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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2016

Reformationsfest 2016 Luther in Vendig, verfasst von Bernd S. Prigge

Liebe Gemeinde,

stellen wir uns vor: beinahe 500 Jahre nach der Reformation würde Martin Luther heute hier in Venedig vorbeischauen. Was würde er wohl denken?

 

Zu allererst wäre er sicherlich erstaunt darüber, dass der Gottesdienst im Sitzen gefeiert wird. Zu Luthers Zeiten gab es noch keine Kirchenbänke. Man hörte im Stehen zu und dass häufig länger als heute. Die Liturgie war viel umfangreicher und natürlich alles in lateinischer Sprache. Aber die Gemeinde war damals sowieso ziemlich egal, ihre Beteiligung war zweitrangig. Der Priester zelebrierte mit den Rücken zur Gemeinde. Frauen hätte man hier vorne erst recht nicht zu sehen bekommen.

 

Zum anderen wäre Luther sicherlich verwundert über die vielen Kirchen Venedig gewesen: 236 an der Zahl bei 58.000 Einwohnern. Das zeugt nicht etwa von einer großen Frömmigkeit der Venezianer, würden wir ihm berichten. Viele von den Kirchen haben heute eine andere Funktion: Sie sind nicht mehr Gotteshäuser, sondern Touristenattraktionen und Galerien.

 

Ich glaube jedoch, über eins würde sich der große Kirchenmann besonders freuen, wenn er heute zu uns käme: Dass die Menschen heute ohne Furcht in die Gottesdienste gehen. Dass man heute ohne Angst glauben kann. Angst davor, dass Gott sie bestraft - für ihre Verfehlungen. Sie wissen: Aus der Angst vor dem Fegefeuer und vor Gottes Zorn hatte die Kirche Kapital geschlagen. Mit entsprechenden Zahlungen konnte man sich selbst oder Angehörige freikaufen von den Qualen der Hölle. In dem bekannten Luther-Film, der vor einigen Jahren lief, wird eindrücklich die arme Grete gezeigt. Eine Frau von der Straße, die ihre letzten Münzen für das Seelenheil ihrer behinderten Tochter zu spenden bereit ist.

Übrigens, die Waldenser hatten ja schon 300 Jahre zuvor nahezu dieselben Erkenntnisse und wehrten sich gegen den Missbrauch kirchlicher Macht und wurden dafür viele Jahrhunderte aufs Schlimmste verfolgt.

 

Liebe Gemeinde,

der Mensch hat heute gegenüber Gott und gegenüber der Kirche ein anderes Verhältnis. Es basiert nicht mehr auf Angst und Schrecken. Das hat auch mit Martin Luther zu tun und seiner Erkenntnis, die aus dem heutigen Predigttext stammt. Dort steht: „So halten wir dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Römer 3,28)

Das, was sich hier kompliziert anhört, ist die Antwort auf Luthers Lebensfrage „Ich kann Gott und den Menschen nicht genügen. Wie kann ich so leben – mit meinen Fehlern und Versagen?“ Luther formuliert auf seine eigene Art „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“. Diese Frage hat ihn sehr umtrieben. In seinem Turmzimmer im Kloster in Wittenberg steht er, so würden wir heute sagen, kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Er wirft mit einem Tintenfass nach dem Teufel. So erzählt es die Legende und findet dann eine neue Sicht der Bibel durch den Römerbrief.

Der Glaube macht frei. Keine Institution, auch nicht die Kirche, keine Macht und keine Tradition, keine Gesetze können das tun, was der Glaube kann.

Soweit erzähle ich Ihnen nichts Neues. Für Luthers Welt damals hat dieser Sinnenswandel Aufruhr und sogar die Spaltung der Kirche bedeutet.

Die Erkenntnisse der Reformation leben wir eigentlich: Wir fürchten uns nicht vor Gott. Wir sind gefeit gegen alle Mächte und Menschen, die meinen, sie wüssten die Wahrheit. Wir sind misstrauisch gegenüber Autoritäten, die mit einem Absolutheitsanspruch auftreten. Statt einem Papst zu folgen, sind wir selbst alle zu kleinen Kardinälen geworden. Die wir selbst nach unserer Fasson die Bibel auslegen können und unseren eigen Glauben formulieren. Dass wir ohne Verdienst von Gott akzeptiert werden, ist soweit verinnerlicht, so dass alles andere zweitrangig scheint: Die Gebote, unser Lebenswandel, unser Verhalten. Nach dem Motto: Hauptsache glauben! Alles wird gut.

 

Also müsste man heute vielleicht eher gegen Luther und gegen die Freiheit eines Christenmenschen predigen? Ist der Glaube zu einem Ruhekissen geworden? Ist Freiheit an ihre Grenzen gestoßen und wurde überstrapaziert. In Italien könnte man denken, es ist heimlich sogar protestantisch geworden. Einige Politiker im Veneto oder auch in der Lombardei haben ihre Freiheiten in ihrem Amt über Gebühr genossen. Die haben weder Angst vor Gott noch fürchten sie das Gesetz. Uns scheint die Freiheit schlecht zu bekommen. Brauchen wir wieder mehr Gottesfurcht?

 

Lassen sie uns eine Antwort suchen, in dem wir Martin Luther weiter durch die Gemeinde führen. Ich stelle mir vor, ich nehme Luther nach dem Gottesdienst mit nach Abano ins Pfarrhaus. Ich glaube, schon im Amtszimmer würde er einen Kulturschock erleiden: Diese Vielzahl von Büchern, Papieren, Materialien, der Computer, das Telefon, der blinkende Anrufbeantworter, die Kerzen, der Schrank voller kleiner Heftchen, die Postkarten. Ich bin mir sicher: Obwohl Luther ja bekanntermaßen ein Freund von Büchern war, diese bunte Ansammlung wäre für ihn schockierend. Der Zukunftsphilosoph Andreas Giger hat errechnet: Ein europäischer Haushalt verfügt heute im Schnitt über 2.000 Gegenstände, die man ständig warten, pflegen, reinigen, verstehen, entsorgen und bedienen muss. Vielerorts werden es noch mehr Dinge sein. Viel Zeit und Kraft wird täglich dafür gebraucht, den Überblick zu bewahren und den Alltag zu organisieren. Und es hat sich gezeigt: das, was uns die Technik heute an Arbeit erleichtert, wie Wäschewaschen, Geschirrspülen, langwieriges Essenkochen, wird anderswo wieder draufgeschlagen. Mit Papierbergen, dem Sauberhalten der größer werdenden Wohnungen und der aufwendigen Freizeitgestaltung.

Luther würde vielleicht, wenn er in meinem Amtszimmer stünde, fragen, ob das hier die Gemeindebibliothek sei und die Bücher und Materialien allen zugänglich. Wenn ich mich rechtfertigen würde: „Ja, so als Pastor braucht man eine Menge für diese und jene Begebenheit.“ Dann würde er mich vielleicht väterlich zur Seite nehmen und sagen: „Bruder, sola scrptura, allein die eine Schrift, die Bibel sollte die zentrale Rolle spielen“. Und ich würde ihm dann wohl recht geben: Dieses ganze Organisieren ist auch Ballast und das Wesentliche verschwindet leicht hinter diesem Berg an Managementaufgaben. Dr. Luther würde mich dann vielleicht an den 2. reformatorischen Grundsatz erinnern „sola fide, allein aus Glauben“. Erfüllung gelingt nicht allein durch beruflichen Erfolg, durch das Anhäufen von Werten und der Verbesserung des Lebensstandards. Glück erfährst du durch den Glauben. Wenn ich Gott liebe mit ganzer Kraft und meinen Nächsten wie mich selbst. Natürlich sollst du dich beruflich anstrengen, natürlich sollst du dich bemühen, gut versorgt zu sein. Aber verfalle dem nicht. Du weißt, der Urfehler des Menschen ist der Hochmut, sich selbst zu überschätzen und alles selbst in der Hand haben zu wollen.

 

Ich würde Luther dann wohl beipflichten und Besserung geloben.

Dann nähmen wir möglicherweise in der Küche Platz, ich böte ihm ein Glas Wein aus den eugenischen Hügeln an. Er würde mich vielleicht fragen, was mich so beschäftigt. Wahrscheinlich geriete ich ein wenig ins Jammern: Über die so kleine Gemeinde, die einfach nicht wächst, und über unsere Kirchendecke, die eingestürzt ist. Dann würde ich aber den Reichtum beklagen in diesem Land, Venedig ist so teuer, Restaurierungen exorbitant hoch. Welch Ungerechtigkeit. Ja, dann würde ich wohl so richtig losstöhnen über die Situation der Kirche.

 

Luther dürfte wohl aufmerksam zu hören, um dann an die 2 Ursünde neben dem Hochmut zu erinnern: An die resignatio, die Mutlosigkeit. „Bruder,“ würde er vielleicht sagen, „Armut ist eine schlimme Sache, besonders wenn andere vor Geld stinken.“ Wie wissen von Luthers deftigen Ausdrücken, „Und deine Gemeinde mag klein und baufällig sein. Doch du weißt: Des Teufels liebstes Möbelstück ist die lange Bank. Pack also zu.“ Ja, Luther würde mich ermahnen: Statt mich in der Krise zu suhlen, meinen Auftrag ernst zu nehmen. Und dann gäbe es möglicherweise noch eine kleine Vorlesung über eine weitere Erkenntnis aus dem Römerbrief: Die Barmherzigkeit, die Gnade Gottes umfasst uns auch in allem Scheitern und meinen Unfähigkeiten. Nicht der Zustand des Kirchengebäudes zählt, nicht das Gelingen von schönen Basaren und das Gewinnen von Spenden. Sondern ich als Mensch zähle mit all meinen Seiten. Gott ist barmherzig mit mir, so kann auch ich mit mir und anderen barmherzig sein.

 

Liebe Gemeinde,

hier wollen wir den Zug Luthers durch die Gemeinde enden lassen. Sie werden gemerkt haben, dass er wohl doch noch recht hat, unser Luther. Wenn auch seine Erkenntnisse immer wieder neu in das Leben hineingesprochen werden müssen. Die Bibel, der Glaube und die Gnade bleiben das Zentrum. Wir müssen dem Hochmut und der Resignation widerstehen.



Pastor Bernd S. Prigge
Venedig / Venezia
E-Mail: bernd.prigge@gmx.de

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