Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Göttinger Predigten im Internet, 2007


Zielgerichtete Erinnerung, verfasst von Stefan Knobloch

Eingangsfragen

Ist das zehnjährige Bestehen der Göttinger Internet-Predigten ein Anlass, über die entscheidenden Impulse nachzudenken, die damals zur Initiative des Internetauftritts führten? Sich der Männer und Frauen zu erinnern, die die Träger der Initiative waren und es bis heute sind? Ohne Frage war es verdienstvoll und ist es bis heute verdienstvoll, den Schritt ins elektronische Medium gewagt zu haben und der - darf man so sagen? - Glaubensverkündigung ein gesellschaftliches Forum zu eröffnen, das man im innerkirchlichen Raum nie erreicht hätte.

 

Besteht also Grund, sich des damaligen mutigen Schrittes dankbar zu erinnern? Ein Bedenken will aufkommen: Laufen wir nicht Gefahr, uns mit solcher Erinnerung an den Anfang vor zehn Jahren in die heute Mode gewordene Erinnerungssucht einzureihen, die gerne Feiern auf die Beine stellt, sobald eine Initiative zehn oder zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt geworden ist? Steht da nicht rasch die eigene Leistung im Vordergrund der Erinnerung? Sollten wir dann aber noch meinen, dies unbedenklich unter dem Label der „Glaubensverkündigung" verkaufen zu dürfen?

 

Wir merken wohl schnell, dass wir da auf dem Holzweg wären, auf dem Holzweg einer Erinnerungslastigkeit, die letztlich selbstbezogen und rückwärtsgewandt denkt, die sich selbst feierte und der dies ausreichte. Dieser Gefahr wollen wir uns nicht aussetzen, wenn wir ernsthaft das Ziel anstreben, dass es die Göttinger Internet-Predigten auch in zehn Jahren noch geben möge.

 

Dem Anlass angemessen halte ich es, über das Verständnis des Erinnerns und der Erinnerung nachzudenken, das uns aus der Tradition der Bibel entgegenkommt. Auf diese Weise steuern wir eventuell einer heute verbreiteten selbstgefälligen Erinnerungskultur gegen, die sich nicht selten als „Erinnerungsunkultur" entlarvt.

 

Gottes ereignishaftes Erinnern

Erinnern, Erinnerung ist ein zentraler biblischer Begriff. Schon im Alten Testament lesen wir wiederholt, dass sich Gott des Menschen, vor allem seines Volkes, erinnert. Er erinnert sich des Bundes mit Noah, Abraham, Isaak und Jakob. Er erinnert sich der Not des Volkes in Ägypten und führt es mit starker Hand durch Mose heraus. Gottes Erinnerung ist eine ereignishafte, eine Fakten setzende Erinnerung. Und daran sollen sich die Menschen, soll sich das Volk erinnern.

 

Die heilsgeschichtlichen Fakten - wir könnten auch sagen -, die Fakten, die das Volk damals als Heilsfakten Gottes deutete, gingen strukturbildend in das kollektive Bewusstsein der Menschen damals ein. Ihm verdankten sich die großen religiösen Feste des Jahres, allen voran das Paschafest, das Fest des Vorübergangs des Herrn und der Rettung aus der ägyptischen Knechtschaft.

 

Allerdings fiel es den Menschen nicht immer leicht, diesen Duktus der dankbaren Erinnerung an Gottes Heilstaten durchzuhalten. Wie wir im Buch Numeri lesen, gab es schon während des Fluchtweges ins verheißene Land andere Erinnerungsweisen, in denen das Volk nicht der Heilstaten Gottes gedachte, sondern sich aufmüpfig und begierlich der Fleischtöpfe Ägyptens erinnerte. So uralt und urmenschlich ist jederzeit die Gefährdung des Menschen, Erinnerungen um sich selbst und um die eigenen Bedürfnisse kreisen zu lassen, statt ihren Fluchtpunkt in Gott zu verlagern. „Wir denken", so lesen wir im Buch Numeri, „an die Fische, die wir in Ägypten umsonst zu essen bekamen, an die Gurken und Melonen, an den Lauch, an die Zwiebeln und an den Knoblauch." Einem Bioherzen muss da der Puls höher schlagen! „Doch jetzt vertrocknet uns die Kehle, nichts bekommen wir zu sehen als immer nur Manna" (Num 11,5).

 

Auch solche Erinnerung ist also in der Bibel bezeugt, aber nicht, damit wir uns an ihr als Vorbild ausrichten. Nein, eindeutig dominant ist die Aufforderung, sich Gottes Heilstaten, seiner Nähe, seiner Verlässlichkeit, seiner Vergebungsbereitschaft zu erinnern.

 

Nicht anders im Neuen Testament

Auch im Neuen Testament begegnet das Erinnern, die Erinnerung in zentralen Zusammenhängen. Nicht nur in Gestalt der beschämenden Einsicht in das eigene, nicht für möglich gehaltene große Versagen, wie bei Simon Petrus, der sich beim Krähen des Hahnes des Herrenwortes erinnert. Wichtiger ist die Erinnerung, die bei den Jüngern nach der Auferstehung des Herrn an seine Worte einsetzt. Sie beginnen sie im Licht seiner Auferstehung erst zu verstehen. Sie verstanden sich erinnernd, dass Jesus vom eigenen Leib gesprochen hatte, als er davon sprach, dass er den Tempel in drei Tagen wieder aufrichten werde. „Als er von den Toten auferstanden war, erinnerten sich seine Jünger, dass er das gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte" (Joh 2,22). Ebenso wenig hatten sie wohl die Inszenierung seines Einzugs in Jerusalem auf einem Fohlen verstanden. Das klärte sich für sie nach seiner Verherrlichung.

 

Nicht nur verstandesmäßige Einsichten

Das alles waren dabei keine rein verstandesmäßigen Einsichten, die für ihr reales Leben folgenlos geblieben wären. Es waren keine Erinnerungsvorgänge, die lediglich zu einer im Geiste eingeholten und irgendwie wieder wachgewordenen Erinnerung geführt hatten. Punctum. So war es nicht. Und so ist es ja auch nicht nach allen unseren Erfahrungen, die wir mit Erinnerungen gemach haben. Erinnerungen bewegen uns, sie führen zu Veränderungen, sie wirken sich auf das praktische Leben aus. Darum weiß besonders die Psychologie, zumal die Tiefenpsychologie, die verdeckte, verdrängte Erinnerungen wachzurufen versucht, um so psychische Blockaden im Menschen zu lösen und ihm neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Ebenso ist nach biblischem Verständnis das Erinnern des Menschen an Gott, an Jesus, nicht bloß ein mentaler Vorgang, der bei sich selbst endete. Es ist ein Erinnern, zumal wenn es vom Geist Gottes angeregt und ausgelöst ist, das als Geschenk Gottes das stumpfe, enge und ängstliche Leben eines Menschen neu bewegt und befreit.

 

„Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe" (Joh 14,26). Das spricht einen bedeutsamen Zusammenhang an, den auch die Offenbarungskonstitution Dei verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils neu ins Bewusstsein gehoben hat: Sie sagt in Artikel 8, die apostolische Überlieferung kenne in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: es wachse das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte..., „denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte unter der Führung des Heiligen Geistes der Fülle der Wahrheit entgegen"(Dei verbum 8). Die Kirchen - in welchen konfessionellen Ausformungen auch immer - streben unter der Führung des Heiligen Geistes der Fülle der Wahrheit entgegen. Sie sind noch nicht am Ziel. Sie bedürfen alle der immer wieder vom Heiligen Geist angeleiteten Erinnerung.

 

Eine menschlich mitgestaltete Erinnerung

Wenn wir diese Erinnerung als eine vom Heiligen Geist angeleitete Erinnerung deuten, heißt das aber nicht, sie sei eine rein passive, uns zur Gänze geschenkte Erinnerung, an der wir nicht aktiv beteiligt wären. Sie verdankt sich- wenn wir so sagen dürfen - einem Impuls des Heiligen Geistes, der unter den konkreten individuellen wie gesellschaftsstrukturellen Bedingungen unsere Einsichtsfähigkeit in Gottes Offenbarung in Gang bringen will. Es handelt sich also - wie wir dafür sagen können - um ein hermeneutisches Verstehen, um ein Verstehen, das sich aus dem Fundus aller Einflüsse, die auf unser Leben einwirken, speist. Thomas von Aquin hat das in einer These so formuliert: Was einer aufnimmt und rezipiert, nimmt er auf und rezipiert er jeweils im Modus und im Maße seiner Aufnahmefähigkeit. Und diese Aufnahmefähigkeit müssen wir pflegen.

 

Es geht also nicht darum, das Wort Gottes, wie es uns in der Bibel entgegenkommt, schlicht und ohne eigenes Nach-Denken anzunehmen, gewissermaßen nach dem Motto: „Vogel, friss oder stirb". Es geht um unsere aktive Befassung, um unsere aktive Beschäftigung mit der Heiligen Schrift und der Tradition, und zwar unter den Bedingungen unserer Zeit. Dazu ermuntert uns der zweite Petrusbrief. Dort schreibt der Autor: „Das ist schon der zweite Brief, den ich euch schreibe, liebe Brüder (und Schwestern). In beiden will ich eure klare Einsicht wachrufen und euch erinnern" (2 Petr 3,1). Genauer sollte es eigentlich heißen: Ich will, dass ihr im Prozess eures Erinnerns euer eigenes Denkvermögen einsetzt. Mit anderen Worten: Arbeitet euch mit eurem Denkvermögen an das heran, woran euch der Heilige Geist erinnert. Im Ergebnis soll das wieder nicht nur zu einem bloßen Gedankenresultat führen, sondern zu einem veränderten, an Gott und seiner Botschaft ausgerichteten Leben.

 

Das Abendmahl als dichteste Erinnerung

Ist hierbei schon der Heilige Geist die führende Kraft, so verdichtet sich das noch in jener einzigartigen Form der Erinnerung, die wir in der Memoria der Abendmahlshandlung begehen. Nicht aufgrund unserer eigenen memorativen Kraft der Erinnerung - so wie wir uns intensiv an einen Menschen erinnern können, der vielleicht schon lange nicht mehr lebt -, nicht also aufgrund unserer eigenen memorativen Kraft der Erinnerung, als hätten wir die Kraft der Beschwörung, sondern aufgrund der vom Geist Jesu durchwirkten Anamnese, deren Subjekt Jesus selbst ist, feiern wir seine sich in der erinnernden Handlung vollziehende Gegenwart. „Tut dies zu meinem Gedächtnis." Das heißt nicht: Denkt an mein Abendmahl, denkt euch hinein, so intensiv ihr nur könnt. Sondern: Tut es, vollzieht es in einer von mir durchwirkten dieses Mahl gegenwärtig setzenden Handlung.

 

Die umfassende Wirkung dieser Erinnerung

Es ist eine Erinnerung, die sich, so sehr sie sich auf Zurückliegendes bezieht, dieses Zurückliegende gegenwärtig setzt und über die Gegenwart hinaus Kommendes vorausnimmt.

 

Auf die Vielfalt der biblischen Erinnerungsaspekte sollten wir unser Leben einjustieren. Dann nämlich erfassen wir, auf welchen übergreifenden Horizont unsere menschliche Erinnerung grundsätzlich und immer schon bezogen ist. Wir kultivieren die „Erinnerungskultur" gewissermaßen auf einer Schwundstufe, solange wir in ihr immer nur uns selbst bzw. den Leistungen unserer Vorfahren begegnen. Daneben könnte es sogar sein, dass wir über solch rückwärts gewandten Inszenierungen die heute anstehenden individuellen, gesellschaftlichen wie auch kirchlichen Herausforderungen aus dem Auge verlieren. Dann aber wären wir in den Fängen einer Unkultur gelandet.

 

Die Orientierung also am Grundduktus der biblischen Erinnerungskultur, die mit innerer Logik zum Kultus führt, täte unserem Leben gut. Unser Leben bekäme Schwung. Es bekäme Flügel, die Flügel - mit Verlaub gesagt - des Heiligen Geistes. Dieses Profil der Erinnerung im Gespräch zu halten, es immer wieder unter den Menschen ins Gespräch zu bringen - möge es dem Internetauftritt der Göttinger Predigten in den nächsten Jahren mit Erfolg beschieden sein.

Dr. Stefan Knobloch
Mainz
E-Mail: dr.stefan.knobloch@t-online.de

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