Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 08.06.2008

Predigt zu Lukas 15:11-32, verfasst von Bernd Vogel

11 Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne.
12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
14 Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben
15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!
18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater.
Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.
22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße
23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!
24 Denn dieser ]mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen
26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre.
27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat.
28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.
29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre.
30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.
31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.
32 Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.

Wir brauchen die Kunst uns überraschen zu lassen. Gerade in der Kirche. Und besonders beim Bibel - Lesen.

Nichts befreit uns sonst zu einer Sehnsucht nach Leben, die dem Evangelium entspräche. Ohne die Kunst, uns überraschen zu lassen, bringt uns nicht aus eingefahrenen Gleisen. Wir wissen ja , wer wir sind. Wir wissen, wie die Welt läuft. Wir kennen die Mechanismen der Wirtschaft, der Politik und der Psyche. Wir sagen, wir seien mit allen Wassern gewaschen. Wir wissen doch , wie der Hase läuft, wie die Menschen „ticken". Wir  wissen auch, was in der Bibel steht. Uns kann das alles darum kalt lassen. Hundert Mal schon haben wir es zu uns genommen, verdaut und ausgeschieden.

Wir brauchen die Kunst, uns gerade vom biblischen Text her überraschen zu lassen. Das wäre dann wahrhaftig „Gottes Wort" für uns. Das wäre Raum für Fantasie und Inspiration. Das wäre ein sehr ernstes und zugleich ein freies Spiel. Wir können uns überraschen lassen. Fangen wir heute mit einem der bekanntesten Bibeltexte an.

„Vom verlorenen Sohn" ist sie in unserer Luther - Bibel überschrieben. Das steht aber gar nicht im biblischen Text. Keine Überschrift steht dort. „Vom verlorenen Sohn" wissen wir Bescheid. Und wer nicht Bescheid weiß, der soll nur auf die fett gedruckten Verse achten!

Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. Das ist der erste Fettdruck ; und das will uns was sagen: Du bist dieser „verlorene Sohn" .. oder wenn du dieser verlorene Sohn bist, dann musst du so handeln wie der verlorene Sohn im biblischen Text: Du musst das bekennen: Deine Sünde gegen den Himmel und vor Gott Vater. Du musst bereuen. Du musst wissen und bekennen, dass du das Sohnesrecht verloren hast.  - Dann, so ist wohl der Gedankengang derer, die den Fettdruck zu verantworten haben ... dann kannst du auf Gottes Gnade, auf Vergebung hoffen, dann wird dir geschehen, was der zweite Fettdruck im Text markiert: Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden.

Die Überschrift und der Fettdruck. Und ein Drittes haben uns die weisen Herausgeber der Luther-Bibel mit auf den Weg gegeben, dass wir den Text ja richtig verstehen: Die biblischen Verweise im Text. Z.B. in V.13: „Er brachte sein Erbteil zu mir Prassen." Da sollen wir Sprüche 29,3 zur Erläuterung aufschlagen; und dort steht: „Wer Weisheit liebt, erfreut seinen Vater; wer aber mit Huren umgeht, kommt um sein Gut." - Na, da ist doch alles klar, oder? Solcherart belehrt werden wir dieses schönste Gleichnis Jesu schon richtig verstehen, so nämlich, wie es mindestens 20 Generationen vor uns schon verstanden haben und wie es auch in 500 Jahren noch verstanden werden wird.

Nein, liebe Gemeinde, ohne die Kunst des Überraschtwerdens wird aus dem lebendigen Wort Gottes eine Mischung aus bigotter Moral und selbstgewisser Bürgerlichkeit, nichts jedenfalls, was Menschen von heute irgendwie interessieren, ergreifen und verändern könnte.

Da ist ein Vater mit seinen zwei Söhnen. Der jüngere bittet ziemlich entschieden, ja, fordert fast die Vorauszahlung des zu erwartenden Erbteils. Und der Vater gibt es ihm.

Das ist überraschend. Vernünftige Gründe sprechen gegen das Verhalten des Vaters: 1. Das Geld fehlt dem landwirtschaftlichen Betrieb, an den hier gedacht ist. Es fehlt das Kapital zum Investieren oder auch der Notgroschen in Hungerjahren. Der Vater gefährdet den Bestand des Hofes, sein eigenes Einkommen und das seines anderen, des älteren Sohnes. Er tut es. Warum?

2. Der jüngere Lohn scheint ein Heißsporn zu sein. Zumindest erfahren wir nichts darüber, dass er das Geld sinnvoll anlegen wollte. Dem Vater muss klar gewesen sein, dass der jüngere Sohn das Geld ausgeben wird - für sich selbst und für alles, was sein Herz begehrt. Und er gibt ihm das Geld. Warum?

Und es kommt so: In Saus und Braus, mit „Prassen" lebt der jüngere Sohn in der Fremde und gibt das Geld tatsächlich alles her. Von „Huren" steht nichts im Text. Der ältere Bruder wird später nach der Rückkehr des Bruders dem Vater vorhalten: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.

Von hier aus haben unsere fürsorglichen Herausgeber also die „Huren". Von hier und aus ihrer eigenen Fantasie darüber, was ein Leben „mit Prassen" wohl sein könnte. Das ist ja ein faszinierender Gedanke, ein lockendes Gefühl: Was würde ich tun, wenn ich ganz viel Geld hätte? Würde ich mir etwas „leisten", das Grenzen sprengt? Werde ich mir Unanständiges kaufen, gar die sexuelle Liebe einer Frau? Ob nun oder ob nicht: Entscheidend ist, dass es dem Text - also im Kern dem Jesus! - nicht um eine Moralansprache geht gegen den Kauf von Sexualität, sondern - Überraschung? - um E i - f e r s u c h t unter Brüdern. „Wen hat der Vater mehr lieb - dich oder mich?" Das ist die Frage, die hinter dem Anwurf des Älteren steht, der Jüngere habe das Geld des Vaters „mit Huren verprasst". Wir werden mit unseren Fantasien allein gelassen und konfrontiert und zugleich fortgeführt auf den wahren, den tieferen, den viel dramatischeren Konfliktherd der Geschichte: Auf die Beziehung der Brüder zu einander.

Wer sind diese beiden? Ja doch auch Typen, Idealtypen, um vor Augen zu führen, was sich so ähnlich fast immer in Familien abspielt. Da ist der ältere Sohn. Er ist der Vernünftige. Er ist der Brave. Er ist der, der dem Vater treu zur Seite steht. Er ist der, der lieber auf ein „Recht", das ihm zusteht, verzichtet, als um seine Einhaltung zu bitten.

Du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Überraschend. Diese Unfähigkeit des älteren Bruders, sich das zu nehmen, was ihm zusteht und was er auch braucht!. Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Hat der Vater das niemals vorher klar genug gesagt. Vielleicht. Wir wissen es nicht. Vielleicht hätte der erste Sohn das gebraucht: Die direkte Ansprache, die besondere Einladung nach der gemeinsamen Arbeit: Nun, Sohn, lass uns feiern, dass DU da bist, dass DU bei mir geblieben bist, dass DU bist, wer du bist. Nun lade deine Freunde ein und nimm dir von unseren Vorräten, was du brauchst und lass es krachen! Vielleicht hätte der Vater es einmal öfter und deutlicher sagen können; aber der Text erzählt uns, dass das Problem nicht beim Vater zuerst, sondern beim Sohn selbst lag. Einen „Ziegenbock" hätte er vom Vater nur haben wollen, aber sich nicht getraut, darum zu bitten. Einen Ziegenbock nur, nicht das gemästete Kalb. Das wird nun anlässlich der Rückkehr des Jüngeren geschlachtet - und dabei hat es für den Älteren doch nicht einmal zu einer Ziege gereicht.

Überraschung: Der „verlorene" Sohn ist - wenn einer - der ältere Sohn. Ihm ist das Leben ausgegangen mitten im Leben. Ein Mann ohne Männlichkeit. Kein sicheres Auftreten, kein inneres Selbstbewusstsein, kein Mut zu einer klaren Bitte, kein Mut zum Risiko, ein Ja oder ein Nein zu hören.

Dagegen der jüngere Sohn ... nimmt sich, was er haben möchte, probiert sich aus, genießt es, kommt an die Grenzen und überschreitet sie, „transzendiert" sie in mehrfacher Hinsicht.

Er wird Schweinehirt. Unvorstellbar für einen frommen Juden seiner Zeit. Er macht sich äußerlich und innerlich schmutzig an diesen als schmutzig geltenden Tieren. Er möchte gar dasselbe fressen, was sie fressen. So wird er zum „Schwein". Und weil er nicht einmal das Schweinefutter essen darf, geht er „in sich".

Wer das Gleichnis mit den geschulten Augen der Gewohnheit, in der Tradition der fürsorglichen Herausgeber, mit den Worten der Moral predigenden Pastoren aller Zeiten, der Systematiker des Heils liest, mag sagen: Das ist eindeutig, warum der „verlorene Sohn" (der Jüngere natürlich) in sich geht. Vom Tode bedroht, sieht er seine Schul ein. Ihm wird vorgehalten, was aus ihm geworden ist: Ein menschliches Schwein. Und nun will er das bekennen und dann sehen, ob der Vater noch Leben für ihn hat.

Überraschung: Diese Lesart ist nicht ganz falsch, aber zumindest nur eine Lesart unter vielen - und im Wesentlichen könnte sie falsch sein: Der Junge geht „in sich", weil er Todesangst hat. Ja. Und er will noch nicht sterben und erinnert sich daran, dass die Tagelöhner es bei seinem Vater zuhause viel besser haben als er hier in der Fremde bei den Schweinen. Zumindest haben sie genug zu essen. Und so macht er sich auf und legt sich zurecht, was er sagen wird, wenn er den Vater sieht. Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!

Es bleibt offen im Text, wie viel davon echte Reue ist und wie viel davon Taktik. Es bleibt unerörtert, ob es die pure Angst des verhungernden Menschen ist, der alles sagen würde, wenn er nur zu essen bekäme, oder ob hier tiefe Scham und Schuldgefühl überwiegen.

Überraschung: Jesus verlangt auch in diesem Gleichnis nicht, dass wir unsere tiefsten Beweggründe alle kennen und nur aus „reinen" Motiven handeln. Jesus verlangt keine besondere „Christlichkeit", erst Recht keinen dogmatisch korrekten Weg der Reue und des Glaubens, sondern erzählt schlicht und tiefgründig vom wirklichen Menschen. So ist der Mensch. So sind wir.

Und nächste Überraschung: Vater ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir ... das lässt sich gar nicht anders denken, als dass der Sohn bei diesen Worten in die Knie geht. Er verzichtet ja auf den Sohnesstatus und bittet nur um Einstellung als Tagelöhner. Und als solcher muss er vor dem Herrn knien und bitten.

Der aber fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Sind Sie schon einmal jemandem um den Hals gefallen, der vor Ihnen auf dem Boden lag? Haben Sie schon jemanden geküsst, der zu ihren Füßen kniete?

Hätten die Maler aller Zeiten den Text nur so gelesen, wie er da steht ... sie hätten den Sohn nicht knieend gemalt und den Vater nicht über ihm, wenn auch herabgebeugt in Zuwendung. Nicht einmal der geniale Rembrandt hat sich getraut, die beiden auf gleicher Höhe zu malen! Aber - überraschend - so legt es der Text nahe: Der wieder gekehrte Sohn wird sein Bekenntnis noch los ... aber  n a c h  dem Kuss des Vaters! Nicht umgekehrt. Was lutherische Theologen in den Text hinein lasen: Erst muss das Sündenbekenntnis kommen, dann kommt die Vergebung ... hier steht es anders: Das Bekenntnis wird erst echt; es erlangt erst seine Tiefe und Klarheit, nachdem der Freispruch längst erfolgt ist. Aus Gnade wird Freiheit. Aus Freiheit wird Wahrhaftigkeit. Aus Wahrhaftigkeit wird Mut. Aus dem Mut der erlösten Verzweiflung kommt das Bekenntnis der eigenen Schuld. Und so kommt Gottes „Heil" und macht uns „heil", d.i. „ganz", so dass wir „ganz" werden. Ganz mit unserem Leib, unserer Seele, unserem Geist. Ganze Männer auch in diesem Gleichnis. Der „verlorene" Sohn ist angekommen in diesem Heil. Der ältere Bruder braucht noch den Weg, den der jüngere schon gegangen ist. Und „verloren" ist - Überraschung - der Vater, bis b e i d e  Söhne frei geworden sind von ihm und frei dazu, s i e  s e l b st  zu sein.

Und noch eine Überraschung: Frauen kommen nicht vor. Diese Geschichte funktioniert ohne Frauen. Scheinbar natürlich; denn diese drei Kerle sind natürlich von einer Frau geboren worden. Es gab eine Mutter der beiden Söhne, eine Frau zu ihrem Mann. Und er war der Mann zu dieser Frau.

Das mag uns ärgern. Das können wir ein Stück auf den Patriarchalismus der alten Zeiten schieben. Aber auch das ist eine Möglichkeit: Dies ist auch eine Männer-Geschichte und kann so gelesen werden. Eine Geschichte über drei Männer und ihren gemeinsamen Weg zum Heilsein. Und mindestens eine „Moral von der Geschichte" ist, dass es am allerwenigsten um Moral geht und ganz viel um Liebe.

Und dazu fallen uns Männer die Frauen schnell ein. Zu schnell vielleicht manchmal. Denn - Überraschung - auch Männer können lieben.

Amen.



Pastor Bernd Vogel

E-Mail: Bernd.Vogel@evlka.de

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