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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Ein neuer Himmel und eine neue Erde, 2007

Predigt zu Offenbarung 10, 1 - 11, verfasst von Erika Godel

Liebe Geschwister,

zu Weihnachten sind nicht nur Kinder geneigt, an die Existenz von Engeln zu glauben. Dann ist Saison für den meist androgyn gedachten Engel der Verkündigung namens Gabriel und den Chor der wenig militärischen, dafür aber hochmusikalischen himmlischen Heerscharen. Aber für den Rest des Jahres haben es weder die niedlichen Putten noch die vielflügeligen, beängstigend großen Engel leicht, unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Bestenfalls in Krisen- und Gefahrensituationen erinnern wir uns daran, dass es männlich starke oder mütterlich liebende Schutzengel geben soll, die für uns rettend eingreifen, wenn die Not groß ist. Im Alltag begegnen wir Engeln höchstens mal in Kinofilmen. Dann sind sie vom Himmel gefallene Supermänner oder "Softies", die nicht so recht in die Zeit passen mit ihrer edlen Gesinnung und absoluten Moral. Weil es ja nur Kino ist, zieht das ewig Weibliche die Engel nicht hinan, sondern hinab. Sie verlieben sich und mit der richtigen Frau an ihrer Seite sind diese Engel dann gerne bereit, auf ihrer Privilegien als Gottes Bodenpersonal zu verzichten. Sie werden sterblich wie wir, und die Welt nimmt ihren Lauf.

Solange der Weltenlauf so ist, dass wir gut leben können, interessiert es uns wenig, wer ihn bestimmt und wie.

Es muss schon sehr schlimm kommen, um daran etwas zu ändern. Klimawandel hin oder her - ob gläubig oder nicht: die meisten Menschen leben so, als hätten sie ein unerschütterliches Zutrauen in die biblisch überlieferte Zusage Gottes: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" (Gen 10,22).

Aber wie lange steht die Erde noch? Können wir Menschen das in irgendeiner Weise beeinflussen, positiv oder negativ? Wer warnt uns und wie, bevor es so weit, gar zu spät ist? Und wenn jemand da wäre, der uns zu warnen versuchte, würden wir den denn ernst nehmen?

Was würden Sie denn sagen, wenn ihr Kind zu ihnen käme und ihnen allen Ernstes erzählte, es hätte einen Engel gesehen? Der hätte mit einem Fuß im Meer gestanden und mit einem auf der Erde. Dessen Füße seien wie Feuersäulen gewesen. Ja, und der Engel hätte eine Wolke angehabt und einen Hut, der aussah wie ein Regenbogen. Dem nicht genug, der Engel hätte auch noch in unbeschreiblicher Lautstärke deutsch mit ihm gesprochen. Dem Kind würden sie doch sofort die Lektüre von Comics und Science-Fiction-Romanen untersagen und vorsichtshalber auch noch ein striktes Fernsehverbot aussprechen. Und wenn ihre Freundin ihnen anvertraute, dass sie neuerdings Bücher nicht nur im übertragenen Sinne „verschlinge", sondern die Seiten rausreiße und sie Stück für Stück in den Mund stopfe und runterschlucke, um sie wirklich zu verschlingen, weil ein Engel es ihr so befohlen habe, dann wurden Sie doch an ihrem gesunden Menschenverstand zweifeln. Der Freundin würden dringend einen Arztbesuch empfehlen und ihr diskret die Sprechzeiten eines Psychiaters zustecken.

Zwar wird heutzutage viel von Visionen geredet, aber in der eigenen Familie oder im Freundeskreis mag man Visionäre eher nicht. Das derzeitig ausgeprägte Bedürfnis nach Visionen, nach neuen, noch nie dagewesenen und alles bisher Gedachte übertreffenden Ideen in Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, über das überall in den Medien zu hören und zu lesen ist, besagt ja nichts über ihre mögliche Akzeptanz. Und Visionär zu sein war und ist keine leichte Profession, wie unter anderem biblische Beispiele beweisen. Hesekiel und Johannes von Patmos, um nur zwei der großen Visionäre der Bibel zu nennen, wurden immer wieder und auch von namhaften Theologen verdächtigt, nur edle Spinner gewesen zu sein, bei denen schwer zu unterscheiden ist, was sie wirklich visionär geschaut und was sie sich mit einer blühenden Phantasie in ihren womöglich kranken Gehirnen bloß ausgedacht haben.

Dass ein Text aus der Offenbarung Predigttext ist, kommt folgerichtig eher selten vor. Bei Beerdigungen hören wir es ja ganz gerne, dass Gott alle Tränen abwischen wird und dann ist die Verheißung tröstlich, dass es mal einen neuen Himmel und eine neue Erde geben soll, aber sonst? Den Visionen über die Zeit davor trauen wir nicht so recht, und das ist kein Zufall.

Es ist auch kein Zufall, dass die Offenbarung das letzte Buch der Bibel ist und erst spät in den Kanon der christlichen Schriften aufgenommen wurde. Immer schon gab es Zweifel, ob die Offenbarung wirklich christliches Gedankengut enthält. Das begann mit Cyrill von Jerusalem, der im 3. Jahrhundert nach Christus lebte und die öffentliche und private Lektüre der Offenbarung verboten hat, weil er sie für zu gefährlich hielt, Auch die großen Reformatoren, Zwingli, Calvin und Luther hatten eine tiefe Abneigung gegen die Offenbarung und hielten sie für den gottesdienstlichen Gebrauch nicht für geeignet.

Aber so wie es immer schon prominente Gegner und Kritiker des Textes gab, so gab es auch immer wieder Befürworter. Kirchliche und gesellschaftliche Randgruppen (beispielsweise Montanisten und Milleniaristen) haben sich seit dem Mittelalter gerne auf die Offenbarung berufen, und heute tun es revolutionäre und utopische Bewegungen.

Den Gegnern der Offenbarung waren die drastischen Beschreibungen von Naturkatastrophen, grausamer Folter und Massenzerstörungen nicht recht. Sie kritisierten die phantasievolle Visionswelt und ihre symbolischen Darstellungen von Naturkatastrophen und überschäumender Glückseligkeit als Ausdruck von Rache und Ressentiments und hielten das Ganze für eine religiöse Projektion von Erlösung, also für ein Hirngespinst.

Die Befürworter, meist bibeltreue Christen am Rande oder außerhalb der großen Kirchen, lasen die Offenbarung als Allegorie und verwendeten sie als prophetisches Orakel, mit dem sie Ablauf und Plan der Endzeitereignisse entziffern und voraussagen können. Eine besonders verführerische Gruppe von Offenbarungs-Gläubigen sind die, die die Offenbarung in ihrem Kontext als politisch-religiöse Typologie lesen, die in ihre eigene aktuelle Situation hineinspricht. Lateinamerikanische und südafrikanische Befreiungstheologien schätzen die politische Visionswelt der Offenbarung wegen ihrer prophetischen Anklage von Ausbeutung und Unterdrückung und ihrer Vision von Gerechtigkeit. Diese Sichtweise machte die Predigten von Martin Luther King oder von Desmond Tutu so eindrücklich und besticht in Texten wie dem folgenden von Julia Esquivel aus Guatemala.

„Im dritten Jahr der Massenmorde,
die Lucas und Konsorten gegen die Armen in Guatemala begingen,
wurde ich vom Geist in die Wüste geführt.

Und am Vorabend des Erntedanktages
hatte ich eine Vision von Babylon:

Die Stadt erhob sich stolz
über einer riesigen Wolke,
von schmutzigen Qualm
der den Fahrzeugen, den Maschinen
und Hochöfen entstieg.

Es schien, als ob das ganze Petrolium
der von den Herren des Kapitals
geschändeten Erde
verbrenne und langsam aufsteigen
und dabei unsere Gesichter verhüllen würde,
vor der Sonne der Gerechtigkeit
und vor Gott selber.

Jeden Tag luden falsche Propheten
die Einwohner der schändlichen Stadt ein,
sich vor den Götzenbildern
des Bauches,
des Geldes,
und des Todes niederzuwerfen.
Götzendiener aller Völker
bekehrten sich zum American Way of Life...

Dreieinhalb Tage lang wurde meine Seele gefoltert.
Und eine große Mattigkeit legte sich mir auf die Brust.
Wie tief mich das Leiden meines Volkes schmerzte!

Da warf ich mich weinend nieder
und schrie: „Herr, was können wir tun?
Komm Herr, ich will mit meinen Brüdern sterben!"
Von allen Kräften verlassen erwartete ich die Antwort.
Nach einem großen Schweigen
und in tiefer Dunkelheit
sprach der, welcher den Thron besteigt,
um die Völker zu richten,
mit leisem Raunen
im Innersten meines Herzens:

Sie müssen vor ihrem Götzendienst -
zur Zeit und zur Unzeit - gewarnt werden,
zwinge sie, die Wahrheit zu hören;
das, was den Menschen unmöglich ist,
ist möglich bei Gott."
(Julia Esquivel, Paradies und Babylon, Wuppertal 1985, , S. 32f.)

Es hat ja etwas Einnehmendes, diese unmittelbare Übertragung der Bibel in den eigenen Alltag, die konkrete Erwartung, dass Gott in mein Leben zu meiner Zeit mit Macht eingreift, zumindest glaubens-theoretisch. Aber praktisch?

Wer wünscht sich schon ernsthaft, das heißt zu seinen Lebzeiten, dass die Welt grauenvoll untergeht und das Reich Gottes sich vollendet? Warum sich also von so einem, wie dem Johannes der Offenbarung herunterziehen lassen. Nur weil er unter mysteriösen Umständen gehört haben will, dass ein Ende kommen wird und keine Zeit mehr sein wird? Noch ist Zeit. Trotz Krieg und Ausbeutung und Knechtung ist es doch immer wieder gut gegangen. Ein Drittel der Menschheit sah Johannes zu seiner Zeit untergehen, aber zwei Drittel blieben auch damals schon übrig. Hurra! Wir leben! Was in dem Buch stand, das Johannes von dem gigantischen Engel bekam, ist nicht eingetroffen. Johannes hat sich ganz umsonst Sorgen gemacht und protestiert gegen das Unrecht und die Gewalt in einem zukünftigen Zustand, der ja noch gar nicht eingetroffen war. Er wollte so sehr über seinen gelebten Zustand hinausdenken und glauben und hoffen, dass er darüber womöglich seinen Realitätssinn verloren und seine Gegenwart verpasst hat. Die Hoffnung auf bessere Zeiten ist immer süß, aber das Erleben, dass es immer irgendwie weitergeht, nach Kriegen, nach dem Holocaust, nach Terroranschlägen und nach Naturkatastrophen, diese Ernüchterung ist bitter.

Das wusste Johannes und wir wissen es, so wir es wollen, auch. Aber Johannes blieb nicht bei seiner Bitterkeit stehen, versank nicht in Resignation, sondern suchte nach einem Ausweg. Dazu bekam er Hilfe, nämlich ein Buch das er ganz und gar in sich aufnehmen sollte, Wort für Wort. Und er wurde beauftragt, alles, was er aus dem Buch lernte, die guten Worte, die Mahnungen und Warnungen unbedingt auszusprechen. Und das hat er getan, obwohl das Geheimnis Gottes sich dadurch weder ihm noch uns wirklich enthüllte. Dichter als er es zu beschreiben versucht hat, kam er nicht dran, an das, was Gott mit der Welt vorhaben könnte. Er war ja nicht der Messias. Aber als messianischer Mensch, als Zeuge der Leiden des Messias, fühlte er sich verpflichtet an der Geschichte zu leiden und dabei die Hoffnung nicht aufzugeben. Und so erinnert er uns daran, dass die menschliche Frage, „Wie lange noch Herr, wie lange noch?" bis heute nur die eine Antwort kennt: „Siehe, ich komme eilends. Halte stand!" Das Wort Gottes, das sich auf Gottes endzeitliche Rettung bezieht, schmeckt süß.

„Das Leben annehmen als SEIN Geschenk,
staunend, spielend, betroffen, ergriffen,
das Leben wagen auf SEINER Spur.
heute, täglich, immer von neuem,
das Leben lieben trotz Schuld, Angst, Scheitern und Tod.
Ostern gelten lassen für alle, für dich und für mich,
die Liebe blühen lasse in unseren Gärten,
inmitten unserer Straßen und in unseren Häusern.
Ostern feiern,
nicht länger warten,
nicht mehr verweigern,
aufstehen vom Tod,
die Gräber verlassen,
die Glocken läuten,
voll Freude tanzen,
die Lieder singen von SEINEM Sieg."
(Gerhard Kiefel)

Amen.



Dr. Erika Godel
Berlin
E-Mail: Godel@eaberlin.de

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