Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 27.07.2008

Predigt zu Matthäus 6:10b, verfasst von Marco Hofheinz

Predigtreihe zum Unservater / 10. Sonntag nach Trinitatis (Israel-Sonntag)

Mt 6,10b (Unservater-Bitte: „Dein Wille geschehe")

Liebe Gemeinde!

„Dein Wille geschehe!" - Eine der schönsten biblischen Geschichten, die uns den Willen Gottes in erzählerischer Form nahe bringen, ist die Geschichte vom Träumer Josef und seinen Brüdern.[1] In ihr wird nichts an Emotionen ausgelassen: Mitleid, Freude und Liebe, aber auch Neid, Zwietracht, Hass und Gewalt - alle hohen und niederen Empfindungen kommen zur Sprache. Josef ist Papa Jakobs Liebling. Während seine elf Brüder draußen bei der Herde die Arbeit verrichten müssen, macht es sich Josef daheim gemütlich. Es wäre ja auch zu schade, wenn er seinen bunten Rock, den ihm Papa Jakob maßschneidern ließ, mit Schafsmist besauen würde! Seine zehn Brüder mögen den eingebildeten Rahel-Sohn Josef nicht, der sich mit seinem bunten Rock aufbläht wie ein Pfau.

Und dann erst seine Träume! Stellen wir uns vor, liebe Gemeinde, unser kleiner Bruder würde zu uns sagen: „Ich hatte einen Traum. Wir banden Garben auf dem Feld. Meine Garbe richtete sich auf und stand, aber eure Garben verneigten sich vor meiner Garbe" [Gen 37,7]. So etwas bringt uns in Rage, weil es unsere natürlichen Familienverhältnisse umkehrt: Der Kleine erhebt sich über die Großen. Die Großen huldigen dem Kleinen. Das ist verkehrte Welt! Auch Josefs Brüder waren sich schnell einig: „Dem arroganten Schnösel geben wir einen Traum!" Bei der nächstbesten Gelegenheit verkaufen sie ihn als Sklaven nach Ägypten. Dem ungleich liebenden Vater präsentieren sie Josefs blutverschmierten bunten Rock und erzählen ihm, ein wildes Tier habe Josef gerissen.

Doch Josef macht selbst in der Sklaverei und im Gefängnis als Traumdeuter Karriere. Am Ende eines Ränkespiels aus Lug, Trug und Intrigen steht er als stellvertretender Pharao vor seinen elf halbverhungerten Brüdern und spricht: „Bekümmert euch nicht und denkt nicht, dass ich darum zürne, dass ihr mich verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch hergesandt [...]. Gott hat mich hergesandt, dass er euch übriglasse auf Erden und euer Leben erhalte zu einer großen Errettung" (Gen 45,5.7). Am Ende seines Lebens formuliert Josef das Resümee seiner story: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk" (Gen 50,20).

Josef formuliert das Fazit seiner Lebensgeschichte und dieses Fazit ist ein einzigartiges Bekenntnis zum geschichtsmächtigen und geschichtskräftigen Wirken Gottes. Das, was auf den ersten Blick als eine verschobene Familiengeschichte erscheint, erweist sich als Teil einer sehr viel größeren Geschichte, als Teil der Bundesgeschichte Gottes mit seinem bleibend erwählten Volk Israel und nur so auch als Bestandteil der story Gottes mit uns übrigen Menschen aus den Heidenvölkern. Eine Geschichte, die mit Zank, Streit, Hass und Zwietracht begann, enthüllt sich als eine Geschichte göttlicher Vorsehung - Vorsehung für die Seinen und somit als Geschichte von Gottes vorsorglicher Für-Sehung. Josef sagt sinngemäß: „In meinem Leben hat sich Gottes Wille ereignet! Gott hat seinen Willen nicht etwa im Himmel gebildet und dort für sich behalten. Nein, wie im Himmel so hat Gott auch auf Erden seinen Willen kundgetan und seinen Willen vollzogen, in meiner Geschichte, in der Josefsgeschichte, die Bestandteil der Geschichte Gottes mit meinem Volk ist."

Ja, liebe Gemeinde, der, der die letzte Kontrolle über die Geschichte seines Volkes hatte und hat, das waren und sind nicht die Brüder Josefs. Als sie Josef in die Sklaverei verkauften, meinten sie zwar, dass sie alles unter Kontrolle hätten. Und doch mussten sie vor Josef stehend feststellen, dass ein anderer die Fäden gezogen und gespannt hat, dass eine Hand gewirkt hat, die stärker und mächtiger war als ihr eigenes böses Tun, als ihr Verrat am Bruder. Der wahre Held der Josefsgeschichte ist nicht der kleine eingebildete Traumdeuter, das „Papasöhnchen" Josef, sondern der wahre Held dieser Geschichte ist derjenige, der die Josefsgeschichte überhaupt erst erzählenswürdig macht. Die Josefsgeschichte ist nämlich die Geschichte vom verborgenen Wirken des Willens Gottes, vom geheimen Plan, den Gott beharrlich und zielsicher verfolgt. Hier triumphiert sein Wille.

Uns wird freilich nicht erzählt, wie dies geschieht. Selbst die Bibel kann dies nicht tun. Selbst in der Josefsgeschichte wird nicht geschildert, wie Gott als der himmlische Autor die Rollen festgelegt und die Akteure in seinem Drama beeinflusst hat, so dass sie seinen Regieanweisungen entsprechend handeln. Ob Gott etwa der Frau des Potiphars einen Hormonstoß versetzt hat, oder in ihren psychischen Apparat so eingegriffen hat, dass sie gar nicht anders konnte, als ihn sexuell zu begehren, oder wie Gott in die biologischen und genetischen Strukturen von Flora und Fauna eingegriffen hat, so dass in Ägypten eine große Hungersnot entstand - all das wird uns nicht im Detail geschildert. Wie die Fäden des Geschichtshandelns Gottes aussehen, welche Konsistenz sie haben und wie dehn- und tragfähig sie sind, wird mit keinem Satz ausgeführt. Denn nicht das „Wie" des Handelns Gottes, sondern das „Dass" des Handelns Gottes ist entscheidend. Und deshalb wird auch nicht das „Wie" seines Willensvollzuges, sondern das „Dass" desselben geschildert. Uns wird in der Bibel zunächst nur die Josefsgeschichte in ihren Einzelheiten erzählt und erst daraufhin, erst im Nachhinein werden wir als Leser darüber informiert, dass niemand anderes als Gott selbst gehandelt und dass sein Wille triumphiert hat.

Liebe Gemeinde, kennen wir dies aus unserem eigenen Leben? Da muss so manche und so mancher von uns im eigenen Leben Dinge erleben, die man sich ganz, ganz anders vorgestellt hat. Da müssen wir Erfahrungen machen, die ganz und gar quer zu unserem eigenen Lebensplan stehen. Und so manches Mal fragen wir uns: Warum musste das geschehen? Wozu soll das gut sein? Doch manchmal dürfen wir auch die Erfahrung machen, die Josef gemacht hat, dass wir nämlich zurückblicken und feststellen: „Gott hat es gut mit mir gemeint in meinem Leben. Ich kann mir auf vieles keinen Reim machen und oftmals keinen Sinn erkennen, aber Gott hat auch aus dem Schlechten, aus dem, was verkehrt gelaufen ist, aus dem Sinnlosen das Beste gemacht."

Der Kirchenvater Augustin hat einmal sinngemäß gesagt: Unser Leben ist wie ein Hühnerhof, voll von ziellosen Spuren und wahrlosen Fährten im Dreck, die mal in diese und mal in jene Richtung führen. Sobald wir diese Spuren allerdings mit den Augen des Glaubens wahrnehmen, ergibt sich ein bestimmtes Muster, ein bestimmtes Schema, eine bestimmte Form, so als wären die Hühner von einer unsichtbaren Hand geführt worden.[2] 

Doch Vorsicht, liebe Gemeinde! Das heißt nun nicht, dass alles das, was auf Erden geschieht, Gottes Wille ist und seinem Plan entspricht. Johann Christoph Blumhardt bemerkt in seiner Auslegung des „Unservaters" treffend: Es herrscht in der Schöpfung des freien Gottes „viel fremder Wille [...] da haben die Kräfte der Finsternis, die in jeder Weise sich mächtig gemacht haben, durch alles hindurch für diese und jene Zeit namenlos viel Verderbnisse hereingebracht"[3]. Ich persönlich vermag beispielsweise nicht zu sagen: Es war Gottes Wille, dass die Mutter der kleinen Kinder so früh an Krebs gestorben ist. Ich kann auch nicht sagen: Es war Gottes Wille, dass in Auschwitz sechs Millionen Juden vergast wurden. Nein, ich kann mir ganz und gar nicht vorstellen, dass dies Gottes Wille war. Und in der Bibel wird auch mit keinem Wort gesagt, dass es Gottes Willen entsprach, dass die Brüder Josef töten wollten und er zu einem Sklaven wurde. Es wird auch mit keinem Wort gesagt, dass es dem Willen Gottes entsprach, dass der Pharao den Bäcker umbringen ließ, dem Josef im Gefängnis den Traum deutete. Und es wird auch nicht gesagt, dass Josefs pfauenhaftes Gehabe Gottes Wille war. Es wird nur gesagt, dass Gott es gedachte, gut mit Josef zu machen. Deshalb müssen wir als Christenmenschen sehr, sehr vorsichtig mit unseren Geschichtsdeutungen sein und uns davor hüten, Gott und seinen Willen vorschnell auf bestimmte geschichtliche Ereignisse in unserer persönlichen Lebensgeschichte oder in der Weltgeschichte festzulegen. Es gibt auf Erden immer noch zu viele Brudermörder, als dass wir glauben könnten, dass alles, was sich hier ereignet, Gottes Wille ist.

Wenn wir nun im „Unservater" beten: „Dein Wille geschehe!" - dann könnte dies so klingen, als ginge es für den Beter nur darum, dass er oder sie den eigenen, rebellischen Willen ganz dem göttlichen Willen unterwirft. Darauf ist diese Bitte des Unservaters in der Auslegungsgeschichte oftmals beschränkt worden[4], leider auch von Martin Luther[5] und auch vom Heidelberger Katechismus in Frage 124. Johannes Calvin hingegen  spricht zwar auch von der Unterwerfung unseres Willens unter Gottes Willen, er macht aber im Genfer Katechismus deutlich, dass das Wort „Unterwerfung" in unzureichendem Maße das umschreibt, um was es in der 3. Bitte des „Unservaters" geht.[6] Wenn uns Jesus mit dem „Unservater" nämlich wirklich lehren will, wie wir beten sollen, wenn er das „Unservater" wirklich als eine „Gebetsschule" für seine Jüngerinnen und Jünger versteht, dann wird es auch in dieser Bitte um ein pädagogisches Unterfangen gehen, um eine bestimmte Lektion, die wir lernen sollen. Und die Lektion, die uns die 3. Bitte des Unservaters lehrt, besagt: Wir sollen lernen, zuerst nach Gottes Willen zu fragen, bevor wir uns an die Verwirklichung unserer eigenen Wünsche begeben. Wir sollen lernen, danach zu fragen, was Gott bereits und zuerst für uns getan hat, bevor wir uns ans Werk gehen. Wir sollen lernen, immer mehr „Er" und immer weniger „Ich" zu sagen. Doch wie lernen wir dies? Wie vollzieht sich so ein Lernweg?

Wenn wir bitten: „Dein Wille geschehe", dann richten wir all unser Verlangen, all unsere Sehnsucht nach Gottes Willen aus. Dann sehnen wir uns dem entgegen und strecken uns danach aus, dass Gott endlich seinen Willen in der Welt in aller Klarheit zu erkennen gibt und mit seiner Liebesmacht verwirklicht. Durch dieses sich im beständigen Gebet des „Unservaters" vollziehende beharrliche Ersehnen, dieses fortwährende Ausstrecken, dieses täglich neue Ausrichten üben wir eine bestimmte Haltung ein, nämlich jene Gebetshaltung, auf die es ankommt. Das, wonach wir uns ausstrecken, das, wonach wir uns ausrichten, das, was wir ersehnen, ist nichts anderes als Gottes Wille. Und indem wir uns nach seinem Willen ausstrecken und ausrichten, verlernen wir das Ausrichten, Ausstrecken und Sehnen nach unserem eigenen Willen. Unser eigener Wille wird umgewandelt. Er wird geheiligt. Unser Wille wird nicht einfach grobschlächtig und absolutistisch unterworfen. Er wird auch nicht gebrochen. Und er wird ebenso wenig einfach kurzerhand abgeschafft. Er wird vielmehr umgeformt und in die richtige Bahn gelenkt.

Indem wir beten „Dein Wille geschehe" verlernen wir es, Gott als Gebetsautomaten zu missbrauchen. Gerade durch unsere Konsumgesellschaft und unseren Kapitalismus werden wir zu jener Supermarktmentalität konditioniert, das Gebet so zu verstehen, als ginge es darum, Gott nach dem zu fragen, was wir gerne hätten: „Lieber Gott, gibt mir dies, gibt mir das, ein bisschen mehr hiervon und noch ein bisschen mehr davon." Wenn wir hingegen beten „Dein Wille geschehe", dann schult uns der Heilige Geist darin, das zu wollen, was Gott will. Dann verdeutlich er uns, dass es nicht um die Verwirklichung all unserer Wünsche, sondern um die Erfüllung des Willens dessen geht, der weiß, was seine Kinder wirklich brauchen: „Euer himmlischer Vater weiß, wessen ihr bedürft" (Mt 6,32). So sagt es Jesus in der Bergpredigt.

Liebe Gemeinde, wir merken an dieser Stelle, welch einschneidenden, revolutionären politischen Charakter das Gebet in einer Gesellschaft und Kultur hat, die nur auf die Befriedigung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse ausgerichtet ist. Uns wird hier deutlich, wie wahr der Satz Karl Barths ist: „Die Hände zum Gebet falten ist der Anfang der Auflehnung gegen die Unordnung der Welt"[7]. Möge Gott uns seinen Heiligen Geist schenken, dass es uns mit auf den Schulweg und mit ins Trainingslager nehme, um uns zu unterweisen, unseren Willen nach Gottes Willen auszurichten. So möchte ich denn schließen mit der Bitte Calvins, Gott möge „uns ein neues Gemüt und ein neues Herz schaffen, damit wir nichts selbstsüchtig von uns aus wollen, sondern vielmehr sein Geist unsere Wünsche leite, und sie so völlig mit Gottes Willen übereinstimmen."[8]

Amen.


[1] Den Hinweis darauf sowie weitere Impulse für diese Predigt verdanke ich der Auslegung des „Unservaters" von W.H. Willimon / S. Hauerwas, Lord, Teach Us. The Lord's Prayer and the Christian Life, Nashville 1996, 61-69.

[2] Diesen Hinweis auf Augustin verdanke ich W.H. Willimon / S. Hauerwas, a.a.O., 64.

[3] J.Chr. Blumhardt, Das Vaterunser, Basel 41946, 34f.

[4] So auch J.M. Lochman, Unser Vater: Auslegung des Vaterunsers, Gütersloh 1988, 70f.

[5] Vgl. Martin Luthers Auslegung der 3. Bitte im Großen Katechismus (BSLK 675,40-678,48). Auch Johannes Calvin folgt im Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis von 1537 noch Luthers Lesart. Vgl. Calvin-Studienausgabe Bd. 1/1: Reformatorische Anfänge, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1994, 189f.

[6] Vgl. J. Calvin, Genfer Katechismus von 1545, Abschnitt 40, Fragen 271-274. Leicht zugänglich in Calvin-Studienausgabe Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1997, 99ff.

[7] Zit. nach J.M. Lochman, Rechenschaft über einen theologischen Weg, in: Christoph Dahling-Sander u.a. (Hg.), Herausgeforderte Kirche. Anstöße, Wege, Perspektiven. FS Eberhard Busch zum 60. Geburtstag, Wuppertal 1997, (189-200) 197.

[8] J. Calvin, Genfer Katechismus von 1545, Abschnitt 40, Frage 273. Zit. nach Calvin-Studienausgabe Bd. 2, a.a.O., 101.



Dr. Marco Hofheinz
Wiss. Assistent an der Universität Bern
E-Mail: marco.hofheinz@theol.unibe.ch

Bemerkung:
Gottesdienst in der Ev. Trinitatiskirche zu Siegen-Eiserfeld (Ev.-reformierte Kirchengemeinde Eiserfeld)


(zurück zum Seitenanfang)