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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 15.06.2008

Predigt zu Matthäus 5:43-48, verfasst von Johannes Værge

Ein anregender Theologe der Alten Kirche ist Gregor von Nyssa, der im 4. Jahrhundert in Kappadokien lebte, einem Gebiet im Osten der heutigen Türkei, damals ein Kernland des jungen Christentums. Gregor war Bischof in der Stadt Nyssa. Aus seiner Feder ist u.a. eine Schrift überliefert, in der er das Vaterunser behandelt. Im Zusammenhang mit der Stelle, an der wir zu Gott beten: "Dein Wille geschehe!", schreibt er, dieses Gebet setze voraus, dass wir uns in unserem Leben damit auseinandersetzten, was nicht der Wille Gottes sei, sondern unserem eigenen verirrten Willen entspringe. Diesen fehlerhaften Kurs müssten wir bekennen, in dem Sinne müssten wir über uns selbst ein Urteil fällen. Und Gregor fährt fort, indem er sich an Gott wendet: "Habe Mitleid mit mir und lass deinen Willen auch mit mir geschehen. Denn wie die Dunkelheit weichen muss, wenn das Licht in die dunklen Winkel der Höhlen kommt, so wird alle böse und ungebührliche Begierde zunichte werden, wenn dein Wille in mir geschieht (...), dann weicht der Hass, der Neid, die Bosheit (...), der böse Vorsatz, die Heuchelei, die Erinnerung an Kränkungen (...). Diese ganze Masse von Bösem wird zunichte in dem liebevollen Herz."

Wie richtig ist das gesehen, dass zu dem Bösen, das zunichte werden soll, auch die Erinnerung an Kränkungen gehört! Es liegt eine wirklich destruktive Macht in unseren Herzen, wenn wir an der Erinnerung des Unrechts oder der Verkennung kleben, die wir erfahren haben. Die Erinnerung an Kränkungen bindet unsere Kräfte, macht, dass wir uns um uns selbst krümmen. Anstatt mit offenen, empfangsbereiten Händen gehen wir bildlich gesprochen mit geballten Fäusten umher. Denken nur an Vergeltung, an die süße Rache, wie wir sagen. In anderen Fällen müssen wir uns mit der Schadenfreude begnügen, wenn es demjenigen schlecht geht, der uns unserer Meinung nach Schaden zugefügt hat, der uns übersehen hat, der uns keinen Respekt entgegengebracht hat.

Schadenfreude oder Rachegelüste - während Jesus davon spricht, seinen Feind zu lieben und für die zu beten, die uns verfolgen! Von der Möglichkeit, ein freier Mensch zu werden, der nicht an die Erinnerung an Kränkungen gebunden ist.

Erinnerung an Kränkungen, Rachsucht und Schadenfreude - sie liegen ganz nahe, sie sind eine natürliche Neigung. Aber das ist nicht das Beste für uns.

Dass das Christentum mit einem anderen Modell für unser Leben miteinander kommt als Rache und Schadenfreude, sollte z.B. im alten Norden entscheidende Bedeutung bekommen. Der alte Glaube an Odin, Thor und die anderen nordischen Götter war nach und nach degeneriert, so dass sich eine mehr oder weniger von Angst gezeichnete Haltung zum Leben verbreitet hatte - mit dem Ergebnis, dass Gedanken der Ehre und der Rache vorherrschten, so dass das gesellschaftliche Leben von Gewalt geprägt war. Eine Spirale von Kränkung und Blutrache wütete.

In diese katastrophale gesellschaftliche Situation kam dann durch das Christentum die Verkündigung einer völlig anderen Macht als der rohen Gewalt hinein, ein Umbruch der Vorstellungen davon, wer der Größte ist, auch ein Umbruch im Verhältnis zu dem alten Kult, bei dem nur die erwachsenen Männer Zugang zu den Opferriten hatten: In der Kirche hatten alle Zugang; im Verhältnis zu den heiligen Handlungen, den Sakramenten, waren Sklaven, Frauen und der mächtige Häuptling gleichgestellt. Und es beeindruckte die Menschen, wenn erzählt wurde, dass der Sohn Gottes bei seiner Hinrichtung Gott um Vergebung für diejenigen gebeten hatte, die Jesus kreuzigten, denn sie wüssten ja nicht, was sie taten.

Das Verhältnis zwischen Menschen war nicht mehr durch Geburt und Rang bestimmt. Eine unerhörte Gleichstellung von Menschen und eine unerhörte Aufforderung zur Vergebnung. Vergebung als eine Handlung, die stärker ist als Rache und Tötung.

Haben wir damit endgültig die Erinnerung an Kränkungen und was daraus folgt an Rache, Misstrauen, Feindschaft, Härte unschädlich gemacht? Nein, hier sind so starke, destruktive Kräfte im Spiel, dass sie immer wieder die zivilisierte Oberfläche durchbrechen.

Auch dort, wo das Christentum schon jahrhundertelang verkündet worden ist, kann derlei geschehen. Ich denke an die Kriege auf dem Balkan in den 90er Jahren, als ja nicht nur von Konflikt zwischen Moslems und Christen die Rede war, sondern auch zwischen alten christlichen Völkern wie Serben und Kroaten. Machthungrige und zynische Politiker nutzten die Erinnerung an Kränkungen aus, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen, Menschen, die lange Zeit friedlich nebeneinander gelebt hatten. Ungeheuerlichkeiten waren bekanntlich das Ergebnis. Die Propaganda pustete mit großer Wirkung die Erinnerung an Kränkungen, an alte Unrechtstaten, an tatsächliche und behauptete Übergriffe auf, die schon längst Geschichte waren. Das unbedeutendste Ereignis ließ sich dazu benutzen, in aufgeblasener Form Feindbewusstsein zu wecken, so dass bisherige Mit-Menschen zu Gegen-Menschen, zu Feinden wurden. Jetzt war die Stunde der Rache gekommen! Der gerechten Rache, der süßen Rache!

Ja, wie süß war die Rache eigentlich, wenn es darauf ankam?

 

Wie steht uns nun bei uns selbst mit der Erinnerung an Kränkungen? Man hat über unsere heutige Gesellschaft gesagt, nie habe es ein so oft vorkommendes Bewusstsein davon gegeben, Opfer von irgendetwas zu sein. Man hat geradezu davon gesprochen, dass wir in einer Opferkultur leben. Es sei auffällig gewöhnlich, dass man sich an den Gedanken hängt, irgendein Missstand in seinem Dasein sei die Schuld anderer. Versteht doch, dass ich ein Opfer bin! Mir sollst du nicht die Schuld geben, es ist nicht meine Verantwortung, ich bin Opfer.

Es ist vielleicht etwas dran, dass eine derartige Neigung vorkommt. Aber es gibt ganz sicher auch viele Fälle, wo ganz reell davon die Rede ist, dass ein Mensch ohne eigenes Verschulden z.B. unter Kränkungen in seiner Kindheit (oder was sonst noch in Frage kommt) leidet. Unglückliche Zustände irgendeiner Art, von denen man nicht einfach absehen kann. Wir müssen uns also hüten, mit dem Finger auf andere zu zeigen.

Aber auch wenn es schwieriger sein mag, als man denken sollte, sollten wir uns bemühen, zwischen reeller und unnötiger Opferidentität zu unterscheiden. Und unter allen Umständen kann jeder einzelne von uns doch versuchen, sich selbst nüchtern zu betrachten. Kenne ich nicht selbst das Gefühl, in - streng genommen unnötigem - Gekränktsein gefangen zu sein? Weiß ich selbst nichts davon, wie beherrschend die Erinnerung an Kränkungen sein kann, wie sehr sie mich beeinträchtigen, mich in Misstrauen und Wachsamkeit begraben kann? Wie unfrei und zwanghaft ich werde, wenn ich die Erinnerung an Kränkungen pflege?

"Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen", sagte also Jesus hier in seiner Bergpredigt. Macht es damit wie Gott, der großzügige Gott, der die Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und der es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte - Macht es wie Gott, tretet hervor als Kinder Gottes! Vertrauensvoll und frei, unbesorgt. Aus dem reichen Bewusstsein, dass ihr Gottes Kinder seid. Empfänger eines Segens aus der Tiefe des Lebens. Gebunden an Gott mit stärkeren Banden als an irgendeine Erinnerung an Kränkungen.

Die Unbekümmertheit, die in der damaligen Gesellschaft den Reichen und Mächtigen vorbehalten war, weitet Jesus aus für die Ärmsten und Geringsten: Selig sind die Armen. Selig sind die, die weinen. Zu euch sage ich: Ihr sollt euch nicht sorgen! Fürchtet euch nicht.

Wenn man Angst hat, sich schwach fühlt, ist der Feind eine starke Bedrohung, der der Unrecht tut, eine beherrschende Figur im Bewusstsein. Aber Jesus will uns Vertrauen zu Gott geben, ein Bewusstsein, in der Hand eines Stärkeren zu sein; Jesus will uns eine Freiheit von Angst lehren, ein Vertrauen zum Leben, das es möglich macht, großzügig miteinander zu leben, es wie Gott zu machen - so großzügig zu sein, dass es möglich ist, auch den Feind als seinen Nächsten zu sehen und für den Verfolger zu beten und Erinnerungen an Kränkungen fahren zu lassen.

Hat man dann keine Feinde mehr, sieht man dann niemanden mehr als seinen Beleidiger oder Kränker? Nein, vorbeisein soll es mit dem Rachedenken und überhaupt mit den von Zwang bestimmten Verhältnissen. Gib dies Muster der Vergeltung auf, befrei dich von dem dunklen Zwang in eurem gegenseitigen Verhältnis. Es werden auch künftig Verhältnisse von Gegensätzen vorkommen, aber auch der Gegner und der, der Unrecht tut, ist ein Mensch; du sollst ihn oder sie lieben, bete für ihn oder sie!

Allerdings hat man sich darüber im Klaren zu sein, dass die Bibel das Wort lieben anders verwenden kann, als wir automatisch glauben. - Vor wenigen Wochen handelte der Predigttext davon, dass es Jesus zufolge notwendig sei, seine Mutter und seinen Vater, seine Ehefrau und Kinder usw. zu hassen, um Jesu Jünger sein zu können. Wie ich an jenem Sonntag erklärte, wird das Wort hassen an der Stelle nicht von den starken Gefühlen gebraucht, die wir mit Hass verbinden. Dass Wort könnte besser so wiedergegeben werden, dass wir imstande sein sollten, nein zu sagen zu Eltern usw., nein zu sagen zu dem, was uns an einer größeren Verpflichtung hindert; nicht in etwas gefangen zu sein, das uns daran hindert, unser eigene Antwort auf das Leben zu finden.

Entsprechend ist es nicht der Sinn der Worte Jesu, seinen Feind zu lieben, dass wir notwendigerweise warme Gefühle für den Gegenpart nähren sollen. Heute macht man oft das Fühlen zum entscheidenden Faktor - ich fühlte, dass ich etwas Bestimmtes tun musste - als ob, wenn man nur etwas fühlt, dann keine weiteren Argumente mehr nötig wären. Hier im Text des Evangeliums geht es nicht so sehr um innere Regungen als vielmehr und Haltung und Handlung. Ebenso wie 'hassen' nur 'nein sagen' bedeuten kann, kann 'lieben' einem 'Ja' entsprechen. Es geht darum, in Haltung und Handlung 'ja' dazu zu sagen, dass man in seinem Gegenpart einen Mitmenschen sieht. Nicht dass es uns so leicht fiele, dem zu entsprechen, auch hier kommen wir zu kurz und bedürfen der Vergebung, aber dann wieder der Ruf an uns nach Haltung und Handlung: Sieh auch deinen Feind als deinen Nächsten.

Jesus leugnet nicht, dass wir Feinde haben können - dass es reelle Konflikte gibt; die gab es doch auch in seinem eigenen Leben. Aber er zeigt eine andere Haltung als die der Vergeltung und des Zwanghaften. Selbst am Kreuz: "Vergib ihnen..."

Das bedeutet nicht, dass wir von Gegensätzen absehen sollen. "Vergib ihnen..." macht nur Sinn, wenn etwas zu vergeben ist, also wenn das etwas Böses ist; dás wird nicht ausgeglichen. Und Jesus bringt in der Bergpredigt den Wunsch zum Ausruck, dass wir so deutlich dastehen, als Menschen dastehen, deren Ja ein Ja ist, und deren Nein ein Nein ist. Und deutliche Menschen können auf die Dauer Konflikt nicht vermeiden. Aber es macht einen großen Unterschied, ob man deutlich ist, indem man sich selbst behauptet und unversöhnlich ist - oder ob man deutlich ist, indem man in Vertrauen ruht, indem man sich als Kind Gottes umfangen weiß von einem Segen aus der Tiefe des Lebens, so dass man auch einen Feind oder Kränker als einen Menschen sieht, der wie man selbst von der Liebe Gottes umfangen ist.

Du bist Kind Gottes. Die Unbekümmertheit, die damals den Reichen und Mächtigen vorbehalten war, weitet Jesus auf die Ärmsten und Geringsten aus: Selig sind die Armen. Selig sind die, die weinen. Ich sage euch: Ich sollt euch nicht sorgen! Fürchtet euch nicht!

Aus der Tiefe des Lebens strömt eine Liebe und ein Licht, von dem dich kein Feind oder Kränker abzuschneiden vermag. Darin bist du geborgen, im Leben wie im Tod.

Amen



Pastor Johannes Værge
Hellerup (Dänemark)
E-Mail: johs.v(a)mail.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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