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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2016

Reformationstag, 31.10.2016. Röm.3,21-28, verfasst von Matthias Wolfes

„Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart und bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich sage aber von solcher Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesum Christum zu allen und auf alle, die da glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist, welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, daß er Sünde vergibt, welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld; auf daß er zu diesen Zeiten darböte die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt; auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesum. Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen. Durch das Gesetz? Durch der Werke Gesetz? Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz. So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“

 

Liebe Gemeinde,

am Reformationstag geht es um die Ehre. Gewiß kann und soll immer wieder auch die Frage gestellt werden „Was ist christlich?“, vielleicht auch „Was ist noch christlich?“, denn zu keiner Zeit kann eine Antwort darauf gegeben werden, die nicht zugleich auch eine Antwort ihrer Zeit ist. Heute aber, an diesem Gedenk- und Erinnerungstag, stellt sich für uns mehr die Frage „Was ist protestantisch?“. „Protestantisch“ bedeutet aber immer auch „reformatorisch“ und „evangelisch“.

 

I.

Die historische Seite ist das eine. Die Erinnerung an Luther ist derzeit allgegenwärtig. Die Zeitungen sind voll von Luther-Signalen; in den Buchhandlungen finden sich stapelweise Luther-Biographien und andere Neuerscheinungen zum Thema Reformation. Man kann regelrecht schwelgen in diesem Gebiet, und wenn man dann noch den Weg nach Wittenberg findet und sich dort die soeben in neuem Glanz erstrahlende Schloßkirche ansieht, dann mag das eine oder andere protestantische Herz aufgehen.

Aber was ist ein „protestantisches Herz“? Das eben ist die andere Seite. Der Protestantismus, das evangelische Christentum lebt; es lebt in Geschichte und Gegenwart. Doch die Gegenwart stellt sich uneindeutig dar. Wenn sich schon zu Beginn der reformatorischen Bewegung eine Mehrzahl von Strömungen herausbildete, bis hin zu erbitterten theologischen und kirchenpolitischen Konfrontationen, dann ist dies um so mehr ein Kennzeichen für den heutigen Protestantismus. Protestantisches Christentum ist anscheinend seiner Natur nach uneindeutig, mehrdeutig und jedenfalls in der Gestalt vielfältig.

Das ist kein Zufall. Es kann anders gar nicht sein. Denn das entscheidende Moment des reformatorischen Protestes – des Ursprungs allen „Protestantismus“ – war ja gerade der Widerspruch gegen eine Form des christlichen Glaubens, in der anmaßende Autoritäten den Weg zwischen dem Glaubenden und Gott durch ihre Vorgaben reglementieren wollten. Diesem Anspruch wurde widersprochen. Diese Gesetzlichkeit des Glaubens war das, wogegen der Kampf ging. Geführt wurde er im Namen der Freiheit des Glaubens, und deshalb kann man zurecht das protestantische Christentum als „Religion der Freiheit“ bezeichnen.

Wir wissen, welche Konsequenzen dies gehabt hat. Es waren vielfach auch unbeabsichtigte Konsequenzen, darunter in erster Linie die Kirchenspaltung. Dann aber auch der Säkularisierungsschub, die allmähliche Entchristlichung der westlichen Gesellschaften, das Erblühen naturalistischer oder materialistischer Weltdeutungsmodelle, die Emanzipation der Naturwissenschaften, die Radikalisierung des Individualismus, die sich aus der Vereinzelung des frommen Menschen in seinem religiösen Streben ergab. Nicht ohne Grund endet die bekannteste Analyse des Verhältnisses von Protestantismus und moderner Welt, diejenige Max Webers, mit einem tiefpessimistischen Ausblick auf eine vollständig entzauberte, seelenlos und unerbittlich technisierte Welt.

Und dennoch: Der Rückblick auf das reformatorische Werk erfüllt uns mit Stolz. Wie sehen hier nicht in erster Linie den Ausgangspunkt für eine Verhängnisgeschichte. Wir sehen vielmehr eine Morgenröte, aus der der Tag heraufsteigt, der unser Tag ist. Der typische Protestant ist nicht der Einsame, der verlassen von allen seinen Weg durch das Jammertal zieht und aus nichts anderem seine Hoffnung schöpft als aus der eigenen Gewißheit. Es ist vielmehr derjenige, der sich verläßt auf Gottes Zuspruch: „Ich bin der Herr, dein Gott“ (2. Mose 20, 2; 5. Mose 5, 6) und der zu sich spricht: „Der HERR ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln“ (Psalm 23, 1). Dies ist der Grund, der Grund seines Seins als Christ und also der Grund des Glaubens.

Gottes Zuspruch ist der Anker. Die Beständigkeit des Glaubens hängt an nichts anderem. Das religiöse Prinzip des Protestantismus ist die Glaubensfreiheit. Ein Protestant ist nun vielleicht nicht gerade einer, der sich seine Religion, wohl aber seine Theologie selbst „machen“ könnte. Die Befugnis dazu hat er. Hier ist die Tradition dann auch für die gegenwärtige Form protestantischen Christentums von erheblicher Bedeutung.

Der Traditionsbezug erweist sich als Sicherstellung des substantiell Christlichen und zugleich als Gewährleistung von Glaubensfreiheit. „Glaubensfreiheit“ ist ein bereits im Ursprung des Protestantismus verankertes Prinzip. Viele reformatorische Schriften und auch frühe religionspolitische Erklärungen bezeugen das. Für die Einwohner der sieben nördlichen Provinzen der spanischen Monarchie, die späteren Niederlande, galt seit 1579, daß jeder „in seiner Religion frei sein und keiner wegen seines religiösen Glaubens belästigt werden solle“ (Utrechter Union).

 

II.

Anders als in früheren Zeiten der protestantischen Glaubensgeschichte, als Versammlungen von Herrschern und Kirchenbehörden Festlegungen in Glaubensdingen aussprachen, läßt sich heute von „Rechtgläubigkeit“ und „Irrlehre“ kaum noch sinnvoll reden. Allenfalls als Sache des Konsenses der Gläubigen wäre dies denkbar, doch bliebe dessen Verbindlichkeit auch dann hochproblematisch. Was jedenfalls kein wie auch immer her- und festgestellter Konsens zunichte machen könnte, das ist: Die Stimme, auf die der Protestant hört, ist die Stimme des Gewissens, die Stimme, die er selbst erklingen hört. Sie aber kann aufgeweckt und geschärft, auch in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, und zwar durch das vernünftige Wort anderer. Synoden, als Repräsentanten der Gläubigen, haben die Befugnis, solche Worte, die auch mahnende sein können, zu sprechen, das ist ihre Aufgabe. Welche Konsequenzen der Glaubende dann aber daraus zieht, können sie nicht festlegen, und das zu tun, obliegt ihnen auch nicht.

Wir finden uns in einer Zeit vor, in der wir uns allen wünschenswerten Pluralismus in unserer religiösen Gemeinschaft leisten können. Ein Bekenntnisnotstand ist nicht gegeben, und es ist auch nicht zu erwarten, daß er eintritt. Alle Themen, um die der christliche Glaube heute ringt, etwa in Fragen der Humangenetik, lassen sich auf dem Wege ruhiger Besinnung erörtern. Dasjenige, das wir einzubringen haben, die Stimme der vorsichtigen Vernunft, der Menschenwürde und des Personalitätsprinzips, bringen wir ein in die Diskussion. Wir wissen aber auch, daß die Situation sich wieder ändern und es nötig werden kann, beispielsweise rassistisch motivierte Instrumentalisierungen des Glaubens abzuwehren. Auch dazu muß die christliche Gemeinschaft imstande sein. Aber die Kraft dazu liegt gleichfalls in Glaube und Glaubenstradition geborgen; sie wird erwachen, wenn es sich als nötig erweisen sollte.

Auch für den Glauben gilt, daß das, was ist, nur ist, weil es geworden ist. Deshalb gedenken wir heute der Reformation. Wir tun es, indem wir dieses Gedenken als eine Art Auftrag verstehen. Denn wir gehen den Weg weiter. Wir machen den Weg der Reformation zu dem unseren. Kreativität ist im protestantischen Raum eine Glaubenstugend. Es ist legitim und gefordert, neue Formen auszubilden, bis dahin, daß Begriffe wie „Gott“, „Glaube“, „gerecht werden“ auf eine Weise gebraucht und erläutert werden, die sich verstehen läßt und die nicht nur weiterträgt, wie sie verstanden worden sind.

Im Protestantismus ist ernst damit gemacht worden, daß, wer von Gott spricht, immer zugleich auch von sich selbst spricht. Das Selbst des Sprechers bildet den unüberschreitbaren Erfahrungsraum seines religiösen Sprechens. Eine Zeugenschaft, die von der Individualität des Sprechers losgelöst wäre, gibt es nicht.

 

III.

Der Anspruch, der damit verbunden ist, ist hoch: Festigkeit und innere Stärke zeigen sich darin, daß man dem Anderen, dem Abweichenden seinen Raum läßt. Es ist eine Form von religiöser Bewährung, die Unversehrtheit des anderen zu achten. Versöhnung ist nicht nur generell die Grundidee des Christentums, sondern sie ist auch das Leitmotiv, das das gemeinschaftliche Leben im Glauben bestimmen soll. Solche Achtung und Anerkennung der Selbständigkeit des Einzelnen entspricht der Struktur des Glaubens selbst.

Jeder weiß, daß es im Feld des Religiösen viel Verwirrung gibt. Der Punkt ist aber schwer zu bestimmen, wo geradezu von „Irrsinn“ zu sprechen wäre. Viele Fälle dieser Art mögen pathologisch bedingt sein. Das Hauptproblem liegt deshalb auch weniger in dem, was gesagt wird, als in der Ansprechbarkeit für das Absonderliche selbst. Die Neigung zu Magie und Aberglaube ist kaum jemals durch andere religiöse Einsicht überwunden worden, sondern dadurch, daß das Leben besser organisiert wird. „Ordne unsern Gang, Jesu, lebenslang“ (Evangelisches Gesangbuch 391, Str. 4).

Der suchende Rückgriff auf Schicksalsideen und Weltenplanphantasien erübrigt sich, wenn das Leben eine gute Form hat, wenn der Mensch, in dem, was er ist, aus sich heraus klar ist. Klar strukturierte Geister lassen sich nicht auf Magisches und Stundenschau ein. Das gilt für alle Formen religiöser Begeisterung, die den Gläubigen entmündigen und seiner Sinne berauben.

Daß aber ein vom Geist Ergriffener nicht mehr für seine Handlungen verantwortlich ist und förmlich zu einem anderen Menschen wird, wollen wir nicht gelten lassen. Der Protestantismus ist dazu das gerade Gegenkonzept: Er kann, und zwar in allen seinen Versionen, als Hilfsangebot und Geländer verstanden werden, zur Klarheit zu gelangen. Er möchte das religiöse Leben herabstimmen zu einer vernünftigen Gestalt, in der die Wirklichkeit Gottes um so deutlicher hervortreten kann, der Mensch gleichzeitig aber er selbst bleibt. Nicht irgendeine Einfühlung in das Wesen Gottes oder des „Schicksals“ oder dergleichen ist das Ziel. Vielmehr geht es darum, ein Leben im Einklang mit dem Wirken des göttlichen Geistes, des Geistes von Güte und Gerechtigkeit, zu führen. Der Glaubende bleibt sich seiner selbst bewußt. Sein Vertrauen auf Gott ist vernünftig.

An diesem Ideal halten wir fest. Ihm sind wir verpflichtet, wenn wir von einem „vernünftigen Gottesdienst“ sprechen (Römer 12, 1-2) und damit unser Leben in seiner Ganzheit meinen. Dies ist der Kern der protestantischen Idee und des Protestantismus selbst.

Amen.

 

 

Literatur:

Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [zuerst 1904/05]. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler (Beck’sche Reihe. Band 1614), München 2004.

 



Pfarrer Dr. Dr. Matthias Wolfes
Berlin
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

Zusätzliche Medien:
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