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ISSN 2195-3171

Katastrophen, 2019

Freiheit nach dem Anschlag in Haale und 30 Jahre friedliche Revolution , verfasst von Uland Spahlinger

Predigt, gehalten am 16. Oktober 2019 von Dekan Uland Spahlinger

Jesaja 61, 1-6a 

1 Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu ver­binden, zu verkündigen den Gefangenen die Frei­heit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen;

2 zu verkündigen ein gnädiges Jahr des HERRN und einen Tag der Vergeltung unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden,

3 zu schaffen den Trauernden zu Zion, dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauerkleid, Lobge­sang statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden »Bäume der Gerechtigkeit«, »Pflan­zung des HERRN«, ihm zum Preise.

4 Sie werden die alten Trümmer wiederaufbauen und, was vorzeiten zerstört worden ist, wiederaufrichten; sie werden die verwüsteten Städte erneuern, die von Ge­schlecht zu Geschlecht zerstört gelegen haben.

5 Fremde werden hintreten und eure Herden weiden, und Ausländer werden eure Ackerleute und Wein­gärtner sein.

6 Ihr aber sollt Priester des HERRN heißen, und man wird euch Diener unsres Gottes nennen.

 

Liebe Gemeinde,

es ist ein uraltes Thema, vielleicht das Sehnsuchtsthema der Menschheit überhaupt – und gleichzeitig eine der anspruchsvollsten Aufgaben, die uns aufgegeben sind, noch dazu niemals fertig: die Freiheit.

 

Gerade in diesen Tagen erinnern wir landauf, landab an die friedliche Revolution in Deutschland vor 30 Jah­ren, an die große Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989, die dann, einen Monat später, zum Fall der Mauer führte. Wir können die Bilder von den aufgesetzten 40-Jahres-Feierlichkeiten des vertrockne­ten DDR-Herrschaftsapparates noch einmal verfolgen, die Berichte hören: wie der Mut zum Protest die Angst vor Repres­sionen überwand. „Wir sind das Volk“ - das war ein Aufschrei; hier entlud sich, friedlich, aber unüberhörbar der aufgestaute Hunger nach Selbstbestimmung, nach Wahlmöglichkeiten im politi­schen wie im privaten Leben. (Und perfide ist, dass und von wem dieser Ruf heute missbraucht wird.)

 

Es ist kein Zufall – davon bin ich überzeugt -, dass nach insgesamt 56 Jahren NS- und SED-Diktatur sich aus­gerechnet in evangelischen Kirchen diejenigen fanden, die es anders haben wollten als es die vermeintliche normative Kraft des Faktischen es vorzugeben schien: Nein, es muss nicht alles so bleiben wie es war, nur weil sich Mächtige das so vorstellen, die überdies ihre Macht mit aller Gewalt, mit Einschüchterung, Folter, ja der Inhaftnahme des ganzen Volkes aufrechterhalten wollten. Sie scheiterten.

Sie scheiterten unter anderem an dem Glauben und der Vision, dass es auch anders gehen könnte als so, wie es jeden Tag behauptet wurde. Gedanken wie die aus der Bergpredigt, in der die geistlich Armen, die Leidtragenden, die nach Gerechtigkeit Hungrigen und die Friedfertigen selig, also glücklich genannt werden. Oder Gedanken wie die aus dem Jesajabuch, von den Schwertern, die zu Pflugscharen um geschmiedet wer­den, oder der, den wir eben gehört haben: „Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich ge­salbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen“.

 

Es sind Visionen, die eine Gegenwelt auf­scheinen lassen. Visionen, die alles Unrecht, alle Knechtschaft, alle Unterdrückung ins Licht rücken und als das erkennbar machen, was sie sind: nämlich Unrecht, Knechtschaft und Unterdrückung. In den Kirchen in der verlöschenden DDR fanden sie ihren Raum.

 

Man kann an den Kirchen viel Kritik üben, berechtigte Kritik. Man kann ihnen Hierarchien, autoritären Füh­rungsstil, Machtmissbrauch, Ungleichbehandlung von Männern und Frauen und gewalttätige Strukturen und Situationen - und Menschen, unter denen Menschen aufs Schlimmste zu leiden hatten und haben. Das alles hat es gegeben und gibt es bis heute – Gott sei es geklagt und der strengen Aufarbeitung dringend empfohlen.

 

Durch den Willen Gottes, der in der Bibel bezeugt ist, wird das nicht gedeckt. Gottes Absicht ist die Verwirklichung der guten, der sehr guten Schöpfung, in der die Menschen als Gottes Ebenbild und Gegenüber eines erreichen soll: das Glück – den Segen des Lebens als Befreite. Heraus aus den Lehmgruben der ägyptischen Zwangsherren. Gebunden nur an ihn, der in die Freiheit führt. Gebunden nicht durch die Peitsche der Sklaventreiber, sondern durch einen gegenseitig gültigen Vertrag.

 

Freiheit ist anstrengend. Sie fordert unsere tägliche Aufmerksamkeit. Das mussten die Israeliten lernen: Freiheit heißt nicht nur „raus aus der Gefangenschaft“, Freiheit will auch gestaltet und geregelt sein. Freiheit muss von dir genauso geachtet und bewahrt werden wie von mir. Freiheit ist niemals bindungslos; wer für sich „absolute, unbeschränkte Freiheit“ in Anspruch nimmt, meint in Wirklichkeit nicht Freiheit, sondern Rücksichtslosigkeit.

Freiheit heißt: wir begegnen uns auf Augenhöhe. Mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten. Wir können uns nur so begegnen, denn zum einen funktioniert es anders nicht, zum anderen werden wir nur so unserer Position als gleich wertvolle Kinder Gottes, als – altmodisches Wort – Schwestern und Brüdern vor Gott – gerecht.

 

Und deshalb, immer und immer wieder, ruft Gott in die Freiheit, wenn Unfreiheit herrscht, und er gibt vor, woran sich die Freiheit vor ihm orientieren soll: an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Das ist der Kehrvers, das ist das Ostinato Gottes. Die immer wiederkehrende Grundmelodie. Gnadenlose Machtausübung ist mit Gott nicht zu haben. Sie ist mit Gottes Willen nicht vereinbar.

 

Dessen vergewisserten sich damals zuerst die Christen in der DDR, in den Gemeinden, die sowieso von den Mächtigen kritisch beäugt wurden, weil sich in ihnen ein hohes Maß an Unabhängigkeit bewahrt hatte.

 

Ich bin davon überzeugt: Diese Unabhängigkeit, die Zivilcourage freisetzte, nahm andere mit, die vielleicht allein nicht den Mut gehabt hätten, für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen. Freiheit braucht die Unterstüt­zung vieler. Wir sollten das nicht vergessen, niemals.

 

Und gerade in unseren Tagen können wir sehen, wie schwer es die Freiheit hat. Die Freiheit, die sich selbst be­schränkt und dem anderen das Gleiche zuerkennt, das man für sich selbst in Anspruch nimmt. "Die Frei­heit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt." so hat es einmal ein kluger Mensch, nämlich Immanuel Kant (1724-1804), gesagt. Freiheit ist also kein absoluter Begriff, sondern ein Beziehungsbegriff: Meine und deine Freiheit sind nicht voneinander getrennt, sondern auf einander bezogen. Letztlich kann keiner frei leben, solange irgendein anderer in seiner Freiheit behindert wird, weil dadurch die Freiheit als Ganze – und damit auch deine eigene – bedroht ist.

 

Wir haben das in der vergangenen Woche auf schreckliche Weise erlebt: als ein Mensch in gewalttätigem Antisemitismus und Fremdenhass einen Anschlag auf eine Synagoge in Halle unternahm, am höchsten jüdi­schen Feiertag, Jom Kippur, dem Versöhnungsfest. Er konnte mit vielen Menschen in dem Gotteshaus rech­nen. Dass es nicht zu einem Blutbad kam, kostete zwei Passanten, zwei unbeteiligt in der Nähe Befindliche, das Leben. Gegen die Freiheit der Religionsausübung und die geschützte Pluralität, gegen die im Grundge­setz verankerte Würde jedes Menschen setzte der Attentäter seine Ideologie von denen, die leben dürfen, und denen, die nicht leben sollen. Und er ist nicht allein. Nicht in unserem Land. Nicht auf der Welt. Gerade in Deutschland, wo der Faschismus schon einmal dazu brachte, millionenfach Menschen als vermeintliche Untermenschen, als nicht lebenswertes Leben zu stigmatisieren und umzubringen, gerade hier bei uns kann die Lektion nur heißen: wir dürfen das nicht zulassen.

 

Wir dürfen nicht zulassen, dass relativiert, verniedlicht, verschleiert und verharmlost wird, etwa mit der Sage vom Einzeltäter. Es gibt keine Einzeltäter. Sie alle haben Vorbilder, sie alle haben Gesinnungsgenossen. Sie alle können Waffen und Ausrüstung kaufen bei skrupel- und gesetzlosen Händlern. Und sie greifen unse­re Freiheit an. Das darf uns als Bürgerinnen und Bürgern nicht egal sein. Und als Christen schon gleich gar nicht – weil die Freiheit, die Gott uns zuwendet, sein Vermächtnis an uns ist.

 

„Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen;“ ruft der Prophet dem gedemütigten und mutlosen Volk zu.

 

Es ist kein Zufall, dass Jesus das Wort Jesajas fast wörtlich aufnimmt, als er am Anfang seines Weges seinen Nachbarn in Nazareth Gottes Wort auslegt und dabei, fast nebenbei, seinen eigenen Auftrag umreißt. Da klingt es ganz ähnlich, aber doch etwas anders:

16 Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Syn­agoge und stand auf und wollte lesen.

17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jesaja 61,1-2):

18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen,

19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«

20 Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.

21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.

 

Diese Szene legt der Evangelist Lukas seinen Lesern ans Herz. Das ist der Auftrag, den Jesus übernommen hat. Das ist der Auftrag, der auf die Jünger, auf die Freunde Jesu übergegangen ist. Freiheit, die ihren Ausgang bei Gott nimmt. Freiheit, die Ausgegrenzte in die Mitte der Gemeinschaft zurückholt. Freiheit, die Sündern eine zweite Chance gibt. Freiheit, die Konflikte friedlich zu lösen vermag. Freiheit, die Grenzen über­windet. Freiheit, die Menschen rettet und aufrichtet.

 

Diese Freiheit ist ein Kennzeichen des Reiches Gottes, von dem Jesus sagt, dass es unter uns angebrochen ist. Große Verheißung – wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit, sagt Paulus. Da leuchtet sie auf. Und sie ist, da­von lasse ich mich nicht mehr abbringen – sie ist Erkennungsmerkmal von Gott unter uns. Vielleicht müssen es nicht einmal Christen sein, die die Freiheit zu ihrer Sache machen – Gott hat viele Wege unter uns zu wirken.

 

Aber es wird darauf ankommen, wie sehr wir uns zu Mit­streitern für die Freiheit rufen lassen – zu gewalt­freien, friedlichen Mitstreitern für die Freiheit bei uns, da wo wir eben sind. Es wird darauf ankommen, ob wir den Mut haben, fremdenfeindlichen Parolen zu widersprechen und sie nicht als peinliche Ausrutscher stehen zu lassen. Denn fremdenfeindliche Parolen sind nicht peinlich, sondern fremdenfeindlich. Und sie bereiten den Nährboden für fremdenfeindliche Aktionen. Der Weg vom Gedanken über das Wort zur Tat ist anscheinend nicht weit.

 

Es sind ernste Zeiten, liebe Gemeinde. Manchmal fällt es mir schwer, unbeschwert zu feiern und mich unbe­schwert der Freiheit zu freuen, die Gott uns zuspricht. Manchmal sind es Trauer und Sorge, die groß sind. Aber ich möchte sie nicht aus meinem Herzen und aus meinem Verstand vertreiben lassen, die Freiheit der Kinder Gottes.

 

Und deshalb möchte ich Ihnen ans Herzlegen:  Seien wir aufmerksam und verteidigen wir die Freiheit, der wir uns selbst verdanken und der wir viel verdanken. Sie ist Gottes Geschenk und Gottes Vermächtnis an uns.

Amen.

 



Dekan Uland Spahlinger
Dinkelsbühl, Deutschland
E-Mail: uland.spahlinger@elkb.de

Zusätzliche Medien:
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Bemerkung:
30 Jahre friedliche Revolution und nach dem Anschlag in Haale zu Jesaja 61, 1-6a


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