festzuhalten am Glauben, am Vertrauen auf Jesus, auf den, der die Welt und ihre Mechanik der Macht überwunden hat: der sich kleingemacht hat, ihnen die Füße zu waschen, der im Dienst an den Schwächsten seine Größe sichtbar gemacht hat. Der Wunden und Gebrechen geheilt und selbst Tote aus dem Grab gerufen hat. Der ihnen gesagt hat: ihr und ich, wir gehören zusammen wie Weinstock und Reben. Der Stärkung versprach und Stärkung gab in Worten und Taten. Der auferweckt wurde und abgrundtiefe Trauer in jubelnde Freude wandeln konnte. Lasst euch mitnehmen von ihm!

 

All diese Geschichten fließen mit ein in die Gespräche am Abend, bevor Jesus gefangengenommen wurde, am letzten Abend, den er in Freiheit mit seinen Jüngern verbrachte, und an den wir uns heute erinnern.

 

Es fühlt sich tatsächlich immer wieder seltsam an, paradox, gegen alle Faktenvernunft und alle Horrorschlagzeilen, aber da fließt tatsächlich Trost, finde ich, Kraft und Ermutigung: mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Mit Jesus kann ich Vorletztes Vorletztes sein lassen und über die Angst die Zuversicht, über Gewalt die Versöhnung und über den Tod das Leben stellen.

Amen.



Dekan Uland Spahlinger
Dinkelsbühl
E-Mail: uland.spahlinger@elkb.de

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