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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2016

Reformationsfest 2016 - Röm.3,21-28, verfasst von Christoph Morgner


Liebe Gemeinde,
„wenn man vom Artikel der Rechtfertigung predigt, so schläft das Volk und hustet. Erzählt man jedoch Fabeln und Geschichtchen, so spitzt es die Ohren und hört begierig zu". Diese Erfahrung hat Martin Luther gemacht. Der muss es wissen, denn der Artikel von der Rechtfertigung war Kern und Stern seines Lebenswerkes. Wenn er schon beim Predigen schlechte Erfahrungen gemacht hat, wird es mir kaum besser gehen, nehme ich an. Sollten Sie also in den nächsten Minuten ständig husten oder gar einschlafen, wäre das zwar schade, aber ich befinde mich damit in ehrenwerter Tradition.
Denn heute am Reformationstag geht es um den Artikel von der Rechtfertigung. Er lässt sich in der kleinen Liedzeile bündeln: "Jesus hat alles für alle getan". Jesus ist aus dem Himmel gekommen und hat zwischen Gott und uns alles gut gemacht. Er hat den Schutt an Sünde weggeräumt, der sich zwischen Gott und uns aufgetürmt hat. Er hat die Schuld beglichen, mit der wir bei Gott in der Kreide stehen. "Jesus hat alles für alle getan". Er hat es recht gemacht zwischen Gott und uns. Diese wunderbare Nachricht hören wir heute.
Aber – das haben selbst beste Nachrichten an sich - wenn man sie oft hört, verblassen sie. Man gewöhnt sich daran. Und woran man sich gewöhnt, kann einem schnell gewöhnlich werden. So auch hier. Im Laufe der Christenheit wurde diese Botschaft - bis in unsere Tage hinein - verdeckt, verzerrt, vergessen.
Aber immer wieder wurde das, was verschüttet war, kräftig freigeschaufelt: zum Beispiel durch den Kirchenvater Augustin in der Frühzeit der Kirche, durch Martin Luther und Johannes Calvin vor 500 Jahren, durch den Theologen Karl Barth im vergangenen Jahrhundert. Sie alle haben erkannt: Mit dem Artikel von der Rechtfertigung steht und fällt die Kirche. Hier geht es um alles oder nichts.
Wie gut, dass wir uns am Reformationstag neu daran erinnern, konzentriert in dem Bibelwort, das wir gerade gehört haben. Hier vernehmen wir einen Dreiklang des Evangeliums. Auf jeden einzelnen Ton kommt es an. Der erste ist der...

1. Ton der Ernüchterung                                
Der Satz "Jesus hat alles für alle getan" ist ein Schlag ins Kontor religiöser Menschen. Denn die sind in der Regel davon überzeugt: Wir sind in der Lage, unser Verhältnis zu Gott eigenhändig zu regulieren. Was wird nicht alles angestellt, um die göttliche Gunst zu erwerben: Opfer werden auf die Altäre geschleppt, reichlich Beten und Fasten verschlingt Zeit und Kraft, anstrengende Wallfahrten zu heiligen Zielen werden unternommen, nicht zu vergessen: das tugendhafte Verhalten. Alles in der Absicht, Gott für mich einzunehmen. Wenn ich gut bin, dann ist Gott auch gut zu mir.
Mitten hinein der Ton der Ernüchterung: Unsere Werke, so trefflich sie sein mögen, reichen nicht bis zum Himmel. Es steht viel ärger um uns, als dass wir mit einer Handvoll guter Werke Gott beeindrucken könnten. Wie fromm wir uns auch verhalten, wie anständig wir uns auch benehmen – der Apostel Paulus fährt uns radikal dazwischen: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten“. Alle haben, so wörtlich übersetzt, „die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte“. Keiner hat vor Gott eine Chance, so viel Mühe er sich auch gibt.
Was sich hier zuträgt, lassen Sie mich das in einem Vergleich beschreiben: Aus einem Ohrring war der Stein herausgebrochen, ein kleiner Brillant. Das Gehäuse war noch da. Aber das Wichtigste hat gefehlt: der Stein, der Glanz, das beste Stück.
So meint es Paulus. Er hat fromme Juden und religiöse Heiden vor Augen. Er ernüchtert beide - und uns heute dazu: Aus unserem Menschsein ist das Entscheidende herausgebrochen, Wir haben Gott verloren. Das Wichtigste fehlt uns. Die Fassung ist nach wie vor da: Wir leben zweifellos - biologisch, seelisch, körperlich. Aber Gott ist uns aus den Augen und Herzen verschwunden. Das Kostbarste ist dahin. Wir haben, noch einmal Paulus, „die Herrlichkeit verloren“, dass wir Gottes Menschen, seine Kinder sein sollen, die mit ihrem himmlischen Vater reden, die auf ihn hören und die ihm in Liebe und Freude verbunden sind. So großartig wir uns auch benehmen und fühlen – die Bilanz ist ernüchternd: „allesamt sind wir Sünder“, Menschen, die von Gott getrennt sind.
Dabei müssen wir uns keineswegs kriminell verhalten oder moralisch auf die schiefe Ebene geraten. Doch ohne Gott sind wir nicht in unserem Element, dort nämlich, wo wir nach seiner Absicht hingehören. Wir haben Gott verloren. Deshalb sind wir verloren, so viel wir auch unternehmen.
Dieser Mangel im Zentrum unseres Lebens hat handfeste Folgen. Weil die bestimmende Mitte fehlt, läuft so viel in unserem Miteinanderleben quer. Eitelkeit, Egoismus und Rechthaberei bringen uns oft gegeneinander auf. Elend, Hunger und Terror gehen weltweit um. Das hat mit unserer zerstörten Beziehung zu Gott zu tun. Wir bleiben nicht nur ihm, sondern auch den Menschen neben uns Liebe und Aufmerksamkeit schuldig. Doch so hat Gott sich unser Leben und Zusammenleben nicht vorgestellt.
Paulus bezieht in sein Beurteilen auch die Christen ein, ja, sich selbst. Auch wir können Gott mit unseren frommen Anstrengungen nicht beeindrucken. Martin Luther, an den wir uns heute wegen des Thesenanschlags am 31. Oktober besonders erinnern, der hat’s versucht. Er verfolgte als Mönch nur ein Ziel: Gott gefallen, seine Gunst erwerben. Dafür hat er alles nur Denkbare unternommen: nächtelang gebetet, stundenlang gebeichtet, seinem Körper mit heftigem Fasten zugesetzt, bis er Haut und Knochen war. Aber was Luther auch unternahm: Das Gift der Sünde war immer dabei: das innere Aufbegehren gegen den göttlichen Willen, das Böse, die Eigensucht. Das alles war in seinem frommen Treiben mitten drin.
Wie hat sich Martin Luther aufgerieben! Er wusste: Wenn Gott Gerechtigkeit walten lässt, dann habe ich verspielt. Dann bin ich verloren. Er bekennt: „Obwohl ich als ein tadelloser Mönch lebte, sagte mir doch mein unruhiges Gewissen, dass ich vor Gott ein Sünder sei, und deswegen hasste ich einen gerechten und strafenden Gott“. Martin Luther war angetreten nach dem, was Paulus "Gesetz der Werke" nennt: viel tun, dann wird Gott mit mir zufrieden sein.
Leider geht das unter uns bis heute so zu, bis hinein in manche Gemeinde. Mancher Christ versucht's, legt vielleicht zu: noch länger beten und in der Bibel lesen, noch mehr spenden, kräftiger mitarbeiten. Viele ringen sich viel ab. Und das alles in der Hoffnung: Irgendwann wird Gott mit mir zufrieden sein. Aber das schlechte Gewissen bleibt. Und es ist bei manchen Christen zum Dauerzustand geworden.
Das kann auch nicht anders sein, wenn wir auf uns setzen. Denn was wir auch anstellen: Aus unserem Tun, und sei es noch so ehrenwert, wächst kein innerer Frieden. Deshalb der Ton der Ernüchterung. Uns ist nicht mit einem bisschen guten Willen und einer Handvoll rechtschaffener Taten zu helfen. - Was für ein Glück, dass wir dabei nicht stehenbleiben müssen. Denn wir vernehmen bei Paulus zugleich einen 2. Ton, den...:

2. Ton der Freude
Wie kommt es dazu? Als Theologieprofessor hat sich Martin Luther in den Römerbrief vertieft. Da gingen ihm tausend Lichter auf: „Endlich wies mich Gottes Erbarmen auf den Zusammenhang jener Worte: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Da fing ich an zu begreifen, dass hier die Gerechtigkeit Gottes gemeint sei, durch die der Glaubende lebt, nachdem er sie von Gott geschenkt erhalten hat, nämlich durch den Glauben. Da fühlte ich mich ganz neu geboren, durchs geöffnete Tor unmittelbar ins Paradies eingetreten. Da zeigte mir sofort die Heilige Schrift ein anderes Gesicht."
Was für eine strahlende Botschaft, die Martin Luther entdeckt: Meine Werke müssen nicht bis zum Himmel reichen. Denn zum Glück reichen Gottes Werke bis zu mir. Und auf die kommt es an. Das Entscheidende ist bereits geschehen: Jesus hat alles für alle getan, auch für mich. „Es ist vollbracht", mit diesen Worten ist Jesus gestorben. Das gilt, das hält, das trägt. Nun kann Paulus nach Rom schreiben: „Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“. Hier gibt es nichts mehr zu leisten. Denn das, was unser Leben vor Gott in Ordnung bringt, gibt es nur geschenkt. Den Himmel gibt’s nur kostenlos. Und wer ihn nicht geschenkt haben will, der kriegt ihn nicht.
Als Jesus am Kreuz sein Leben aushauchte, ist eine neue Lage eingetreten: "Ihn hat Gott hingestellt als Sühnemittel", schreibt Paulus. Gott hat sich mit dem Unglück unserer Sünde nicht abgefunden. Er hat das auf eigene, göttliche Art gelöst: Jesus hat sich für uns aufgeopfert. Er ist an unsere Stelle getreten und hat den Zorn Gottes auf sich gezogen, ihn getragen und das ausgehalten, was uns zusteht. Nun befindet sich zwischen Gott und uns alles im Lot. Wer sich an Jesus hält, kommt mit Gott ins reine. Und das alles geschenkweise: "ohne Verdienst", "aus seiner Gnade". Unverdient und unerwartet.
Im Neuen Testament wird uns das in allen Variationen erzählt: der verlorene Groschen wird wiedergefunden, das verirrte Schaf wird heimgeholt, der betrügerische Zolleinnehmer startet in ein verändertes Leben, die große Sünderin wird geliebt und in die Gottesgemeinschaft aufgenommen. Immer und überall geht es gleich zu: „Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“. Am Ende stehen jedes Mal die große Freude, der Dank, der Jubel.
So hat es auch der Genfer Reformator Johannes Calvin erfahren. Er stellt fest und staunt: „Der Sohn Gottes, selbst doch ganz rein von jeder Übeltat, hat unsere Sünde und Schande auf sich genommen und uns dafür mit seiner Reinheit umkleidet“. Wo wir das für uns entdecken und uns auf Jesus Christus einlassen, atmen wir auf. Sünde wird vergeben, die an uns hing wie ein Klotz am Bein. Wir gehen entlastet weiter. Die verlorene "Herrlichkeit" ist wieder da. Der Glanz Gottes liegt über unserem Leben. Wir sind bei Gott, und Gott ist bei uns. Wir sind bei ihm „in Gnaden", und das lebenslang und über unser Leben hinaus. Es hat sich Großes mit uns getan.
So haben das einige Chinesen erlebt, die in Marburg studieren. Sie kommen mit Christen in Kontakt. Die interessieren sich für das Stu­ dium der jungen Leute und helfen ihnen nach Kräften, sich in Deutschland zurechtzufinden. Dabei kommen auch Fragen des Glau­ bens zur Sprache. Nach dem Zusammen­ bruch des Kommunismus haben die jun­ gen Freunde aus China jeden Glauben an et­ was "Höheres" ver­ loren. Die Christen besorgen ihnen Bibeln und bringen die zentralen Aus­ sagen des christlichen Glaubens zur Sprache. Da­ nach schreibt eine Frau: „Haben Sie herz­ lichen Dank, dass Sie uns die Sache mit der Liebe Gottes so schön erklärt haben. Mein Mann hat die ganze Nacht vor Freude nicht geschlafen.“
Menschen, die zunächst von der christlichen Botschaft weit entfernt sind, erleben das Glück des Glaubens. Da bricht sich die Freude Bahn – vielleicht eine lange Nacht hindurch. Und weil sich das alles geschenkweise zuträgt, kommt noch ein dritter Ton unseres Dreiklangs hinzu: der

3. Ton der Bescheidenheit
„Wo bleibt nun das Rühmen?“, fragt Paulus. Und er gibt seine Antwort gleich hinterdrein: „Es ist ausgeschlossen“. Das ist verständlich, denn auf ein Geschenk bilden wir uns nichts ein. Darüber freuen wir uns. Es macht uns dankbar.
Anders geht es dort zu, wo man – so Originalton Paulus – nach dem „Gesetz der Werke“ antritt und auf seine Verdienste pocht. Da liegt das "Rühmen" nahe. Gern vergleicht man sich mit anderen. Und es gibt bekanntlich immer jemanden, von dem man sich positiv abhebt. Stufendenken zieht ein: fromm, frömmer, am frömmsten, oben und unten auf der religiösen Leistungsskala.
Mit solchem Denken und Verhalten hatte Jesus mehrfach zu tun. Die Frommen seiner Zeit setzten stolz auf das, was sie zuwege brachten. Nur geringschätzig sind sie denen begegnet, die es in ihrer Frömmigkeit nicht so weit gebracht haben. Entsprechend herb gingen sie mit ihnen um.
Das ist verständlich: Was wir leisten, unterscheidet uns von anderen. Das hebt uns von ihnen ab. Gerne bilden wir uns darauf etwas ein. Leicht zieht eine frommer Unterscheidungs- und Richtgeist in Menschen und Gruppen ein. Christen fühlen sich über-, aber auch unterlegen, wenn sie sich mit anderen vergleichen.
Doch wenn wir unser eigenes Leben im Licht Gottes bedenken, so wie es Martin Luther getan hat, desto bescheidener werden wir. "Wir sind Bettler, das ist wahr". Diese kleine Notiz hat man nach seinem Heimgang im Sterbezimmer gefunden. Was könnte Anlass bieten, uns über andere zu erheben?! Nichts, aber auch gar nichts.
Martin Luther musste traurig festgestellten, wie tief das Böse in ihm nistet - in Gedanken, Worten und Taten. Und das nicht nur in grober, unappetitlicher Form, sondern auch in edlen Absichten und Taten. Die teuflische Macht des Bösen wütet immer und überall – selbst dann, wenn wir die Bibel aufschlagen, auf die Kanzel steigen, im Kirchenchor singen, im Gottesdienst die Geldbörse für die Kollekte zücken. Das Böse schütteln wir nicht ab. Im Umgang mit Jesus Christus spüren wir, wie tief es in uns sitzt und wie sehr wir auf Vergebung und Reinigung angewiesen sind.
Philipp Jakob Spener, der 150 Jahre nach Martin Luther lebte und der die evangelische Bewegung des Pietismus auslöste, hat scharfsinnig erkannt: „Je weiter ein Christ kommt, umso mehr sieht er, was ihm mangelt“. Deshalb der Ton der Bescheidenheit. Bescheiden, was uns und unsere Möglichkeiten betrifft. Und zugleich getrost, wenn wir uns Jesus Christus anvertrauen. Wir sind eingeladen, uns an ihn zu binden. Dann gilt das, war er am Kreuz erworben hat, auch für uns. Wir greifen zu. Wir nehmen es für uns in Anspruch. Wir glauben und können uns das Leben ohne Jesus nicht mehr vorstellen. Wir setzen auf das, was er für uns getan hat. Da bleibt kein Eckchen, wo das Rühmen einen Nährboden finden kann.

Haben Sie während der Predigt gehustet oder sind Sie gar eingeschlafen? Das macht nichts. Denn wir lassen es uns zum Schluss noch einmal sagen: „Jesus hat alles für alle getan“. Heute am Reformationstag vernehmen wir den Dreiklang der frohen Botschaft: den Ton der Ernüchterung, denn mit dem, was wir zustande kriegen, ist vor Gott kein Staat zu machen. Aber zugleich hören wir von dem, was Jesus für uns getan hat, für Sie genauso wie für mich. Wo wir das im Glauben erfassen und für uns gelten lassen, gehen wir fröhlich und bescheiden unseren Weg. Kleine Leute sind wir, aber mit einem großen Heiland. Schuldige sind wir, aber wir wissen, wo wir unsere Sünden abladen können.
So hat es Martin Luther erlebt, und er bezeugt: "Das Wunder des Glaubens steht darin, dass Christus mir die Sorge um mich selber aus der Hand nimmt, so dass ich die Hände frei hab dem Nächsten zugut. Der Glaube lebt sich in der Liebe aus“.
An der Hand unseres Heilandes bekommen wir nun Gedanken und Hände frei für die Menschen um uns her. Gute Werke, jawohl, aber nicht mit dem Blick zum Himmel, um damit bei Gott etwas zu erreichen, sondern mit dem Blick auf die Menschen um uns herum. Jesus regt uns zur Liebe an und weckt dafür in uns die besten Kräfte. Das macht uns fleißig, aber nun nicht mehr, damit wir dadurch zu Christen werden, sondern weil wir Christen geworden sind, weil wir Jesus gehören und uns daran freuen. Amen.



Altpräses Dr. Christoph Morgner
Garbsen
E-Mail: christoph.morgner@gmx.de

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