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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Paul Gerhardt, 2007

„Nun ruhen alle Wälder", EG 477, verfasst von Christoph Dinkel

 

Predigt über „Nun ruhen alle Wälder", EG 477, im Zusammenhang mit Totengedenken am Ewigkeitssonntag

Liebe Gemeinde,

ein Abendlied steht heute im Mittelpunkt der Predigt, ein Lied, das man singt, wenn man sich schlafen legt oder die Kinder zu Bett bringt. Meine Eltern haben dieses Lied abends an meinem Bett gesungen und wir selbst singen es am Bett unserer Kinder. Für Kinder entfaltet das Lied einen plausiblen Zusammenhang: Wenn die ganze Welt schlafen geht, dann ist es auch für die Kinder Zeit, das Licht auszumachen und zu ruhen, so wie auch Vieh, Menschen, Städt und Felder nun zu ruhen beginnen.

Unser Lied hilft, die Schwelle des Übergangs vom Tag zur Nacht zu bewältigen. Das ist, speziell für Kinder, kein ganz leichter Übergang. Die Dunkelheit der Nacht kann Angst auslösen. Die Nacht ist die Sphäre der diffusen Geräusche, der Alpträume und dunkler Ahnungen. Nicht wenige Menschen erwarten mit Bangen das Kommen der Nacht. Wer unter Schlafstörungen leidet, fürchtet die Endlosigkeit des Wartens auf den Morgen. Vielleicht gerade deshalb ist unser Abendlied gar nicht wirklich ein Schlaflied. Vielmehr enthält die erste Strophe die Aufforderung zu einem Anfang, einem Neubeginn: Wenn die ganze Welt schläft, dann ist der richtige Zeitpunkt für die Sinne, aufzuwachen und Gott zu loben: Ihr aber, meine Sinnen, auf, auf, ihr sollt beginnen, was eurem Schöpfer wohlgefällt.

Ihr aber - das „aber" spielt für unser Lied eine wichtige Rolle. In mehreren Strophen begegnen uns markante und sehr bewusst gewählt Gegenüberstellungen: Der schlafenden Welt werden in Strophe 1 die aufwachenden Sinne gegenübergestellt, in Strophe 2 steht der untergehenden Sonne am Himmel Jesus als immerleuchtende Sonne des Herzens gegenüber. In Strophe 3 bilden der blaue Himmelssaal und das irdische Jammertal den Kontrast, in Strophe 4 die irdischen Kleidern der Vergänglichkeit und die Ehrenkleider himmlischer Herrlichkeit. Das Kontrastbild in Strophe 6 ist schließlich fast schon makaber: Das Bett, in das man sich zum Schlafen legt, wird in Beziehung gesetzt zum Grab, in das man zur ewigen Ruhe gebettet wird:

6. Nun geht, ihr matten Glieder, / geht hin und legt euch nieder, / der Betten ihr begehrt. / Es kommen Stund und Zeiten, / da man euch wird bereiten / zur Ruh ein Bettlein in der Erd.

Der Übergang vom Tag zur Nacht ist eine kritische Schwelle. Die Gedanken sind wach, doch es fehlen die vielfältigen Ablenkungsmöglichkeiten des Tages. Der menschliche Geist wird auf sich selber zurückgeworfen. Die Besinnung auf das eigene Leben und auf die eigene Sterblichkeit wird angeregt. Der Schlaf erscheint dabei als ein Vorschein des Todes. Das Bewusstsein ist im Schlaf weitgehend ausgeschaltet, die eigene Aktivität auf ein Minimum reduziert. Der Schlaf ist seit alters die naheliegendste Analogie zum Tod. Der Tod ist der große Schlaf der Seele - eine tröstliche Vorstellung. Denn wie wir beim Einschlafen am Abend darauf vertrauen, dass unser Geist am Morgen wieder wach wird, so können wir in gleicher Weise darauf vertrauen, dass auch unsere Seele durch den Tod hindurch von Gott bewahrt wird. Gott behütet uns in der Dunkelheit der Nacht, er behütet uns in der Finsternis des Todes, er behütet auch jene, die wir heute betrauern, und bewahrt sie und uns in seiner Liebe. Strophe sieben lautet:

Mein Augen stehn verdrossen, / im Nu sind sie geschlossen. / Wo bleibt dann Leib und Seel? / Nimm sie zu deinen Gnaden, / sei gut für allen Schaden, / du Aug und Wächter Israel'.

Meine Lieblingsstrophe - und sicher nicht nur meine - ist die achte Strophe unseres Liedes:

Breit aus die Flügel beide, / o Jesu, meine Freude, / und nimm dein Küchlein ein. / Will Satan mich verschlingen, / so lass die Englein singen: / ‚Dies Kind soll unverletzet sein.‘

Petra Bahr, die in diesem Jahr ein schönes Büchlein über Paul Gerhardt geschrieben hat, erzählt davon, wie sie als kleines Kind über diese Strophe nachgedacht hat. Auch sie hatte die Strophe von klein auf als Abendlied von ihren Eltern gehört. Als sie älter wird gehört das Lied immer noch so fest zum Abendprogramm wie das Zähneputzen. Petra Bahr schreibt: „Doch weil die Worte langsam Bedeutung gewinnen und sich in der Sprachwelt der Erwachsenen langsam Rätsel und Labyrinthe auftun, hängt überm Bett neben der wohligen Vertrautheit auch eine Irritation. Es will mir einfach nicht in den Kopf, warum der Herr Jesus abends noch Kuchen haben darf. [...] Wie konnte es sein, dass Jesus in dem Lied, „sein Küchlein einnehmen" soll, wo doch jeder weiß, dass abends keine Süßigkeiten mehr gegessen werden dürfen?" Das kleine Mädchen ist darüber empört, traut sich aber nicht, mit den Eltern darüber zu reden. Und so wird die Empörung über den abendlichen Kuchen für Jesus zum Teil des Abendrituals.

Ich erinnere mich, als Kind über dieselbe Stelle gestolpert zu sein. Meine Eltern haben mich dann darüber aufgeklärt, dass es sich bei den Küchlein um Küken handelt, dass also Jesus wie eine Henne uns Menschen wie kleine Küken unter den Schutz seiner Flügel nimmt. Jesus als Henne auf dem Hühnerhof - auch das war für mich eine nicht ganz eingängige Vorstellung. Vielleicht sollten wir aber weniger an eine Hühnerhenne, sondern eher an einen Adler und an Adlerküken denken. Jedenfalls gebraucht Gerhardt dieses Bild vom Adler und seinen Küken in seinem Lied „Sollt ich meinem Gott nicht singen". Dort heißt es in Strophe 2:

Wie ein Adler sein Gefieder / über seine Jungen streckt, / also hat auch hin und wieder / mich des Höchsten Arm bedeckt ...

Das Bett des Schlafenden wird in Gerhardts Strophe mit einem doppelten Schutz bewacht. Neben Jesus versehen auch die Engel Gottes ihren nächtlichen Schutzdienst. Dies ist keinesfalls niedlich gemeint. Auch wenn Engel heute zumeist als kitschige Putten erscheinen. Die Engel, die Gerhardt meint, sind anders. Den Engeln gegenüber steht der Satan, der den Schlafenden verschlingen will. Mit ihm müssen es die Engel aufnehmen. Auch diese 8. Strophe lebt wie die ersten vier und die sechste Strophe des Liedes von kontrastierenden Bildern: der ultimativen Bedrohung durch den Satan wird die Bewahrung durch die singenden Engeln und die schützenden Flügel des Adlers gegenübergestellt. Das Alptraumbild des Verschlungenwerdens wird mit dem Glücksbild des behütet Werdens kontrastiert.

Der Glaube an Christus leugnet die Bedrohung, leugnet die Angst nicht. Die Nacht kann zum Schrecken werden durch Ängste und Alpträume. Der Tod eines geliebten Menschen ist für die Trauernden ein wahrgewordener Alptraum. Diesen Schreck, diesen Schmerz, diese große Leere und Bedrohung braucht niemand zu leugnen. Und auch ein fester Glaube hilft nicht einfach so oder gar leicht über solch einen Verlust hinweg. Eher ist es wohl so, dass wir durch den Glauben und unsere religiöse Tradition mit Bildern ausgestattet werden, die wir der Angst und dem Schrecken entgegenstellen können: Die singenden Engel, die dem Satan entgegentreten, und der mit Adlerflügeln schützende Jesus aus unserer Strophe sind dabei besonders starke und einprägsame Bilder unserer Tradition. Gerhardt belässt es aber nicht nur beim Bild: Der letzte Satz der achten Strophe formuliert auch die explizite Botschaft dazu: „Dies Kind soll unverletzet sein!" - Ein großes Wort ist das gegen die Angst, ein großes Wort ist das gegen alle Verzweiflung, gegen den Schmerz des Verlustes und des Abschiedes. Wir werden wohl auch als Erwachsene keine Mühe haben, uns mit den Worten unserer Strophe selbst als Kind zu betrachten, das sich dem Schutz Jesu und der Engel anbefiehlt: „Dies Kind soll unverletzet sein!"

Und das, was ich für mich an Trost beanspruche, erbitte ich nun am Ende des Liedes auch für meine Mitmenschen. Auch sie sollen von Gottes Engeln beschützt und behütet werden. Strophe 9:

Auch euch, ihr meine Lieben, / soll heute nicht betrüben / kein Unfall noch Gefahr. / Gott lass euch selig schlafen, / stell euch die güldnen Waffen / ums Bett und seiner Engel Schar.

Nun ist am Ende unser Lied doch zu einem Schlaflied geworden. Die Schwelle zur Nacht hat die Sinne zum Nachdenken angeregt. Bilder des Schreckens und des Todes sind dabei ins Bewusstsein getreten. Die eigene Sterblichkeit trat vor Augen, das Nachdenken über den Schlaf hat Gedanken über das Sterben und den Tod ausgelöst. Doch schließlich kommen die Sinne wieder zur Ruhe. Den Bildern alptraumhafter Angst hat Gerhardt die Bilder großen Glücks und Behütetseins gegenübergestellt. Sie können die Angst und den Schmerz nicht ganz vertreiben, aber sie können sie bannen und in ihrer Schädlichkeit so weit dämpfen, dass die Seele Frieden findet. Sie muss weder den Schlaf, noch den Tod fürchten. Wie ein Adler breitet Jesus seine Flügel über Schlafende und Wache, über Lebende und Gestorbene aus. Gottes Engel treten dem Satan entgegen und verkünden gegen all unsere Angst und all unseren Schmerz das große Trostwort: Dies Kind soll unverletzet sein. - Amen.



Prof. Dr. Christoph Dinkel
Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de

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