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ISSN 2195-3171

thematisch, 2017

Martin Luther: Aus tiefer Not schrei ich zu dir... - Predigtgedanken, verfasst von Sibylle Rolf

Er müht sich vergeblich. Sackgasse, denkt er, die Tür ist verschlossen. Von außen hat die Tür keine Klinke. Nur blankes Holz. Bittend, flehend klopft er an. Als das nicht hilft, ruft er laut und fordernd. Nichts. Die Tür bleibt verschlossen. Was dahinter ist? Einen blühenden Garte stellt er sich vor. Plätscherndes Wasser, grüne Wiesen. Obstbäume. Weite. Ein Ort zum Auftanken und Wohlfühlen. Ein Ort, an dem er einfach sein darf, wie er ist. Ein Sehnsuchtsort. Aber hier? Vor der verschlossenen Tür fühlt es sich an wie Wüste, Dürre. Dunkelheit. Er hat Durst und fühlt sich ausgetrocknet. Er hat keine Kraft mehr. Keine Liebe. Und seine Gedanken kreisen um die Frage: Was ist geschehen? Wie bin ich eigentlich hierher geraten?

Tiefe Not sieht von Mensch zu Mensch unterschiedlich aus. Martin müht sich ab in seinem Leben, weil er möchte, dass Gott ihn freundlich ansieht. Für Susanne ist eine Beziehung zerbrochen. Sie hat gekämpft um ihre Liebe, hat geklagt und gestritten; jetzt ist es vorbei.

Vor der verschlossenen Tür stehen, mich in tiefer Not wiederfinden – da vermischen sich Schuld und Tragik. Natürlich, ich bin irgendwie an diesen Ort gelangt. Aber ich weiß gar nicht so recht, wie eigentlich. Und vor allem finde ich keinen Ausweg. Leben in der Sackgasse ist schrecklich. Eine Grenzerfahrung. Gut, wenn es dann jemanden gibt, an den ich mich wenden kann. Gnädige Ohren, in die ich meine Not hineinrufen kann. Die Psalmen sind solche Rufe von Menschen in tiefer Not. Eines der ersten Lieder, das Martin Luther geschrieben hat, nimmt einen Psalm auf: aus tiefer Not schrei ich zu dir.

 

  1. Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.

Dein gnädig Ohren neig zu mir und meiner Bitt sie öffne;

denn so du willst das sehen an, was Sünd und Unrecht ist getan,

wer kann, Herr, vor dir bleiben?

 

Schwermut atmen Text und Melodie. Die tiefe Not in Wort und Klang. Ich kann sie spüren. Ich gebe mir so viel Mühe, sagt Martin, aber ich falle immer wieder auf mich selbst herein. Ich gebe mir so viel Mühe, sagt Susanne. Ich will doch liebevoll und freundlich sein, Rücksicht nehmen. Aber immer wieder falle ich zurück. Gerate unter Druck. Komme in Situationen, in denen die Angst mich beherrscht. Ich kann nicht vertrauen. So geht es auch Martin. Ich kann mich anstrengen, wie ich will, aber ich komme immer wieder an meine Grenzen. Verliere mein Vertrauen. Fühle mich weit weg von Gott.

Verlorenes Vertrauen - nichts anderes bedeutet das alte theologische Wort Sünde. Ich werde sie nicht los, die Sünde steckt in mir, immer wieder das Misstrauen, die Angst – so du willst das sehen an, wer kann, Herr, vor dir bleiben? Wenn sich in eine Beziehung Angst einschleicht, so verdirbt sie die Liebe. Immer dieselbe Frage: Sollte Gott etwa gesagt haben…? Sollte mein Mann etwa denken...? Angst und Misstrauen schaffen Distanz, vergiften das Herz, zerstören die Liebe. Tiefe Not.

 

Sie stellt Fragen, diese Not, abgründige Fragen: Was bin ich wert? Was kann ich? Was stelle ich dar? Wie ist mein Standing?

Alles, was ich auf diese Fragen antworten könnte, kann mir schnell wieder genommen werden. Ansehen und Erfolg, im kleinen wie im großen. Es ist anstrengend, an meinem Standing zu arbeiten. Und ich kann nicht verhindern, dass ich vielleicht an einem einzigen Tag vom Liebling aller zur Zielscheibe ihrer Häme werde. Ein Shitstorm kann mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Was bin ich wert? Wenn ich nicht einhalte, was ich mir vorgenommen habe? Was bleibt mir dann?

 

  1. Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben.

Es ist doch unser Tun umsonst auch in dem besten Leben.

Vor dir niemand sich rühmen kann,

Des muss dich fürchten jedermann und deiner Gnade leben.

 

Was beendet die tiefe Not? Was hilft zur Heilung? Die Diagnose ist der Beginn der Therapie. Aber der Weg ist nicht leicht. Erst muss ich aushalten, dass ich es nicht schaffe. Es ist doch unser Tun umsonst. Der Glauben muss durch den Tod hindurch, hat Dorothee Sölle einmal gesagt. Damit ich vertrauen kann, muss ich erst alles andere loslassen. Das gilt für Susanne genauso wie für Martin. Ich muss einsehen, dass ich es trotz aller Bemühungen nicht schaffe. – Wirklich?, frage ich. Auch nicht ein bisschen? Martin schüttelt den Kopf. Nein, auch nicht ein bisschen. Sei ehrlich mit dir selbst: du willst dir doch eigentlich auf die Schulter klopfen und dir sagen: bin ich nicht gut? – ich kann alles wuppen, mein Leben, meine Liebe, meine Beziehung, meinen Glauben. Aber halt es aus: du hast es nicht in der Hand. Halt sie aus: deine Ohnmacht, dein Unvermögen, deine Hilflosigkeit. Du fühlst dich gekränkt? So ist es wohl. Es ist doch unser Tun umsonst. Tod mitten im Leben.

 

Der Weg in den Himmel führt durch die Hölle. Nicht immer. Aber häufig. Es ist meine persönliche Hölle und mein persönliches Gericht. Das Gericht, das ich über mich selbst spreche. Kann ich mir gnädig sein? Vor mir selbst bestehen? Weil ich, wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, es nicht kann, nehme ich meine Flucht zu dem, was ich kann. Der Drang, mir selbst auf die Schulter zu klopfen, ist groß. Aber wenn ich ehrlich bin, soll er eigentlich nur die Angst betäuben und erträglich halten – die Angst vor dem vernichtenden Urteil. Susanne nickt. Es ist viel einfacher, ihrem Mann aufzurechnen, was sie alles macht und tut als einzusehen, dass alles Schaffen und Tun ihr die Liebe nicht zurück bringt, nach der sie sich sehnt. Martin Luthers befreiende Erkenntnis war: auch wenn ich mich zu Recht verurteile, auch wenn andere mich zu Recht verurteilen – auch dann gilt mir Gottes Gnade und Gunst.

 

  1. Darum auf Gott will hoffen ich, auf mein Verdienst nicht bauen;

Auf ihn mein Herz soll lassen sich und seiner Güte trauen,

Die mir zusagt sein wertes Wort,

Das ist mein Trost und treuer Hort, des will ich allzeit harren

 

Hoffnung auf Gott steht gegen den wackeligen Grund meines selbstgemachten Standings in der Welt. Es gilt, mich im Wortsinne zu verlassen. Mich loszulassen und mich auf einen anderen zu verlassen. Nicht weil ich es verdiene oder weil ich mich so verdient gemacht habe. Die Sprache entlarvt schon. Es geht im Glauben überhaupt nicht darum, dass ich mich zu etwas mache. Es geht um vorbehaltloses Vertrauen. Und das fängt im Herzen an. Woran du dein Herz hängst, schreibt Luther, das ist eigentlich dein Gott. Freu dich, denn du kannst dein Herz verschenken – das macht dich zum Menschen! Wer oder was ist dir so wichtig, dass du ihm dein Herz schenkst? Wem gehört dein Herz? Was ist dir wichtiger als alles andere? Hast du es aus eigenem Entschluss in dein Herz gelassen?

Jetzt ahne ich, was Martin meint: Mein Herz ist gefährdet. Dass ich es verschenken kann, ist der größte Schatz, den ich habe. Aber ich kann es nicht immer steuern, nicht immer kontrollieren. Ich möchte ja vertrauen, sagt Susanne, aber immer wieder schieben sich andere Dinge dazwischen, alte Ängste oder neue Irritationen. Ich mühe mich ja ab, sagt Martin, aber mein Herz schweift immer wieder ab, ist gefangen in Angst und Verzagtheit. Vertrauen fällt mir schwer.

Ich will, aber ich kann nicht. Auf ihn mein Herz soll lassen sich... wie kriege ich das hin?

 

  1. Und ob es währt bis in die Nacht und wieder an den Morgen,

Doch soll mein Herz an Gottes Macht verzweifeln nicht noch sorgen.

So tu Israel rechter Art,

Der aus dem Geist erzeuget ward, und seines Gotts erharre.

 

Ich spüre die tiefe Not in der Nacht, wenn die Welt sich verdunkelt und die Finsternis sich um mich schließt. Wenn die Schatten länger und bedrohlicher werden. Die Nacht ist die Zeit der Anfechtung. Lass diesen Kelch an mir vorübergehen, ich bitte dich. Die Nacht ist die Zeit der Sehnsucht und des Verlangens. Die Zeit des Alleinseins. Martin erleidet sie in seiner Zelle. Er zermürbt und erforscht sich. Wo habe ich die Gebote übertreten, mein Herz nicht an Gott gehängt? Susanne findet nachts keine Ruhe, weil ihre verlorene Liebe sich immer wieder in ihre Gedanken schiebt.

Martin sucht Trost in den Psalmen. Psalm 130 ist der sechste der sieben kirchlichen Bußpsalmen. Aus der Tiefe rufe ich zu dir. Herr, höre meine Stimme. Und Martin spürt: Wohl dem, dessen Klage eine Adresse hat. Wohl dem, dessen Rufen ein Ohr findet. Wohl dem, der in der Nacht der Anfechtung Worte findet, mit denen er sich ausdrücken kann. Meine Seele wartet auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen. Die Nachtwächter warten auf den Morgen und wissen um die Gefahren der Nacht, wissen aber ebenso, dass die Nacht zum Leben hinzugehört. Nach langem Ringen erkennt Martin: Auch zum Leben und zum Glauben gehört die Nacht dazu. Wir können den Tag nicht ohne die Nacht, den Glauben nicht ohne die Anfechtung haben. Auch Susanne ahnt: Wir können die Liebe nicht ohne den Zweifel haben. Er gehört dazu, und wir müssen ihn aushalten.

 

Wann wird es wieder hell in meinem Leben?, fragt die Anfechtung in der Nacht. Mehr als die Wächter auf den Morgen warte Israel auf den Herrn. Sei gewiss: Die Nacht wird ein Ende haben. Israel bildet die Chiffre für Gottes Volk. Wie Jakob, der mit Gott kämpfte und den Namen Israel erhielt, ist ein Mensch, der mit Gott ringt und auf Gott wartet. Jeder Mensch, der sich Gott anvertraut und auf ihn wartet, erhält wie Jakob den Namen Israel. Jeder von uns: wie Jakob hinkend und glaubend. Einer, der die Nacht ertragen und ausgehalten hat. Einer, dem die Verheißung Israels gilt: Ich will dich segnen und mit dir sein.

 

  1. Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade;

Sein Hand zu helfen hat kein Ziel wie groß auch sei der Schade.

Er ist allein der gute Hirt, der Israel erlösen wird aus seinen Sünden allen.

 

Am Ende seines Lebens schreibt Martin, wie ihm zumute war, als er das Evangelium Gott in Jesus Christus für sich entdeckt und verstanden hat: „Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten.“ Vor der geschlossenen Tür stehen ist schrecklich. Es ist die Erfahrung tiefer Not. Wenn sich die Tür irgendwann auftut, ist es ein Weg in die Weite. Wie groß das Elend, die Not auch ist, wir haben einen Helfer, einen Hirten, der uns durch die Tür führt und begleitet.

Martin erschließt sich Gottes Gnade im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Halte dich an Christus und sein Kreuz, hatte ihm sein Beichtvater Johann Staupitz, immer wieder gesagt. Wo du Christus siehst, siehst du Gott. Seine Gnade, seine Liebe, seine Barmherzigkeit. Wie er mit uns Menschen umgeht. Nicht weil wir groß sind oder reich oder uns so viel um andere oder um Gott verdient gemacht haben, sondern weil er uns liebt. Ein glühender Backofen voller Liebe ist Gott. Und das siehst du an Jesus Christus. Er ist der Spiegel des väterlichen Herzens.

Martin erkennt: Christus ist geworden wie einer von uns. Er hat sich klein gemacht und sich in eine Krippe legen lassen. Er hat mit uns den Platz getauscht. Er wird ein Knecht und ich ein Herr. Er hat ausgehalten, was ich aushalten muss. Die Nacht. Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Er hat die Angst, die Not, die Tiefe ausgehalten und Gott die Treue gehalten. Mit seiner Auferstehung geht die Geschichte Gottes weiter. Heut schließt er wieder auf die Tür und führt mich in die Weite. Dich und mich. Denn ich bin auf seinen Namen getauft. Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein.

Martin Luther hat sein Lied 1523 gedichtet. Es ist schnell verbreitet worden, Menschen haben es auf Flugblätter gedruckt und auf den Plätzen und Straßen gesungen. Es hat viele getröstet. Vielleicht, weil das Lied daran erinnert: An der tiefen Not kommt niemand von uns vorbei. Sie gehört zum Leben dazu. Die Not, die wir selbst zu verantworten haben und die Not, die andere uns zumuten. Aber wir haben einen, der uns in diese Not begleitet und durch die Not in die Weite führt, ins Leben. Martin Luther nannte das die Freiheit eines Christenmenschen. Amen.

 



Pfarrerin Prof. Dr. Sibylle Rolf
Heidelberg
E-Mail: Sibylle Rolf sibylle.rolf@wts.uni-heidelberg.de

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