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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 27.07.2008

Predigt zu Römer 11:25-32, verfasst von Klaus Pantle

1

Liebe Gemeinde,

im Jahre 1916 reiste der amerikanische Journalist John Reed als Kriegsberichterstatter durch Südosteuropa. „Makedoniens Bevölkerung besteht aus einem ethnischen Nebeneinander unvorstellbarer Sprengkraft", schrieb er. „Türken, Albaner, Serben, Rumänen, Juden, Zigeuner, Griechen und Bulgaren leben Seite an Seite, ohne sich zu vermischen - und so leben sie seit den Tagen des Apostels Paulus." Und seither, so sein Schluss, gibt es dort keinen Frieden und so lange das so ist, wird es keinen Frieden geben.

Muss das wirklich so sein? Wir kennen die Parolen: „Deutschland den Deutschen", „Palästina den Palästinensern", „Makedonien den Mazedoniern". Ist Frieden wirklich nur möglich, wenn die Welt in lauter kleine Nationalstaaten zerfällt mit ethnisch homogener Bevölkerung wie in Südosteuropa? Und sei es um den Preis von Krieg, Tod, Zerstörung und Vertreibung der jeweils anderen? Oder kann das auch gelingen, dass Menschen unterschiedlicher Ethnien, Kulturen und Religionen miteinander oder wenigstens nebeneinander friedlich leben?

Vielleicht könnte die Beschäftigung mit Paulus helfen, darauf Antworten zu finden. Paulus, der „Apostel der Völker" (Röm. 11, 13), war Kosmopolit, ein typischer Stadtmensch, ein weit gereister und Welt erfahrener Missionar. Er nutzte zwar die Infrastruktur seiner jüdischen Glaubensgenossen in den Städten der Diaspora für seine Missionstätigkeit. Aber mit der provokativen Botschaft: „Ihr seid allesamt einer in Christus Jesus" (Gal. 3, 28) wandte er sich an alle Menschen aus allen Völkern und sozialen Schichten, die im „ethnischen Nebeneinander unvorstellbarer Sprengkraft" in den von ihm bereisten Städten lebten.

2

Ich stelle mir vor, ich würde ein Drehbuch für einen Paulus-Film schreiben. In diesem Film reiste er durch unsere heutige Welt und konfrontierte sie mit seiner Botschaft.

Die erste Filmsequenz spielt im Gerichtssaal einer großen Hauptstadt. Vor einem Tribunal aus Militärs, Zivilisten und religiösen Repräsentanten steht Stephanus. Ihm wird vorgeworfen, die Nation verraten, Gott beschimpft, heilige Orte und das Gesetz angegriffen zu haben (Apg. 6, 13-14). Stephanus wird eingeblendet, als er gerade seine letzten Worte spricht: „Ihr Halsstarrigen, mit verstockten Herzen und tauben Ohren, ihr widerstrebt allezeit dem Heiligen Geist, wie eure Väter, so auch ihr. Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben getötet, die zuvor verkündigten das Kommen des Gerechten, dessen Verräter und Mörder ihr nun geworden seid. Ihr habt das Gesetz empfangen durch Weisung von Engeln und habt's nicht gehalten. (Apg. 7, 51-53). Danach bricht ein Tumult aus wie wir ihn von Schauprozessen totalitärer Regime des 20. Jahrhunderts kennen. Stephanus wird zum Tode verurteilt und exekutiert. Paulus schaut zu. Er steht inmitten mächtiger Autoritätspersonen. Sein Gesichtsausdruck ist hart, sein Blick leicht angewidert.

Die nächste Sequenz zeigt Paulus in einer dunklen Limousine auf der Fahrt durch eine karge Landschaft. Er ist unterwegs in eine andere Stadt im Auftrag der Machthaber, die er unterstützt, zur Bekämpfung deren Feinde dort. Die Kamera streift über die Häuser verlassener Dörfer. Bewaffnete, Frauen, Alte und Kinder stehen am Straßenrand, verzweifelt und stumm. Paulus fühlt sich schlecht. Er legt sich die Hand auf die Stirn und wird bewusstlos. Das Auto hält an, sein Begleittross versammelt sich beunruhigt um den Wagen. Paulus liegt auf dem Rücksitz, mit halb geöffneten Augen. Es erklingt eine Stimme, die nur er hören kann: „Paulus, Paulus, warum verfolgst du mich?" Er antwortet wie im Delirium: „Wer bist du, Herr?" Die Begleiter begreifen nicht, was vor sich geht. „Ich bin Jesus, den du verfolgst. Doch steh auf, geh in die Stadt, und dort wird man dir sagen, was du zu tun hast." (Apg. 9, 4-6*). Paulus, benommen und offensichtlich blind, wird weiter gefahren und in die Stadt gebracht. Dort, im Hotel, kommt am Tag darauf Ananias zu ihm aufs Zimmer. Er ist Anführer einer der Gruppen, an deren Verfolgung Paulus bisher beteiligt war. Bei dieser Begegnung wird er wieder sehend. Ananias tauft ihn und nimmt ihn mit zu einem Treffen seiner Gruppe. Deren Mitglieder erschrecken, als sie Paulus sehen. „Ist das nicht der Mann, der in Jerusalem die Bekenner dieses Namens auszurotten trachtete? Ist er nicht hierher gekommen, um sie auch hier festzunehmen und vor die Hohenpriester zu schaffen?" (Apg. 9, 21). „Ist er nicht ein verbohrter Vertreter so genannter nationaler Werte?" „Besteht Tradition für ihn nicht aus Autorität und Hass, Rassismus und Diskriminierung?" Langsam legt sich das Gemurmel. Paulus blickt sich um, lächelt demütig und sagt leise: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit" (Gal. 5, 1).

Es folgen Szenen, in denen Paulus unterwegs ist. Man sieht ihn, wie er vor kleinerem oder größerem Publikum redet: Jesus ist der Christus. Er ist der Messias.". Leise, nachdrücklich wiederholt er das, zumeist lächelnd, freundlich, aber gegebenenfalls auch aggressiv, mit hartem Gesichtsausdruck: Er wurde gekreuzigt und ist gestorben. „Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden" (1. Kor. 15, 20-22). Wir können leben. Der Tod kann unser Leben nicht mehr verneinen. Und das gilt für uns alle. „Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen (Röm. 10, 12). „Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet" (Röm. 10, 9).

Die Kamera schwenkt über die Menschen im Publikum, Gesichter, die freundliche Zustimmung erkennen lassen, erstaunte Blicke, verständnisloses Kopfschütteln, wütendes Zischen, verärgerte Zwischenrufe. „Auferstehung? Na ja." „Wenn wir tot sind, sind wir tot, das weiß doch jeder aufgeklärte und einigermaßen gebildete Mensch!"

Paulus steht am Rande einer Stadt, dort wo sie ausfranst und übergeht in eines der verslumten Zigeunerquartiere, wie man sie im Osten der Slowakei finden kann. Um ihn herum stehen abgerissene Menschen. So genannte einheimische Arme streiten mit Zigeunern. Schwache treten nach noch Schwächeren.

„Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Gal. 3, 26-28). Bekennt euch zu ihm und seid einig in ihm und ihr werdet Kraft finden, euer Leben in Würde zu leben.

Man sieht Paulus im Gespräch mit Professoren und Studenten an Universitäten und Akademien. Er lässt sich ein auf philosophische Diskussionen über Erkenntnis und Wahrheit. Die Stimmung ihm gegenüber ist freundlich reserviert und schlägt ab und zu unvermittelt um in Unverständnis und Feindseligkeit. „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist's eine Gotteskraft. Denn es steht geschrieben (Jesaja 29,14): ‚Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen‘" (1. Kor. 1, 18f.). Man kann Wahrheit nicht erkennen, man sich nur zu ihr bekennen. Jesus, der Messias, ist die Wahrheit, und dass er auferstanden ist und alle lebensfeindlichen Mächte besiegt hat und uns frei macht, gemeinsam als „einer in Christus Jesus" zu leben. Das ist die Wahrheit.

Paulus, im dunklen Gesellschaftsanzug, steht bei einem Empfang, auf dem sich die Elite des Landes trifft. Er ist vertieft in ein Gespräch mit gut gekleideten Männern und Frauen. Ihre Gesichter sind freundlich, irritiert oder reserviert. Die Liebe ist das Größte. (1. Kor. 13, 13). Die Liebe Gottes wendet sich unermüdlich an alle: an Griechen, Juden und andere Völker, an Gruppen und Gemeinschaften, Frauen, Männer und Kinder, an Freie und Sklaven, Arme und Reiche. Gottes Liebe kennt keine Grenzen. Sie erneuert und verwandelt Personen und Gemeinschaften und Kulturen. Sie bewegt die Bekennenden zur Liebe. „‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst'. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung." (Röm. 13, 9f.). Jeder ist euer Nächster.

Man sieht Paulus inmitten einer Runde aus Mitarbeitern und Gesinnungsgenossen tagen. Er agitiert vehement gegen die, die rigidere Zulassungsbedingungen für die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft aufstellen wollen. „Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben." (Gal. 2, 19f.) Nichts von dem was wir sind, sind wir aus uns selbst. Alles Heil, das wir erfahren, erhalten wir grundlos geschenkt. Gott überzieht uns alle geradezu mit einem Exzess an Gnade!

Auf dem großen Platz einer Stadt trifft Paulus einige Mitglieder seiner „alten Partei". Sie streiten heftig und werden fast handgreiflich. Äußerst erregt entfernt sich Paulus. Beim Weggehen hört man ihn sagen: „Sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht" (Röm. 10, 3f.). Herkunft, Stammbaum, Bildung, Reichtum, religiöse oder konfessionelle Zugehörigkeit, all das spielt vor Gott keine Rolle. Christus wurde für alle gleichermaßen auferweckt!

Dazwischen werden immer wieder andere Bilder eingeblendet: Paulus sitzt erschöpft da. Schwer krank liegt er in einem Hotelzimmer auf dem Bett und starrt ins Leere. Er kniet über einem Stuhl und betet. Alpträume quälen ihn. Er wird verfolgt, auf der Straße in dunkle in Hinterhöfe gezerrt und von schwarz gekleideten Gestalten verprügelt. Polizisten nehmen ihn fest, verhören und schlagen ihn. Als Aufrührer und Bedrohung für die Nationale Sicherheit wird er eingesperrt. Nachts geht er alleine oder in Begleitung, zu Fuß durch Stadtwüsten oder sitzt im Auto auf der Flucht.

Gegen Ende des Films sieht man sein gezeichnetes und sichtlich gealtertes Gesicht in Großaufnahme. Paulus sitzt an einem Tisch und schreibt sein Testament. Er denkt nach über die harten Auseinandersetzungen mit den Mitgliedern seiner „alten Partei". War es wirklich richtig, dass er sie so abgekanzelt und verdammt hat? Ja, es war richtig! Oder doch nicht? Nach langer Überlegung schreibt er: „Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): ‚Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde‘. Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme." (Röm. 11, 25-32). Gottes Gnade ist grenzenlos und auch sein Heil. Er wird Wege finden, dass es letztlich alle finden. Am Ende steht die grenzenlose Eskalation der Liebe Gottes. Worauf könnten wir sonst hoffen?

Paulus verlässt sein Hotel. Es ist Nacht. Zwischen dichtem Autoverkehr überquert er eine breite Straße und erreicht einen Park. Er atmet auf. Auf seinem Gesicht sieht man Angst und Schmerz und gleichzeitig auch Ruhe. Er verschwindet in der Dunkelheit. Plötzlich hört man zwei peitschenartige brutale Gewehrschüsse.

3

Liebe Gemeinde,

eine heute gültige Definition von Mission im Sinne Paulus und über Paulus hinaus könnte heißen: Ich zeige anderen, was ich liebe (Fulbert Steffensky). Das könnte bedeuten: In all den vielfältigen Konflikten, die um uns herrschen, in allem „ethnischen Nebeneinander unvorstellbarer Sprengkraft" und allen konfessionell, religiös und kulturell motivierten Auseinandersetzungen hinein zeigen wir Christen, was uns wie Paulus wichtig ist: Gottes Heilsversprechen ist universal. Gottes Liebe, die für uns wahr geworden ist in der Auferstehung Jesu gilt allen Menschen. Diese Liebe ist so unermesslich wie unbegründbar. Sie schwemmt alle Grenzen zwischen Menschen hinweg. In ihr können wir leben, in aller Verschiedenheit mit unseren jeweils eigenen religiösen, kulturellen und ethnischen Besonderheiten, miteinander und nebeneinander. In ihr können wir alle Konflikte, die sich aus unserer Verschiedenheit ergeben, friedlich lösen.

Amen.

(Es wäre sinnvoll, die kursiv geschriebenen Bibelzitate von einer zweiten Person sprechen zu lassen).

 



Pfarrer Klaus Pantle
Stuttgart-Gaisburg
E-Mail: info@gaisburger-kirche.de

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