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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Ein neuer Himmel und eine neue Erde, 2007

Die Zukunft wie ein Buch lesen - Predigt über Apk 10 , verfasst von Wolfgang Vögele

Der Predigttext steht im Buch der Offenbarung des Johannes, Kapitel 10:

„Und ich sah einen andern starken Engel vom Himmel herabkommen, mit einer Wolke bekleidet, und der Regenbogen auf seinem Haupt und sein Antlitz wie die Sonne und seine Füße wie Feuersäulen. Und er hatte in seiner Hand ein Büchlein, das war aufgetan. Und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer und den linken auf die Erde, und er schrie mit großer Stimme, wie ein Löwe brüllt. Und als er schrie, erhoben die sieben Donner ihre Stimme. Und als die sieben Donner geredet hatten, wollte ich es aufschreiben. Da hörte ich eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Versiegle, was die sieben Donner geredet haben, und schreib es nicht auf! Und der Engel, den ich stehen sah auf dem Meer und auf der Erde, hob seine rechte Hand auf zum Himmel und schwor bei dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, der den Himmel geschaffen hat und was darin ist, und die Erde und was darin ist, und das Meer und was darin ist: Es soll hinfort keine Zeit mehr sein, sondern in den Tagen, wenn der siebente Engel seine Stimme erheben und seine Posaune blasen wird, dann ist vollendet das Geheimnis Gottes, wie er es verkündigt hat seinen Knechten, den Propheten. Und die Stimme, die ich vom Himmel gehört hatte, redete abermals mit mir und sprach: Geh hin, nimm das offene Büchlein aus der Hand des Engels, der auf dem Meer und auf der Erde steht! Und ich ging hin zu dem Engel und sprach zu ihm: Gib mir das Büchlein! Und er sprach zu mir: Nimm und verschling's! Und es wird dir bitter im Magen sein, aber in deinem Mund wird's süß sein wie Honig."

I. Bilder im Kopf

Liebe Gemeinde, stellen Sie sich einen ganz normalen, unauffälligen, mit beiden Beinen mitten im Leben stehenden Menschen vor: Jeden morgen 7.30 steht er mit seinem Kombi im Stau, um doch noch pünktlich zur Arbeit zu kommen. Seit langem ist er verheiratet, zwei Kinder sind groß und größer geworden, und jeden Nachmittag um Fünf kehrt er - nach einem Stau - zu seiner Familie zurück. Am Montagabend spielt er Fußball, am Dienstag schaut er fern, am Mittwoch geht er mit Freunden zum Kegeln, am Donnerstag räumt er auf und spielt mit den Kindern Domino, am Freitag kauft er ein, und am Samstag wäscht er das Auto, während er am Radio die Fußballübertragung hört. Ein regelmäßig geregeltes Leben, in dem alles seine Ordnung hat. Nur eine leichte Erkältung im Frühjahr und im Herbst unterbrechen dieses regelmäßige Leben. Dieser Mensch, kann man meinen, hat sich im Leben eingerichtet, er geht seinen gewohnten Gang. Er läuft am sicheren Geländer seiner Gewohnheiten durch die Tage der Woche.

Und dennoch ist da etwas jenseits von Regelmäßigkeit und Gewohnheit. Durch seinen Kopf schwirren ganz unbestimmte Gefühle und Bilder, die sein Denken und Handeln bestimmen. Diese Bilder kann er an normalen Tagen aus seinem Leben ausblenden, weil die Gewohnheiten in ihrer Schwerfälligkeit und Schwerkraft diese flüchtigen Bilder vertreiben. Und dennoch wird dieser Bilder nicht los: Er sieht sie im Traum, im Kino, vielleicht im Theater, er liest davon in der Zeitung.

Diese bedrohlichen Bilder sind von der Frage bestimmt: Wie wird diese Welt in der näheren und ferneren Zukunft aussehen? Es sind Bilder von der Gefährdung und Zerstörung der Erde, von der Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, Bilder von der Klimakatastrophe und von der Globalisierung, vom Zusammenbruch menschlicher Zivilisation. Es sind Bilder, in denen riesige Eisberge und Gletscher schmelzen und den Meeresspiegel ansteigen lassen. Es sind Bilder, in denen sich Gesellschaften, die auf demokratischer Gleichheit beruhen, nach terroristischen Anschlägen in menschenfeindliche Tyranneien verwandeln. Es sind Bilder, in denen geklonte Menschen als Ersatzteillager für die menschlichen Originale auf Vorrat gehalten werden. Es sind Bilder, in denen atomare Katastrophen ganze Zivilisationen verwüsten und zum Zusammenbruch bringen. Es sind Bilder von Verwundeten, Bilder von einstürzenden Wolkenkratzern, Bildern von gigantischen, alles überschwemmenden Wellen, Bilder von Eismassen, die jede Pflanze zum Erfrieren bringen, Bilder von Feuersbrünsten und alles verschlingenden Staubwolken. Bilder, die sich bei jedem von uns flüchtig und traumhaft, aber hartnäckig gegenwärtig im Kopf eingenistet haben. Ob das wirkliche Bilder sind oder nur Phantasie, ist für unsere Gefühle und Gedanken nicht so wichtig.

Weil das so ist, gibt es findige Menschen, die mit solchen Bildern spielen: Die Politiker nutzen sie, um Angst zu verbreiten und Werbung zu machen für ihre Politik. Die Kinoregisseure nutzen sie, um mit Hilfe von Computeranimation neugierig zu machen auf die eigenen Filme. Ob es wirklich so kommt, wie es vorausgesagt wird, ist gar keine Frage. Entscheidend ist das Vorhandensein solcher Bilder im Kopf. Sie sind da, und sie steuern unsere Ängste und Hoffnungen, oft auf eine Weise, die unserem vernünftigen Kalkül entzogen ist.

II. Der Galerist des Trostes

 

Auch Johannes von Patmos, der die Apokalypse verfaßt hat, spielt wie ein Regisseur oder ein Politiker mit Bildern. Das hat er wie sie genau verstanden: Die Herrschaft im Kopf wird nicht mit Argumenten oder Gedanken entschieden. Sie wird entschieden über die starken und schwachen Bilder, die uns prägen, von denen wir uns prägen lassen. Schauen wir genauer hin:

Johannes ist kein Moralapostel. Er sagt nicht: Meine Vorhersagen werden eintreffen, wenn ihr so weitermacht wie bisher. Also wäre es am besten, wenn ihr euch ändert.

Johannes ist auch kein Zukunftsprophet wie Nostradamus. Er sagt nicht: Die Zukunft wird im wörtlichen Sinn so geschehen, wie ich es sage.

Johannes ist vielleicht am besten als ein theologisch versierter Galerist unseres Bewußtseins zu sehen. Er stattet uns mit Gegenbildern aus. Gegen die damals herrschenden Bilder, gegen die Bilder der Herrschaft und Unterdrückung setzt er die trostvollen Bilder des gnädigen, sich erbarmenden Gottes. Er hängt die Bilder der Barmherzigkeit auf, er eröffnet Schauräume der Gnade. Er richtet Hoffnungen neu aus, er besänftigt Ängste und Befürchtungen.

Zur Zeit des Johannes waren das vor allem die Römer, die den gesamten Mittelmeerraum in ihre Herrschaftsraum verwandelten. In den Hauptstädten ihrer Provinzen forderten sie die Anbetung der Kaiser-Standbilder ein. Das politische und das religiöse Imperium waren nicht zu unterscheiden, es forderte Gefolgschaft und Gehorsam, wenn nötig mit Schwert und Folter. Das war weder mit dem jüdischen noch mit dem christlichen Gottesglauben zu vereinen.

Wenn aber in der Gegenwart verhängnisvoll das Imperium triumphierte, dann konnte das Heil nur in der Zukunft liegen. Am Ende wird der gnädige Gott das letzte Wort haben. Und was das für uns Menschen heißt, das beschreibt der Seher Johannes auf Patmos.

III. Eine Installation der Gnade

Johannes malt uns ein Bild vor Augen: Ein gigantischer Engel mit einem Sonnenkopf und Feuersäulen-Füßen erscheint vom Himmel herab. Er steht mit einem Bein im Meer, mit dem anderen auf der Erde. Er hält ein Buch in seiner Hand, und das Buch gibt er dem Seher Johannes. Der muß es essen. Und es schmeckt süß wie Honig.

Wenn Sie das nun erstaunt, liebe Gemeinde, ähnlich ungewöhnliche Installationen können Sie in jedem modernen Museum sehen. Bevor wir uns aber einzelne Elemente dieses Bildes anschauen, möchte ich noch darauf hinweisen, daß Johannes der Bildermaler seine Farben, Vorlagen und Vorzeichnungen nicht selbst erfunden hat. Das meiste Material, das er verwendet, stammt aus der Bibel: Schon im Alten Testament treten Engel auf, wenn auch meist in Menschengestalt. Um den Kopf des Engels wölbt sich ein Regenbogen, derselbe Regenbogen den Noah nach der Sintflut sah. Der Engel ist mit einer Wolke bekleidet, und die Füße bestehen aus Feuersäulen: In einer Wolke oder in einer Feuersäule zog Gott vor dem Volk Israel in der Wüste her, um ihm dem Weg zu weisen.

Ich lasse es bei diesen beiden Verweisen, es gäbe noch viel mehr anzuführen, aber das soll hier nicht Thema sein. Entscheidend ist: Johannes malt mit Bildern, die seinen Lesern vertraut waren. Uns ist diese Bildersprache verloren gegangen. Damit sie uns anspricht und unsere Gefühle, müssen wir sie uns erst wieder vergegenwärtigen.

IV. Das Buch der Barmherzigkeit

Und ich richte den Blick nun vom Engel weg auf das, was er in der Hand hält, auf das Buch, das schmeckt wie Milch und Honig. Für die meisten Menschen heute sind Bücher alltägliche Gebrauchsgegenstände, keiner besonderen Beachtung werden. Es gibt schlecht gebundene und schlecht gedruckte Taschenbücher, die sind nach der ersten Lektüre so zerlesen, daß man sie nur noch wegwerfen kann. Zehntausende Bücher erscheinen jährlich neu, und jährlich feiert die Buchbranche sich selbst bei der Frankfurter Buchmesse. Aber viele Menschen sammeln auch Bücher und stellen sie sich in die eigene, sorgfältig aufgebaute und geführte Bibliothek.

Das führt uns auf die entscheidende biblische Spur: Bücher sind wertvoll. Die Texte, die sie enthalten, sind bewahrenswert. Sie sollen sorgfältig weitergegeben werden, über die eigene Generation hinaus.

Neulich sah ich in einem Museum ein Kunstwerk, das bestand vor allem aus einer zwei Meter und zwei Meter breiten Bücherwand. Die Bücher waren sorgfältig aufeinander gestapelt und bildeten eine stabile, breite undurchsichtige Mauer. So verstanden, lenken Bücher von der Wirklichkeit ab, sie verstellen sogar die Wirklichkeit, sie schließen die Menschen ein in Räume aus bedruckten Seiten.

Die Apokalypse des Johannes sieht Bücher anders: Bücher sind unendlich wertvoll, am meisten das Buch, das der beschriebene kosmische Engel in der Hand hält, denn es existiert offensichtlich nur in einem einzigen Exemplar. Damals war die Kunst des Buchddrucks noch nicht erfunden, und das machte Bücher kostbarer und wertvoller als vieles andere.

Das Buch, das der Engel in der Hand hielt, muß also einen besonders wichtigen, einen lebensentscheidenden Text enthalten haben. Der Engel hat das Buch aufgeschlagen, man kann es also lesen. Und weil so viel vom Geheimnis Gottes die Rede ist, kann man auf den Gedanken kommen: Dieses Buch könnte dieses Geheimnis Gottes enthalten. Das Buch könnte eine Art Drehbuch sein, das Drehbuch der Geschichte Gottes mit den Menschen. Oder das Buch könnte die Namen derer enthalten, die gerettet werden.

Der Seher Johannes, welcher diese Vision aufschreibt, läßt ganz bewußt offen, was in dem Buch aufgeschrieben ist, wer es geschrieben hat und wer es einmal lesen soll. Es könnte auch ein leeres unbeschriebenes Buch sein und genau so könnte Johannes mit diesem Buch die Bibel meinen. Wir wissen das nicht. Das Geheimnis soll ein Geheimnis bleiben.
Und das entspricht ganz genau dem biblischen Verständnis Gottes. Gott bleibt für die Menschen ein Geheimnis, in das wir nie vollständig eindringen können. Deswegen dürfen wir auch die Offenbarung des Johannes nicht als eine historische Vorhersage zukünftiger Ereignisse verstehen. Diesem biblischen Buch läßt sich nicht das Datum des Weltendes entnehmen, wie das oft versucht worden ist.

Daneben aber ist ein zweites genau so wichtig: Gott wendet sich den Menschen zu, in den Propheten, wie Johannes sagt, und in seinem Sohn Jesus von Nazareth. Davon lesen wir in allen biblischen Büchern. Und dann lautet die Botschaft: Gott ist der Herr der Geschichte und der Herr der Bilder. Er stärker und barmherziger und gnädiger als alle Machthaber und Gewalttäter. Mögen wir in dieser Welt noch so viel Elend und Leid und Tod erfahren, es kann der Barmherzigkeit Gottes nichts anhaben, die letztlich triumphieren wird. Gott wird einmal alle Tränen abwischen, so sagt es der Seher Johannes auch, an einer späteren Stelle. Gott triumphiert über die Mächte und Gewalten, über die Machthaber und über die Fürsten dieser Welt. Und Gott triumphiert auch über den Tod.

Wer das einfach liest und hört, der wird das am Anfang nicht glauben, weil jeder von uns jeden Tag so vieles liest und hört. Man muß das spüren und empfinden und in sich aufnehmen. Deswegen sieht der Seher Johannes den gigantischen Engel mit dem Buch. Aber es wird ihm nicht gestattet, in diesem Buch zu lesen. Vielmehr fordert ihn die Stimme auf, das Buch zu essen.

Das mag als ein ungewöhnliches, unpassendes Bild erscheinen. Niemand hat je ein Buch gegessen, außer gelangweilten Schülern, die im Unterricht nicht aufpassen, und aus einzelnen Seiten Papierkügelchen anfertigen. Der Seher Johannes muß das Buch verschlingen, um es in sich aufzunehmen. Es ist ähnlich wie beim Abendmahl: Wir essen Brot und wir trinken Wein und spüren dabei in besonderer Weise die Gegenwart Gottes.

Das Buch, das verschlungene Buch, das Buch, das wie Milch und Honig schmeckt, zeigt uns einen barmherzigen und allmächtigen Gott, der sich der Schwachen und der Leidenden, der Unterdrückten und der Zukurzgekommenen erbarmt.

Das ist ein wertvolles Bild, das bleibende Erinnerung verdient. Der Engel hält ein Buch in der Hand. Das Buch enthält die Geheimnisse Gottes. Und der, der diesen Engel sieht, muß das Buch essen. Er ißt - und spürt die Barmherzigkeit Gottes. Und wir wollen das in einem Moment ebenfalls tun - wenn wir das Abendmahl feiern.

Amen.



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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