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ISSN 2195-3171

thematisch, 2016

Universitätsgottesdienst zum Gedenken an Oskar Brüsewitz und seiner Selbstverbrennung vor 40 Jahren (11.9.16 in St. Nikolai zu Leipzig), verfasst von Rüdiger Lux

Predigt über Sacharja 4, 6

Nicht durch Heer oder Kraft geschieht’s,
sondern durch meinen Geist,
hat der Herr der Heerscharen gesprochen.


Liebe Gemeinde,

viele sahen in ihm einen Narr Christi, in dem Schuhmacher und Pastor Oskar Brüsewitz aus Rippicha. Wir gedenken in diesem Jahr seines 40. Todestages. Wir erinnern an einen Mann, in dem ein Feuer brannte, bevor er selbst auf dem Marktplatz von Zeitz zur lebendigen Lohe des öffentlichen Protests geworden ist. Letzte Worte von Oskar Brüsewitz auf ein Transparent geschrieben: »Funkspruch an alle – Funkspruch an alle – Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung der Kirchen in Schulen an Kindern und Jugendlichen.« Er, der nichts anderes als ein Zeuge Christi sein wollte, er brannte, es brannte in ihm. Er, der mitunter wie ein Gottessturm den Pfarrkonvent beschwor: »Brüder kommt, wir müssen noch einmal die Front stürmen.« Oskar Brüsewitz, der Frontkämpfer Christi. Er, der sich mitreißen ließ vom Geist.

Manch ein Zeitgenosse fragte und fragt noch immer: Von welchem Geist eigentlich? Welches heilige Feuer brannte in ihm? Welcher Gottessturm trieb ihn, den Narr Christi, welcher Geist, der Heilige Geist?

Und da war die Kirche, also wir, zuerst seine Rippichaer Gemeinde, seine Brüder und Schwestern im Pfarrkonvent, die Kirchenleitung in Magdeburg, die Christen in der DDR; wir, die ihm viel zu müde, viel zu unentschieden waren; wir, die nicht mit ihm und auf seine Weise stürmen wollten; wir, die wir uns vom Gottessturm nicht mitreißen ließen, die zur Besonnenheit mahnten, die wir den ungestümen und zuweilen irritierend unbequemen Geist dämpften und uns immer wieder mit einem lauen Herrgottslüftchen zufrieden gaben.

Welches Feuer brannte in uns, brennt heute in uns? Von welchem Geist haben wir uns mitreißen lassen − damals, die Universitätsgemeinde − lassen wir uns heute mitreißen? Haben wir sie jemals begriffen, die Worte Jesu, die ein Leitspruch für Oskar Brüsewitz waren? »Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte.«

Wir waren mit Löscharbeiten beschäftigt − und das möglichst an allen Fronten. Wir wollten überleben in schwieriger Zeit. Oskar Brüsewitz, der Schuhmacher, der unbequeme, lästige Pastor, der Narr Christi, er wollte in der Wahrheit leben, in Christus. Denn nur, wer in der Wahrheit lebt, »der wird leben, auch wenn er stirbt«.

Ach, Oskar, Bruder in Christo, was sind wir dir schuldig geblieben? Was bin ich dir schuldig geblieben? An welcher Front würdest du heute stürmen?


I

Diese Fragen verfolgen mich seit Jahren. Immer im August, wenn die Sonne strahlt, wenn die Kinder mit ihren Eltern aus den Ferien heimkehren, wenn die Früchte der Felder und Gärten eingebracht werden, wenn das farbenprächtige Zauberspiel der Schöpfung an unsere Augen rührt, die Bäume sich für den Herbst bereiten und den schönen Anschein erwecken, wir lebten in einer nahezu perfekten Welt. Immer dann steht deine unfassbare Tat vor mir, das lodernde Feuer.

Ach, Oskar, Bruder in Christo, noch immer machst du mir das Herz schwer. Du wolltest, du konntest nicht anders. Wie einst den Richter Simson, den der Geist des Herrn durchs Lager des Stammes Dan getrieben hat, so trieb dich der Geist des Herrn hinein ins Lager einer verzagten, zögerlichen und vorsichtig taktierenden Kirche. Wie der Geist des Herrn über Simson geriet, der einen jungen Löwen in der Luft zerriss, so hast du das Lügengewebe der kommunistischen Propaganda in der Luft zerrissen. Wie einst der Geist des Herrn über die Propheten kam, so wusstest du dich vom Geist am Schlafittchen gepackt. Du konntest nicht anders.

Und daher will auch ich nun nicht anders. Ich will mit dir die Propheten lesen, will sie mir aufschließen lassen von dir und vom Geist, der dich getrieben hat. So steht’s geschrieben im Buch des Propheten Sacharja:

          Nicht durch Heer oder Kraft geschieht‘s,
          sondern durch meinen Geist,
          hat der Herr der Heerscharen gesprochen.


II

Das, Oskar, das hast du ja auch gewusst. Heer oder Kraft standen dir wahrlich nicht zur Verfügung. Wenn du für Christus stürmen wolltest, dann nicht mit der Waffe in der Hand, sondern mit Worten und prophetischen Zeichen. Wenn der Parteisekretär der LPG plakatieren ließ: »Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein«, dann stelltest du im Pfarrgarten ein großes Transparent auf, auf dem zu lesen war: »Ohne Sonnenschein und Gott geht die ganze Welt bankrott«. Wenn zum Staatsjubiläum an allen öffentlichen Gebäuden plakatiert wurde »25 Jahre DDR«, dann stand im Pfarrgarten in großen Lettern geschrieben »2000 Jahre Kirche Jesu Christi«. Wenn die Genossen und ihre Helfer von der Nationalen Front vorm Pfarrhaus standen, um dich zur Stimmabgabe in den verlogenen Wahlen zu nötigen, die keine Wahlen waren, dann hast du ihnen mit den Worten die Tür gewiesen: »Ich habe schon gewählt, nämlich Christus!« Er war dein »König und General«. Und die Zeichen seines Sieges waren keine Heldenmale, sondern das drei Meter hohe Leuchtkreuz an deinem Kirchturm, das die Menschen weit ins Land hinein grüßte. Immer wieder übten die staatlichen Behörden Druck aus, um es zu entfernen, aber du hast widerstanden.

Du hast dich hineingerissen gefühlt in einen Krieg zwischen Wahrheit und Lüge, Licht und Finsternis, menschenverachtender Ideologie und Evangelium. Und du hast − wie deine Vorliebe für militärische Metaphern zeigen − diesen Kampf angenommen.

Aber eben nicht mit Heer oder Kraft, nicht mit Waffen und Gewalt, sondern mit Wort und Witz, mit zeichenhaftem Handeln, mit der Bibel und dem Kreuz. Du hast sie nicht angebetet, die Reiche der Welt. Das Reich Gottes hat dich wie ein Fieber gepackt. Du hast auf den Geist gesetzt. Du hast dich vom Geist in eine Welt versetzen lassen, in die wir dir nicht folgen konnten, in die Welt des »Entweder – Oder«. Deine unerbittliche Konsequenz war uns fremd.

Wir setzten auf den Schöpfergeist, den Geist der Erneuerung und der Reformen, darauf, dass der Geist des Herrn, der Geist Christi sich immer wieder einmischt in diese alte, heillos zerstrittene, unfriedliche Welt, dass er die ächzende, stöhnende Erde neu beatmet und belebt. Wir setzten auf den Paraklet, den Tröstergeist, der uns in unserer Zaghaftigkeit aufrichtet, mahnt, beisteht und geduldig sein lässt. Du aber setztest auf den Geist der Entscheidung, auf heilige Ungeduld: Entweder − Oder, Ja oder Nein, Jetzt oder Nie! Als dich die letzte Posaune am Abend der Welt gerufen hat, da lauschten wir noch den lieblichen Klängen der Orgeln in unseren Kirchen.


III

Und nun frage ich mich, Oskar, was hat eigentlich der Geist der geduldigen, steten, treuen Erneuerung unserer Erde und unserer Herzen, was hat der Tröster, auf den wir hoffen, den wir anrufen und herbei bitten, was hat der zu tun mit dem Geist der Endzeit, dem Geist der letzten Entscheidung, in die du dich gestellt sahst? Wir glaubten an die Zukunft unserer Erde, du an die Ewigkeit deines Herrn, die mehr ist als die Verlängerung unserer Tage und Wünsche.

Haben die beiden überhaupt etwas miteinander zu tun, der Geist des Trostes, der Geist der steten Erneuerung und der Geist der letzten Entscheidung, ja, der Geist der letzten Scheidung zwischen gut und böse am Abend der Welt? Der Geist, der uns immer neu anfangen lässt, Gemeinde zu bauen, in aller Armseligkeit und Dürftigkeit; der Geist, der uns anfangen lässt, die heillose, verletzliche, blutende Erde zu verbinden und zu heilen, was hat der zu tun mit dem Geist, der auf den Abbruch und das Ende setzt? Den Abbruch und das Ende einer vollkommen unbelehrbaren, unheilbaren Welt?

Welchem Geist sollen wir folgen in einer Welt der Flüchtlingsströme, einem taumelnden Europa, einer beängstigenden Polarisierung unserer Gesellschaften, der Enthemmung und des Hasses, der Hilf- und Ratlosigkeiten? Sind das die Zeichen der Endzeit, die sich in unsere Geschichte einbrennen? Oder sind es Zeichen, die uns, die schläfrige Christenheit, aufwecken wollen, die uns mahnen, noch beharrlicher, noch energischer, mit noch mehr brennender Liebe der alten Erde treu zu bleiben und sie nicht verloren zu geben?

Ach, Oskar, Bruder in Christo, noch immer fehlt mir der Mut, zur letzten Entscheidung zu rufen. Noch immer höre ich sie nicht, die letzte Posaune. Noch immer lässt der Schöpfer Jahr für Jahr die Natur erwachen und aufblühen in ihrer atemberaubenden Schönheit und Lebendigkeit. Noch immer wächst das Korn auf den Äckern. Noch immer werden Kinder glücklich geboren und auf den Namen Jesu Christi getauft. Noch immer schlafen Alte und Kranke in Frieden ein. Noch immer bleibt der Schöpfergeist der Erde treu und lässt sie nicht fallen. Noch immer sehe ich ihn nicht, den Abend der Welt, der dir vor Augen stand. Und noch immer geschieht das alles nicht durch Heer oder Kraft, sondern allein durch den Geist des Herrn der Heerscharen.

Und deswegen bitte und bete ich noch immer, deswegen vertraue ich noch immer darauf, dass dein Herr, dein König und General, dass Christus dich angenommen und aufgenommen hat in sein Himmelsheer. Auf der Erde hast du dich als ein miles, als ein Soldat Christi verkämpft. Ich glaube, du kannst es auch jetzt noch nicht lassen, mit der militia coeli, mit den himmlischen Heerscharen deines Herrn, die Front zu stürmen, mit den Waffen seiner Gerechtigkeit zu kämpfen, mit Wort und Witz dem Bösen zu wehren, die Wahrheit ans Licht zu bringen, die Lüge zu entlarven.

Noch immer glaube ich, dass Christus in dem Feuer, das in dir brannte und in dem du schließlich selbst verglüht bist, dass er darin das Feuer und den Geist deiner schmerzlichen Liebe sah; vor allem deiner schmerzlichen Liebe zu den Kindern und Kleinen und ihren verstörten, zitternden Seelen. Noch immer glaube ich, dass Christus deine heilige Ungeduld in geduldige Treue wandelt, in der du ihm und seiner Gemeinde, in der du uns verbunden bleibst.


IV

Liebe Schwestern und Brüder, der letzte Satz, den Oskar Brüsewitz unter seinen Abschiedsbrief geschrieben hat, lautete: »In wenigen Stunden will ich erfahren, soll ich erfahren, dass mein Erlöser lebt.«

Noch immer glaube ich, dass Oskar Brüsewitz seinen Erlöser erfahren hat, den lebendigen Christus, den Geist des Auferstandenen, den Geist des erneuerten Lebens auf dieser alten Erde ebenso wie den Geist des neuen Lebens im Reich Gottes, das nicht durch Heer oder Kraft erstritten wird.

Komm, Schöpfergeist, komm, Christus, komm, Tröster, komm »Geist der ersten Zeugen«! Lass uns brennen vor Liebe und geduldig sein, dass wir der Erde treu bleiben, und öffne uns den Himmel, wenn du uns in die letzte Entscheidung rufst. Komm mit deinem Frieden, der höher ist als unsere Vernunft.
Amen



Prof. Dr. Rüdiger Lux
Leipzig
E-Mail: lux@rz.uni-leipzig.de

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