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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 27.07.2008

Predigt zu Matthäus 11:16-24, verfasst von Ulla Morre Bistrup

Das Landestreffen der dänischen Gymnastik- und Sportvereine ist ein Sportereignis, das alle vier Jahre stattfindet. Hier sind nicht nur die Spitzensportler eingeladen, sondern vor allem der Breitensport mit allen seinen Aktiven. Und alle sind auf dem grünen Rasen mit Vorführungen, an denen hunderte von aktiven Gymnasten zugleich teilnehmen. Das Jahr 2006 war ein solches Jahr des Landestreffens, das Anfang Juli in Hadersleben stattfand - unter, wie man feststellen musste, relativ geringer Aufmerksamkeit von Presse und Medien.

             Aber was noch schlimmer war: Auch die Teilnehmerzahl enttäuschte. Vier Jahre vorher fand das Treffen in Bornholm statt, und damals erklärte man die geringe Teilnehmerzahl mit der geographischen Lage der Insel. Die Tendenz hat sich also in Hadersleben wider Erwarten bestätigt. Und man hat seitdem verschiedene Ursachen angeführt.

             Ein Vertreter der Vereinigung ließ verlauten, dass mit der Zeit vermutlich weniger Prestige damit verbunden sei, Gymnast Nr. 1250 in einer Fitnessgruppe zu sein, weil der Individualismus sich auch hier durchsetze.

             Von einem allgemein schwindenden Interesse für Sport kann man allerdings nicht sprechen; davon hat der Sommer des Jahres 2006 mit seinem "Teilnehmer-"rekord bei der Weltmeisterschaft im Fußball und bei der Tour de France ein beredtes Zeugnis abgelegt. Wohlgemerkt: vor dem Fernseher!

             Man will gleichsam nicht selbst mit dabeisein, ja, nicht einmal an Ort und Stelle sein, sondern man will lieber Publikum im eigentlichsten Sinne sein - nämlich Publikum eines Publikums, das einem Ereignis beiwohnt.

             Ihr erinnert euch sicher an die aufsehenerregende Erklärung einer früheren dänischen Kulturminsterin, dass es ihr mit dem Sport wie mit dem Sex ginge. Es mache nun einmal mehr Spaß, selbst mit dabei zu sein als nur dabei zuzusehen! Diese Auffassung teilt sie ancheinend nicht mit der Mehrzahl der Bevölkerung - jedenfalls nicht, wenn es um Sport geht. Und nach Aussagen von Sexologen übrigens auch nicht, wenn es um Sex geht...

             Dafür gibt es alle möglichen Gründe. Unmittelbar am einleuchtendsten ist natürlich der Gruns, dass je mehr Medien dabeisind, desto bessere Möglichkeiten für das Publikum bestehen, ohne dass man sich überhaupt von der Stelle zu bewegen braucht. Man kann ja an den Erlebnissen Anderer teilhaben, ohne selbst an Ort und Stelle zu sein. Und dabei ist es ganz gleich, ob es sich um die dramatische, romantische oder erotische Welt des Films oder um die Dramen im Fußballstadion oder um die Leiden bei einer Bergetappe der Tour de France handelt.

             Und jedesmal, wenn der Mensch die Möglichkeit geboten bekommt, sich auf bloßes Publikum reduzieren zu lassen, hat er - auf irgendeine Weise - immer davon Gebrauch gemacht. Und das hat wohl mit etwas so Menschlichem wie Faulheit und Bequemlichkeit zu tun.

             Es geht darum, sich nicht in irgend etwas hineinziehen zu lassen, keine Verantwortung zu übernehmen und sich nicht selbst einzubringen. Bekanntlich ist es leichter, über die Politiker, die Resultate beim Sport und über die lokale Schule oder Kirche zu fluchen und zu schimpfen, wenn man selbst glaubt, an den Verhältnissen keinen Anteil zu haben.

 

Aber es hat auch in einem mehr existentiellem Sinn seine Bedeutung, und hier kann es verhängnisvoll sein. Wenn wir uns in irgendeiner Weise in unserem eigenen Leben mit der Rolle des Zuschauers abfinden. Wenn wir es dem Zufall oder den Normen und dem Beifall Anderer oder gar dem Fehlen daran überlassen, zu entscheiden, was wir in unserem Leben tun. Wenn man Sören Kierkegaards verbissene Kritik an seiner Zeit - und sie ist heute nicht weniger aktuell - in einer einzigen Linie zusammenfassen will, so geht es darum, dass wir weder geistig noch menschlich zu faulen und bequemen Spießbürgern werden, indem wir die Möglichkeiten und Herausforderungen unseres Lebens nicht annehmen und auf uns nehmen, sondern es uns nur im Theaterstuhl oder Fernsehsessel bequem machen wie ein distanziertes Publikum für die Art und Weise, wie unser Leben verläuft. Kierkegaard nennt das "uneigentlich leben".

             In "Entweder-Oder" schreibt er: Es geschah auf der Bühne eines Theaters, dass die Kulissen Feuer fingen. Hanswurst trat auf, um das Publikum davon in Kenntnis zu setzen, man glaubte, das sei ein Witz und applaudierte, er wiederholte es, man jubelte noch mehr. So, denke ich, wird die Welt untergehen unter dem allgemeinen Jubel von witzigen Köpfen, die glauben, das sei ein Witz.

             Unser eigensinniges Beharren darauf, "nur" Zuschauer einer Wirklichkeit zu sein, die "nur" ein Witz ist - mit der Folge unseres menschlichen Untergangs.

 

Im heutigen Text geht es genau darum. Da kritisiert Jesus seine eigene Zeit: Mit wem soll ich dieses Geschlecht vergleichen...? Es gleicht den Kindern, die auf dem Markt sitzen und den anderen zurufen: Verwöhnte Kinder, ihr wollte nicht tanzen, wenn die Flöte gespielt wird, und ihr wollt nicht trauern, wenn Klagelieder gespielt werden, sondern ihr wollt lieber als Zuschauer sitzen bleiben - noch dazu wie lärmendes und störendes Publikum.

             Die Kinder haben keine Lust, Hochzeit oder Beerdigung zu spielen - und es ist kein Zufall, dass uns gerade diese Assoziationen einfallen - die größte Freude und den größten Kummer halten wir weg von uns. Denn worum geht es hier in dem Zusammenhang, in dem Jesus spricht? Es geht um alle diejenigen, die so gern als Publikum auftreten möchten, als Zuschauer Johannes des Täufers, der, wie wir wissen, von großen Menschenmengen aufgesucht wurde, die sich seine strenge Verurteilung ihres Lebens und ihrer Oberflächlichkeit angehört und gesehen haben, wie sonderbar er lebte - bekanntlich nur von Heuschrecken und wildem Honig und dergleichen. Und obwohl es da etwas gab, was sie anzog, haben sie sicher auf dem Heimweg den Kopf geschüttelt und davon gesprochen, dass der Mann besessen war. Um auf diese Weise seine Worte von sich fern zu halten. Um weiterhin das Publikum zu sein zu können, das persönlich nicht beteiligt, angesprochen und durchschaut war. Und so war es auch mit Jesus - dem Menschensohn - der vermutlich noch größere Volksmengen anzog, die ihn mit großer Verwunderung nicht nur vom Tag des Gerichts reden hörten, sondern auch von der Gnade und der Liebe Gottes. Er gab sich mit allen möglichen Leuten ab, sagte, dass die Regeln über den Sabat und Speiseregeln und alle Vorschriften der Reinlichkeit sekundär seien, und er machte Wasser zu Wein. Obwohl also vielleicht das, was er sagte, die inneren Saiten der Menschen auf eine Weise stimmte, wie es nie zuvor geschehen war, so kam man eilends zu dem Schluss - etwa in den Städten Chorazin, Betsaida und Kapernaum -, dass Jesus kaum zurechnungsfähig sei. Ein Schlemmer und ein Trinker, ein Freund der Zöllner und Sünder. Um ihn und seine Botschaft von sich fern zu halten. Um - einmal mehr - das distanzierte Publikum zu sein.

 

Und heute sind wir also in die Kirche gekommen und ungeachtet, ob wir aus Gewohnheit oder einer plötzlichen Eingebung gekommen sind, so gelten die Worte sowohl Jesu als auch Kierkegaards auch uns - als Fragen, aber ganz besonders als Aufforderung und Ermunterung:

             Wagen wir es gerade jetzt, etwas anderes zu sein als Publikum? Wagen wir es, den Fotoapparat oder den inneren Merkzettel liegen zu lassen und stattdessen ein Gesangbuch zur Hand zu nehmen und Ohren, Augen und Herz zu öffnen und wirklich mit dabei zu sein und teilzunehmen? So dass wir nicht nur Zuhörer sind, wenn - na, ja - wesentliche Worte eines bemerkenswerten Mannes, nämlich Jesu, gesprochen werden? Und nicht nur Zuschauer feierlicher und hübscher Rituale in festlichem Rahmen? Aber wagen wir es, uns den Worten zu öffnen und uns selbst zu fragen, ob wir es nicht im Grunde sind, um die es hier geht. Um unser Leben, das auf dem Spiel steht, als ein Leben, das man auf sich zu nehmen und auszufüllen hat - nicht mit Zufällen und mit den Normen der Anderen, sondern mit uns selbst. Um unsere Entscheidungen und unsere Verantwortung, unsere Aufgaben und Möglichkeiten. So wie sie zu uns kommen - vielleicht in Gestalt des kleinen Kindes, das Ihr heute habt taufen lassen, in Gestalt der Menschen, mit denen wir zusammen gehören, in der Schönheit, in dem Genuss und den Begegnungen, die jeden Tag neu machen, und selbstverständlich in den Schwierigkeiten, mit denen wir selbst und unsere Mitmenschen uns herumschlagen und herumschlagen müssen.

             Dann könnte es doch sein, dass wir anstatt über den Hanswurst zu lachen, der uns erzählen will, dass das Theater brennt, das Feuer und vielleicht auch das Fernsehen ausmachen und uns in die Wirklichkeit hinausbegeben könnten, in der wir mehr sind als nur Publikum. Amen



Lektor Ulla Morre Bistrup
Rønde (Dänemark)
E-Mail: umb(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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