Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Göttinger Predigten im Internet, 2007

Anfang und Anfänge, Matthäus 4:14-25, verfasst von Gottfried Brakemeier

Liebe Gemeinde!

 

Die Geburt eines neuen Sterns geschieht in kosmischem Dunkel. So hieß es kürzlich in einer Sendung über die Wunder des Weltalls. Der Weg von einem Klumpen verdichteter Materie bis zu einer strahlenden Sonne ist weit und lang. Die Anfänge sind im wahrsten Sinne des Wortes unscheinbar. In gewisser Weise trifft das auf alle Anfänge zu. Meistens geschehen sie in der Stille, im Verborgenen. Noch weiß man nicht, was daraus wird. Anfänge sind besonderer Gefährdung ausgesetzt. Eine kleine Pflanze ist wehrlos und empfindlich, sie hat noch keine Wiederstandkraft eintwickelt. So auch der Mensch. Er kommt als zerbrechliches Wesen auf die Welt und braucht in den ersten Jahren seines Lebens besonderen Schutz. Die Verwundbarkeit des Anfangs ist sogar sprichwörtlich geworden. „Wehret den Anfängen" heißt es, wenn es darum geht, eine verhängnisvolle Entwicklung wirksam zu unterbinden. Und: „Jeder Anfang ist schwer!" Denn die zu bewältigenden Schwierigkeiten sind groß. Natürlich gibt es auch jene Anfänge, die mit großem Trara eingeleitet werden. Aber sie stehen unter Verdacht, eine Seifenblase zu sein. Normalerweise sind Anfänge bescheiden.

 

Die Göttinger Predigten Online feiern am 31. Oktober dieses Jahres ihren 10. Geburtstag. Das ist noch nicht viel. Immerhin haben sie die kritische Phase allen Anfangs hinter sich und sind zu einer gut besuchten Institution geworden. Das ist Grund zu Dank und Freude. Wir hoffen, dass der Initiative eine lange Lebensdauer beschieden ist und weiterhin vielen Menschen Inspiration zu bewußtem Glauben und Handeln vermittelt. Der Jahrestag soll Anlass sein, einmal ausführlicher über den Anfang nachzudenken, nicht so sehr den der Göttinger Predigten, sondern den des christlichen Glaubens überhaupt. Denn erst von ihm erhält unsere Predigtpraxis Sinn. Auch die Kirche hat ihren Anfang. Sie begann damals vor etwa zwei tausend Jahren auf dem Gebiet des heutigen Israel und Palästina und breitete sich von dort über den Globus aus. Wieso kam es eigentlich zur Entstehung des Christentums?

 

Nach den Anfängen zu fragen ist wichtig. Denn in ihnen steckt die Wurzel, die das Ganze trägt. Hier sind die genetischen Würfel gefallen, die für die spätere Identität entscheidend sind. Wer fragt, was das Christentum ist, muss von Jesus von Nazareth reden und von der Gemeinde, die sich um ihn geschart hat. Sie hat von ihm ein Evangelium gelernt, das für die Menschheit eine Heilsbotschaft bedeutet. Ist die Christenheit ihres Anfangs in der rechten Weise bewusst? Klarheit über den Anfang zu haben, ist für das Selbstbewusstsein wichtig. Wo kommen wir her? Aus der Psychologie wissen wir um die Bedeutung von Vater- und Mutterschaft für die gesunde Entwicklung eines Menschen. Nichts ist schlimmer, als den Makel eines dubiosen Herkommens mit sich herum schleppen zu müssen. Umgekehrt gibt es auch den Stolz auf den adeligen Stammbaum. Ich erinnere daran, um auf das Gewicht hinzuweisen, das unseren Eltern zukommt, das heißt, unserer Herkunft, unserem Anfang. Auch dem Christentum geht es so. Es muss wissen, wo seine Wurzeln liegen, warum und zu welchem Zeck es da ist und wer es gewollt hat. Jedes Volk, jede Religion, jeder Mensch braucht seine „Gründungsgeschichte", seine Ätiologie.

 

Wir können die Frage nur anschneiden. Sie ausgiebigst zu behandeln, dazu fehlen hier die Möglichkeiten. Aber es ist schon wichtig, das Nachdenken anzustoßen. Und dafür eignet sich der ausgewählte Predigttext in hervorragender Weise. Es kann sein, dass er Manchen ausgesprochen blass erscheint. Was wird da schon wichtiges gesagt? Er enthält allgemeine Bemerkungen, zu einem guten Teil das, was man in der exegetischen Wissenschaft ein Summarium nennt, also eine zusammenfassende Beschreibung der Tätigkeit Jesu. Es heißt, dass Jesus am Galiläischen Meer entlang ging, dass er Buße forderte angesichts des nahe herbeigekommenen Gottesreiches, dass er einige Jünger in seine Nachfolge berief und dass er Kranke heilte. Das alles passt in den Rahmen damaliger jüdischer Normalität. Vom nahen Gottesreich hat auch Johannes der Täufer gesprochen, Krankenheiler gab es auch sonst und dass ein jüdischer Lehrer junge Leute einlud, als Schüler mit ihm herumzuziehen, war ebenfalls nichts Besonderes. Alles unscheinbar, normal, ja fast unbedeutend. Der Anfang des christlichen Glaubens geschah ohne großes Aufsehen. Jesus von Nazareth gehört zunächst einmal in den Alttag der Menschen, die damals in Galiläa lebten unter der Herrschaft des Herodes oder auch in Jerusalem, wo die Römer das Sagen hatten.

 

Aber wenn das alles wäre, bliebe die Entstehung einer Gemeinde, die an den Nazarener glaubten, ein Rätsel. Vielleicht deutet sich das Besondere an der Gestalt Jesus in diesem Text dadurch an, dass er großen Zulauf hatte, obwohl der Erfolg als solcher nie als Wahrheitskriterium gelten kann. Aber irgend etwas war anders an diesem Menschen. Die Evangelisten sprechen ansonsten von der Autorität, mit der dieser Prediger lehrte und von der Kraft, die von seinen Worten ausging. In diesem Text scheint mir „Evangelium" das entscheidende Wort zu sein. Jesus predigte das Evangelium vom Reich und heilte alle Gebrechen im Volk, so heißt es. Evangelium, das meint eine gute Nachricht! Das meint Hilfe, Zuwendung, Heil und unterscheidet sich damit von den vielfachen Drohungen, denen sich die Menschen damals und heute ausgesetzt sahen und sehen. Natürlich gab es auch vor Jesus Evangelium. Die Botschaft von der Liebe Gottes ist nicht seine Erfindung. Aber niemand hat sie wohl so konsequent gelebt und so konkret den Menschen zu vermitteln gewusst, wie dieser Jesus von Nazareth. Er nimmt ihnen die Angst, die Angst vor Gott, die Angst vor der Zukunft, die Angst, nichts zu gelten, nichts zu sein. Er will Busse, ja. Aber er begründet sie nicht mit dem Strafgericht Gottes, sondern mit dem Heil, dass Gott den Menschen zugedacht hat. Jesus heilt im umfassendsten Sinn und nimmt die Menschen auf auf in die Wärme de Glaubens.

 

Aus den bescheidenen Anfängen am See Genezareth sollte eine mächtige Bewegung werden, so mächtig, dass die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft Jesus für untragbar hielten. Jesus wurde verfolgt und ans Kreuz geschlagen. Aber anstatt die Bewegung zu ersticken, brachte dieses Geschick die Bewegung erst recht zur Entfaltung. Die Ostererfahrungen überzeugten die Anhänger Jesu, dass ihr Meister nicht gescheitert war. Im Gegenteil, sein Tod wurde zum Zeichen seiner hingebenden Liebe und damit eines Neuanfangs. Der stand nun im Zeichen Jesus Christi, also des Glaubens an die Messianität des Jesus von Nazareth. Durch ihn hatte Gott zum Heil der Menschheit gehandelt. Er wurde zum Grund der Kirche. Natürlich kann man in Jesus zunächst und vor allem einen Reformator entdecken, der Israel erneuern wollte. Und doch sprengt er den Rahmen des Herkömmlichen. Es ging Jesus nicht um Rückkehr zu den alten und bewährten Traditionen, sondern um Aufbruch zu einem neuen Handeln Gottes, das er in der nahenden Gottesherrschaft sah. Die Entstehung des christlichen Glaubens wäre unverständlich ohne jene Neuheit, durch die Jesus von Nazareth sein Volk und die Menschheit überraschte.

 

Es ist wahr, dass das Werden des Glaubens an Jesus als den Christus seine Zeit brauchte, so wie die Entstehung einer Sonne im Universum. Er war nicht von Anfang an fertig vorhanden. Weitere Erfahrungen waren erforderlich, die über das, was in unserem Text steht, hinausgehen. Die Jünger, die er in seine Nachfolge berief, mussten seine Lehre begreifen, seine therapeutischen Fähigkeiten einordnen, sie mussten vor allem ihn selbst verstehen lernen. Wer war dieser Mensch? Reichte es, ihn einen Propheten zu nennen? Nach einer dramatischen Lernphase kamen sie zu dem Schluss, dass dies absolut unzureichend sei. In Jesus, so ihre Meinung, hat Gott selbst die Welt besucht. Im Johannesevangelium heißt das bekanntlich so: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahin gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben."

 

Der heutige Text muss also im Gesamtzusammenhang der Geschichte Jesu gelesen werden. Und doch kündigt sich das Neue schon im Begriff des „Evangeliums vom Reich" an, von dem hier die Rede ist. Der Anfang enthält den Samen des Späteren. Ist damit die Liebe Gottes gemeint, die sich der leidenden Kreatur zuwendet und sie von ihren Ängsten befreit zu einem neuen Vertrauen und zu neuem Lebensmut, dann beginnt hier mit der Gefolgschaft Jesu, das heißt mit dem Volk, das ihm nachläuft, und mit den Jüngern, die ihre Netze ins Meer warfen, um sich diesem Meister anzuvertrauen, die Geschichte der Kirche. Sie wird eine Gemeinde aus Juden und Heiden, aus allen Völkern der Erde sein, weil nichts anderes mehr zählt, als die unverdiente Barmherzigkeit Gottes. Gewiss wird sie die Menschen in die Pflicht nehmen, denn Barmherzigkeit will mit Barmherzigkeit beantwortet werden. In Zukunft ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes, so wie Jesus es selber formuliert hat. Wenn das wahr ist, dann haben alle Zugang zum Evangelium gleich welcher Nationalität, welcher Kultur oder welcher Herkunft. Die Universalität des Heils liegt bereits in den unscheinbaren Anfängen des christlichen Glaubens. Sie wendet sich nicht gegen irgend jemand. Im Gegenteil, sie will alle aufnehmen und in neuer Weise Gemeinschaft stiften.

 

Das zu predigen, ist der bleibende Auftrag der Kirche. Sie wird Jesus von Nazareth treu sein, wenn sie sich um „evangelisches Profil" bemüht. Das bedeutet konkret, Angst in dieser Welt abzubauen, Brücken zu schlagen zwischen den Völkern, Vertrauen zu schaffen in einer von Misstrauen und Hass vergifteten Welt. Sie stellt sich damit in den Dienst einer Therapie, wie sie umfassender und tiefgreifender gar nicht gedacht werden kann. Deshalb ist es wichtig, die Anfänge nicht aus den Augen zu verlieren und sie bei Gelegenheiten wie der heutigen besonders zu bedenken. Gott schenke uns dafür die rechten Augen und ein gutes Gehör.

 

Amen!

Prof. Dr. Gottfried Brakemeier
Nova Petrópolis, Brasilien
E-Mail: gbrakemeier@gmx.net

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