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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Paul Gerhardt, 2007

„Ich steh an deiner Krippen hier" (EG 37) - Weihnachten 2007, verfasst von Isolde Karle

Liebe Gemeinde!

„Ich steh an deiner Krippen hier" ist eines der schönsten Weihnachtslieder, die wir im Gesangbuch haben. Viele lieben dieses Lied, selbst Menschen, die sonst mit dem christlichen Glauben nicht viel anfangen können. Der Text von Paul Gerhardt ist über 350 Jahre alt - man sollte meinen, das ist eine ganz andere Welt, eine ganz andere Sprache, die uns heute fremd ist. Das Lied hat offenbar eine ganz besondere Qualität, sowohl im Hinblick auf seine Sprache als auch im Hinblick auf die kongeniale Vertonung durch Johann Sebastian Bach, die vielen von Ihnen aus dem Weihnachtsoratorium vertraut ist. Was ist es, das uns an diesem Lied bis heute fasziniert und anspricht?

Dietrich Bonhoeffer bringt uns auf die richtige Spur. Im ersten Lebenszeichen Bonhoeffers an seine Eltern aus dem Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Tegel nach seiner Verhaftung im April 1943 heißt es:

„Verzeiht, dass ich Euch Sorgen mache, aber ich glaube, daran bin diesmal weniger ich, als ein widriges Schicksal schuld. Dagegen ist es gut, Paul Gerhardt Lieder zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue." Von da an zieht sich der Bezug auf Paul Gerhardt durch Bonhoeffers Briefe aus der Haft hindurch wie ein Basso continuo durch eine barocke Sonate. „In den ersten 12 Tagen, in denen ich hier als Schwerverbrecher abgesondert und behandelt wurde - meine Nachbarzellen sind bis heute fast nur mit gefesselten Todeskandidaten belegt - hat sich Paul Gerhardt in ungeahnter Weise bewährt... Ich bin in diesen Tagen vor allen schweren Anfechtungen bewahrt worden."

Im Advent desselben Jahres schreibt Bonhoeffer wieder aus der Zelle: „Außerdem habe ich zum ersten mal in diesen Tagen das Lied ‚Ich steh an Deiner Krippe hier‘ für mich entdeckt. Ich hatte mir bisher nicht viel daraus gemacht. Man muß wohl lange allein sein und es meditierend lesen, um es aufnehmen zu können. Es ist in jedem Worte ganz außerordentlich gefüllt und schön. Ein klein wenig mönchisch-mystisch ist es, aber doch gerade nur so viel, wie es berechtigt ist; es gibt eben neben dem Wir doch auch ein Ich und Christus, und was das bedeutet, kann gar nicht besser gesagt werden als in diesem Lied..."

Genau das ist es wohl, was uns bis heute an diesem Lied so fasziniert und in seinen Bann zieht: Der Mut, ich zu sagen und dieses Ich zu Christus, zum Kind in der Krippe in Beziehung zu setzen. Anders als in anderen Weihnachtsliedern wird hier nicht die ganze Weihnachtsgeschichte entfaltet - mit Maria und Josef, den Engeln und den Hirten. Sie alle scheinen keine Rolle zu spielen. Nur das „Ich" und das Kind stehen im Blickfeld. Bach hat das „ich komme, bring und schenke dir" zwar auf die Weisen aus dem Morgenland bezogen und das Lied deshalb im VI. Teil des Weihnachtsoratoriums unmittelbar auf den biblischen Bericht von den Weisen aus dem Morgenland folgen lassen. Aber das ist keineswegs zwingend. Es ist das „Ich", das vor dem Kind steht und ihm etwas schenken will. Dieses Ich begibt sich in Gedanken an die Krippe wie die Hirten damals und sinnt seinen Empfindungen angesichts des Kindes in der Krippe nach. Da wird nicht einfach objektivierend die Heilsgeschichte besungen oder freudig drauflos gejubelt, sondern staunend und innig gebetet.

Das Gebet richtet sich auf das Kind in der Krippe. Es schaut auf das Kind und liefert sich dessen Zauber und Anmut aus. Es ist Ausdruck einer Beziehung von anrührender Innigkeit und tiefer Verehrung. Eine stille Freude und ein überwältigendes Glück durchziehen die Strophen. Besonders in Strophe 4 kommt dies zum Ausdruck: „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen!"

Jeder, der sich über kleine Kinder schon einmal in dieser Weise gefreut hat, weiß, was Paul Gerhardt empfindet: „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen". Aber anders als bei jedem anderen Kind gebührt dem Kind in der Krippe Anbetung. In diesem Kind ist Gott selbst zu uns Menschen gekommen, in aller Ärmlichkeit und Niedrigkeit. Mit diesem Kind wird meine Geschichte mit der Geschichte Gottes verbunden - nicht in süßem Kitsch, sondern behutsam, staunend, in tiefer Ergriffenheit. Mystisch verschmilzt die Seele mit dem Christuskind. Aber Paul Gerhardt versinkt nicht in der Mystik. Die Anbetung und das Nachdenken bleiben auf die Geschichte Jesu außerhalb meiner selbst bezogen, auf eine Geburt, die geschah, „da ich noch nicht geboren war".

Das Ich weist darauf hin, dass der Glaube sich nicht einfach durch die Übernahme von Tradition einstellt. Jeder und jede von uns ist dabei individuell und persönlich gefragt und gefordert. Die letzte Strophe beschreibt diesen individuellen Aneignungsprozess mit einem besonders schönen Bild: Hier wird das Ich selbst zur Krippe für Christus, den Heiland der Welt. Das Wunder von Weihnachten gilt mir ganz persönlich. Ich nehme Christus in mich auf. Ich selbst werde zur Krippe, zu seiner Wohnung. All dies formuliert Gerhardt nicht vollmundig in Form einer Feststellung, sondern bittend - zaghaft, zurückhaltend und doch voller Hoffnung.

Ein solcher Glaube, eine solche Gewissheit kann einem nur begegnen. Dauerhaft mit sich herumtragen kann man einen solchen Glauben, eine solche Gewissheit wohl nicht. Dazu ist die Welt und das Leben zu voll von Erfahrungen, die der Weihnachtsbotschaft widersprechen. Kein menschliches Schicksal ist von Enttäuschungen frei. Wir alle machen Erfahrungen, die mit unseren Vorstellungen von uns selbst und von einem gelingenden Leben nicht zusammenpassen und an Weihnachten werden sie uns besonders schmerzlich bewusst. Die größte Bedrängnis und die schlimmste Erfahrung ist wohl der unzeitige Tod. Paul Gerhardt hat ihn an vier seiner fünf Kinder und an der eigenen Ehefrau schmerzlich erlebt. Sein Gottvertrauen und seine Zuversicht sind aus der Tiefe höchst leidvoller Erfahrung geboren. Deshalb steht am Ende von „Ich steh an deiner Krippen hier" auch nicht die überschwängliche, fulminante Weihnachtsbotschaft, sondern eine Bitte. Es ist die Bitte, dass sich Weihnachten aller Bedrängnis, aller Traurigkeit, allem Schmerz, allem Leiden am Leiden der Welt zum Trotz in meinem, in unserem Herzen ereignen möge:

„Eins aber hoff ich wirst du mir, mein Heiland, nicht versagen: Daß ich dich möge für und für in meinem Herzen tragen. So laß mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden!"

Dass diese Bitte für Sie in Erfüllung gehen möge, wünsche ich Ihnen von Herzen. Amen.



Prof. Dr. Isolde Karle

E-Mail: Isolde.karle@rub.de

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