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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 27.07.2008

Predigt zu Römer 11:25-32, verfasst von Matthias Wolfes

„Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: ‚Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde' (Jes 59, 20 und Jer 31, 33). Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Unglauben, damit er sich aller erbarme."

 

Liebe Gemeinde,

 

einem solchen Text nähert man sich am besten langsam. Manches steht dort, was auf den ersten Blick merkwürdig, verwirrend und wohl auch problematisch erscheint. Wir wollen darüber nachdenken, was hier eigentlich gesagt wird, und jedenfalls ist es nicht ratsam, sogleich so zu tun, als sei alles klar. Das tut auch der Apostel nicht. Denn unmittelbar im Anschluß an diese Passage ruft er aus: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!" Das klingt ein wenig so, als lege Paulus die Verantwortung, für seine Worte einzustehen, aus der Hand und gebe sie „Gott" anheim. Von einer höheren Notwendigkeit gedrungen und gestützt auf die Schrift, hat er gesagt, was ihn der Gegenstand zu sagen nötigte; jetzt sollen andere sehen, wie sie damit umgehen.

 

Diese anderen sind wir. In der Tat liegt nun die Aufgabe bei uns. Aber es gilt besondere Sorgfalt! Bei keinem anderen Thema stehen wir mehr in der Pflicht zu kritischer Selbstbesinnung, als wenn es um das Verhältnis von Christen und Juden, Christentum und Judentum geht. Vielleicht meint der eine oder andere, hierüber sei in den letzten drei Jahrzehnten schon genug gesagt worden, und all die Predigten, Denkschriften und Synodenerklärungen hätten doch das Ihre bewirkt.

 

Es mag sein, daß wirklich eine Änderung im Verständnis des christlichen Glaubens eingetreten ist. Vielleicht wird nunmehr deutlich erkannt, wie er mit der Verehrung Gottes durch jüdische Gläubige geschichtlich und inhaltlich zusammengehört. Aber es leuchtet wohl auch ein, daß eine erst so kurzfristige Neubesinnung kaum die beinahe zwei Jahrtausende währende Fehlentwicklung schon hinreichend berichtigen konnte, zumal von ihr im übrigen keineswegs gilt, daß sie sich über die ganze Breite der heutigen Christenheit erstreckt. In der Anstrengung, an dieser Stelle die Kompromittierung des Christentums in aller Schärfe zu erkennen und nach bestem Vermögen an ihrer Korrektur und Überwindung mitzuarbeiten, liegt die entscheidende Bewährungsprobe für alle, die gegenwärtig in Kirche und Theologie wirken.

 

Es geht nicht mehr an, daß man sich der Aufgabe entziehe. Leicht möglich wäre das immerhin. Man bräuchte ja nur, in Verlängerung jenes Ausrufes des Apostels, auf die „Verborgenheit" Gottes hinzuweisen, von der der Prophet Jesaja spricht (45, 15). Man müßte nur resigniert wiederholen: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr" (Jes 55, 8). Niemand von uns hat „im Rat des Herrn" gestanden oder wäre sonst sein Ratgeber gewesen (1. Kor 2, 16; Jer 23, 18). Aber würde man dies tun, so läge darin ein Versagen, und es ließe den „Sinn des Herrn" (Jes 40, 13) nicht zur Entfaltung kommen. Unter Berufung auf diesen Sinn des Herrn spricht der Apostel den entscheidenden Satz aus: „Von Gott und durch ihn und zu ihm hin sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen" (Röm 11, 36).

 

Dies ist die unhintergehbare Linie. Sie markiert den Grenzbereich, jenseits dessen die unheilvolle Fehlorientierung aufs neue beginnt. Ich zucke immer zusammen, wenn ich höre oder lese, man solle den christlichen Glauben nicht „judaisieren". Friedrich Schleiermacher z.B. spricht mehrfach so. Er denkt ganz schematisch: hier das Christentum, dort das Judentum. Jeder Versuch, ein lebendiges, bereicherndes Gespräch in Gang zu bringen, heißt für ihn nur „recht viel eigenthümlich Jüdisches" geltend zu machen, welches, einfach weil es „Jüdisches" ist, schon „nothwendig antichristlich" sein müsse. Den ganzen Vorgang nennt er „die rechte Krankheit", und theologische Bemühungen in diese Richtung sind das gerade Gegenteil dessen, was ein Theologe tun solle.

 

Schleiermacher spricht nicht aus reiner Erfindung so. Denn in jener Zeit um 1800 war tatsächlich manch nachdenklicher Geist weiter als der geniale Redner über die Religion aus Berlin. Andreas Riem z.B. mit seiner „Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland" von 1798 und zuvor schon der Beamte Christian Wilhelm Dohm und dann natürlich Gotthold Ephraim Lessing. Sie und einige andere, deren Namen nicht im allgemeinen Gedächtnis sind, haben einen anderen Weg eingeschlagen und zwar den der Versöhnung und des Abbaues antijudaistischer Vorbehalte im protestantischen Christentum.

 

Diese Männer hatten auch ihren Paulus gelesen, auch sie waren durch eine Auseinandersetzung mit solchen Sätzen hindurchgegangen, wonach „einem Teil Israels Verstockung widerfahren" sei. Für sie aber war - anders als für Schleiermacher - klar, daß hier der Ort für Kritik ist, allerdings weniger einer beurteilenden, verneinenden Kritik als vielmehr einer weitergehenden, aufbauenden. Wir wollen uns nicht darauf einlassen, über Grade der Verbindlichkeit derartiger neutestamentlicher Aussagen zu streiten. Wir sind uns des unzureichenden und fragmentarischen Verständnisses der Hintergründe bewußt, aus denen heraus der Apostel hier und anderswo spricht. -

 

Wer sein Vertrauen auf Gott setzt, der ist sich des besonderen Blickes bewußt, den Gott auf ihn wirft; er weiß sich beschützt und erhoben, geleitet und bewahrt - und das ist es, was in der Tradition mit „erwählt sein" gemeint war. Das Problem, vor das uns die paulinischen Überlegungen zur Erwähltheit stellen, ist, daß hier das christliche Gnadenbewußtsein mit der Judentumsthematik verbunden wird, und zwar dergestalt, daß beide Themen unlösbar ineinander verwoben sind. Das entspricht dem historischen und theologischen Standort des Apostels, als es um die Ausbildung und Etablierung des christlichen Bekenntnisses ja überhaupt erst ging. Uns aber leuchtet diese Verbindung nicht mehr ein, und zwar deswegen nicht, weil wir der Gegenüberstellung zur Synagogengemeinschaft und ihrer Frömmigkeit nicht bedürfen, um unser Bekenntnis zu Gott in der uns eigenen Form abzulegen. Mit anderen Worten: Für uns hat das jüdische Moment keine Spiegelfunktion mehr. Wir sind uns unseres Glaubens aus ihm selbst heraus gewiß, und deshalb haben wir es, etwas grob gesagt, nicht nötig, in unsere religiösen Bekenntnisse und theologischen Reflexionen auch immer noch Mitteilungen über das Verhältnis zum Judentum aufzunehmen.

 

Es scheint mir bei allem anderen, was an einem „Israelsonntag" noch gesagt werden könnte, nützlich, wenn wir uns dies einfach klar machen: Wir bedürfen der abgrenzenden Selbstbeschreibung nicht mehr. Wir müssen nicht darüber räsonieren, was „das Gesetz" ist, um uns der heilenden, der schönen und erhebenden Kraft des Evangeliums bewußt zu werden. Wir sprechen dabei von einem Phantom. Meine Hoffnung ist, daß in der Christenheit noch einmal der Tag kommen möge, an dem man diesen Hauptkampfbegriff aus der Geschichte der christlichen Judenfeindschaft, diesen häßlichen Karikaturbegriff wirklich ganz abgelegt und sich für ein sachgemäßes Studium der biblischen Weisung qualifiziert hat.

 

In letzter Zeit wird verstärkt über die - wie es heißt - „Lebensdienlichkeit" religiöser Vorstellungen diskutiert. Der Ausdruck ist gut gewählt. Denn mit ihm bezeichnet man einen Zielpunkt, von dem aus gerade auch die Unterschiede zwischen Christentum und Judentum aus einer sehr realistischen und sehr verringernden Perspektive wahrgenommen werden können. Einen Christen beschäftigt das Streben nach Wahrheit, nach Freiheit und moralischer Zulänglichkeit. Sofern wir Zugang haben zum jüdischen Glauben können wir erkennen, daß die Menschen dort von den gleichen Fragen und Zielen bewegt werden. Es sind die gleichen guten, „lebensdienlichen" Ziele, und hier wie dort könnte die Suche unter demselben Wort des Apostels Paulus stehen: „Von Gott und durch ihn und zu ihm hin sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen."

 

Bemerkung:

 

Ulrich Wilkens: Der Brief an die Römer. Zweiter Teilband: Röm 6-11 (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Band VI / 2), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1980.

 

[Friedrich Schleiermacher:] Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter. Von einem Prediger außerhalb Berlins, Berlin 1799 (Zitate: 36-37); abgedruckt in: Schriften aus der Berliner Zeit 1796 - 1799. Herausgegeben von Günter Meckenstock (Kritische Gesamtausgabe. Band I / 2), Berlin / New York 1984, 327-413 (hier: 347).

 



Dr. Dr. Matthias Wolfes
Institut für Evangelische Theologie, Freie Universität Berlin
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

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