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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 27.07.2008

Predigt zu Römer 11:25-32, verfasst von Martina Janßen

Liebe Gemeinde!

I

Der fußballgroße Plüschgarfield schoss auf Kevin zu, verfehlte nur knapp sein Ziel und prallte mit voller Wucht gegen die Wand. „Papa hat mich viel doller lieb als dich!" - Ina stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden. „Papa hat nur mich lieb!" - „Hat er nicht!" - Kevin funkelte seine kleine Schwester an und kickte den grinsenden Stoffkater lässig in ihre Richtung. „Mich hat er viel länger lieb als dich. Mich hatte er nämlich schon lieb, da gab's dich noch gar nicht! Ätsch!" - Sekunden der Stille, die den folgenden Wutschrei noch schriller erscheinen ließen. Ina rannte aus dem Zimmer, knallte die Tür zu, um sie einen Moment später wieder aufzureißen. „Lügner! Weil du Papa nicht gefallen hast, hat er mich gemacht! So war's! Papa hat nur mich lieb!" - „Zicke!" Ina rannte heulend die Treppe runter, dicht gefolgt von einem durch die Luft schießenden orangefarbigen Knäuel, das auf der Höhe der dritten Stufe zu Boden sank, zwei Stufen weiter rollte und dann mit seinem immerwährenden Grinsen endlich zur Ruhe kam.

II

Es ist nicht immer leicht mit seinen Schwestern und Brüdern. Mit den leiblichen nicht, und mit den geistigen schon gar nicht. So ist das auch mit den Christen und den Juden, diesen beiden Kindern Abrahams, deren gemeinsamer Weg über die Jahrhunderte nicht gerade von geschwisterlicher Liebe geprägt gewesen ist. Da gab und gibt es unendlich viel Konfliktpotential, Schuld und Scheu. Das zeigt die Geschichte - besonders die deutsche. Auch die Theologie übernahm bei weitem nicht immer die Rolle eines besonnenen Streitschlichters, sondern im Gegenteil. Sie wurde nicht selten selbst zum Instrument parteiischer Propaganda. „Die Kirche löst die jüdische Religion ab" - ein altbewährtes, daher aber nicht automatisch richtiges Denkmuster. Weiteres wäre da noch zu finden bis hin zu bitteren Aussagen wie: „Die Juden haben den Messias umgebracht" - dunkle Seiten der Kirchengeschichte, in Teilen auch des Neuen Testaments. Das Verhältnis zwischen den beiden Kindern Abrahams ist sensibel, vieles befremdet an der jeweils anderen Religion. Die Fragen sind komplex: Müssen wir die Juden missionieren? Oder gibt es für sie einen „Sonderweg" zum Heil? Sind sie uns als Religion gleichwertig? Spielen solche Unterschiede überhaupt noch eine Rolle?

Die Verletzungen sitzen tief. Viel Konfliktpotential. Die Gefahr religiösen Hochmuts, der Wunsch zur Bevormundung bis hin zum himmelschreienden Unrecht, die anderen als Gottesmörder anzuklagen. Oder das stille, nicht minder verhängnisvolle Vergessen, dass unser christlicher Glaube tief im Judentum verwurzelt ist.

III

Zur Zeit des Paulus gab es letzt genannte Gefahr noch nicht. Da war das Thema „Juden-Christen" hoch aktuell, die Auseinandersetzungen hart, die Fragen drängend. Denn die Grenzen waren noch fließend. Nicht nur zwischen den Fronten verschiedener Gruppen ging ein Riss, sondern durch das Leben vieler Menschen. So erging es auch Paulus. Aus dem eifrigen Juden wurde ein Christ. Dann werden theoretische Fragen zu existentiellen Belangen. Mit seiner Verhältnisbestimmung zwischen Juden und Christen macht es sich der Apostel deswegen auch nicht leicht, - er, der ja ohnehin mitunter recht unmodern ist und oft zu Gedankengängen neigt, die sich nicht in schnittige Power-point-Präsentationen umsetzen lassen. So ein Gedankengang - eine Annäherung an ein „Geheimnis" gar - ist auch unser Predigttext.

IV

Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20): «Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.»

Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Diese Zeilen - das muss man eingestehen! - stellen nicht gerade eine Meisterleistung hörerfreundlicher Elementarisierung dar. Zu komplex ist der Gegenstand, das „Geheimnis". Die Zeilen des Paulus sind der Abschluss eines dreikapitellangen Ringens des Apostels um das Schicksal Israels. Kürzer und elementarer geht bei einem Geheimnis nicht und schon gar nicht, wenn sich dahinter das Geheimnis der eigenen religiösen Biographie verbirgt. Das gilt nicht nur für Paulus, sondern auch für viele weitere Christen seiner Zeit, die vom Judentum zum Christentum übergetreten sind. Doch nicht alle setzten sich so intensiv mit den Wurzeln ihrer Religion auseinander wie Paulus. Statt persönlicher Rechenschaft erfolgte mitunter Verdrängung, Abgrenzung von der alten Vergangenheit. „Die schlimmsten Kritiker der Elche waren früher selber welche." - so sagt es ja das alte Sprichwort. Viele junge Christen fühlten sich der jüdischen Religion allzu überlegen. Immerhin waren sie es, die den Absprung geschafft hatten, sich nicht mehr an ihre alte Religion und ihre Bräuche festklammerten, sondern einen Schlussstrich zogen und neuen Wegen vertrauten, die die alten Weggefährten nicht mitgehen konnten und wollten. Da kann es schon passieren, dass der Mut in Hochmut umschlägt, dass man den alten Weg mit der vermeintlichen Klugheit eines Nun-Besserwissenden zum Irrweg erklärt. Besser wissen es freilich auch viele von denen, die früher Heiden waren und sich nun zum Christentum bekehrt haben: Was haben sie schon mit der alten Religion der Juden zu schaffen? Aus den einst Erwählten sind so Verworfene geworden.

Hier setzt Paulus mit seinem Veto an. „Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet." Auch Israel - so sündig und verstockt es auch sein mag - wird am Ende der Zeiten gerettet werden. Gott ist treu; seine Gaben und Berufungen gereuen ihn nicht; Israel ist geliebt um der Väter willen. Israels Untreue hebt Gottes Treue nicht auf. Der alte Bund ist nicht aufgekündigt. Deswegen wird Israel ebenso gerettet werden wie die Heiden, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind. Das ist der Dämpfer des Paulus für die, die allzu klug sind und sich im alleinigen Besitz der Wahrheit wähnen.

Doch Paulus geht weiter. Denn die Rettung Israels und die der Kirche sind keine parallelen Heilswege, mit einem Haupt- und einem Sonderweg gar, je nach dem, aus welcher Perspektive man gerade schaut und auf welcher Seite man steht. Sondern die Rettung des einen hängt an der Rettung des anderen. Das Schicksal Israels ist mit dem der Kirche Christi eng verschlungen. Ohne den anderen käme niemand zum Ziel. Die Juden und die Christen - Israel und Kirche - sind für Paulus wie Gefährten auf einem Weg, den der eine ohne den anderen nicht gehen kann. Ohne Israel - den alten Bund - gäbe es die Kirche nicht. Und ohne die Kirche - den neuen Bund - würde Israel ewig in der Verstockung verharren. Weil Israel - verstockt und dem Evangelium deswegen feindlich eingestellt - das Evangelium Jesu Christi abgelehnt hat und so ungehorsam geworden ist, ist überhaupt erst der Weg dafür offen, dass andere Völker es annehmen können, dass eine Kirche aus Heiden möglich ist, die vorher in Unkenntnis und Ungehorsam gegen Gott gelebt haben. Von dem Ungehorsam der einen profitieren also die anderen. Und wenn dies in der Fülle passiert ist, wenn die Völker zum Glauben an das Evangelium gekommen sind, am Ende der Zeiten, dann wird auch Israels Verstockung enden. So wird die Rettung der Völker zur Rettung Israels. „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme." Im Bewusstsein dieser Barmherzigkeit sind jene wie wir auf dem Weg in das himmlische Jerusalem, wo „es dann allerdings weder einen jüdischen Tempel noch eine christliche Kirche geben wird" (Eberhard Jüngel), sondern die Gemeinschaft derer, die Gott schauen.

V

Und heute? Wissen wir das heute noch, dass „christliche Kirche von dem göttlichen Erbarmen lebt, das mit der Erwählung Israels in die Völkerwelt eintrat" (Hans-Joachim Kraus)?, dass wir „als wilde Sprösslinge dem edlen Ölbaum Israel eingepfropft worden sind (Röm 11,17f)?" Manchmal hat es den Anschein, als sei das weit weg, als würde eine Art „Geschichtsvergessenheit" der eigenen Religion um sich greifen. Man scheint sich andere Eltern zu suchen als den „Gott Israels". Esoterik wirkt populärer, „Buddhismus mit christlichem Unterbau" (Hape Kerkeling) ist „in".

Von den all den Stolpersteinen, die den gemeinsamen Weg von Juden und Christen schwer machen, ist dieser der unauffälligste und damit heimtückischste, nämlich zu vergessen, dass wir Geschwister sind. Vielleicht ist dieser Sonntag, der unter dem Proprium „Christen und Juden" steht, eine Gelegenheit, sich zu erinnern: Unser Gott ist der Gott Israels, der „Gott Abrahams, (der) Gott Isaaks, (der) Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten" (Blaise Pascal). Zu uns spricht der gleiche Gott wie zu unseren Brüdern aus Israel, die gleichen Verheißungen sind in unsere Herzen gebrannt, seit Generationen formen unsere wie ihre Lippen die Verse der Psalmen. Aus Israel kommt unser Erlöser und „die himmlische Polis, zu der sich auch das wandernde Gottesvolk der Christen unterwegs weiß, heißt denn auch nicht etwa Athen und schon gar nicht Rom oder gar Wittenberg, sondern Jerusalem." (Eberhard Jüngel)

VI

Allein das muss uns die Augen öffnen für unseren älteren Bruder, das Volk Israel. Denn es drohen immer wieder viele kleine und große Schatten den Blick auf unseren Bruder zu verstellen. Gerade heute, wo das Vertrauen in die Demokratie schwindet und jene Kräfte wieder zu erstarken scheinen, die einst mit ihrem mörderischen Treiben über den Bund Gottes mit seinem erwählten Volk ein Geheimnis gelegt haben, über das wir nur schweigen können. „Eine Geschichte über Treblinka ist entweder keine Geschichte oder es ist keine Geschichte über Treblinka. Eine Geschichte über Majdanek ist fast eine Gotteslästerung. Nein, es ist Gotteslästerung! Treblinka bedeutet Tod, vollkommenen Tod, Tod der Sprache, Tod der Hoffnung, Tod des Vertrauens und der Eingebung. Dieses Geheimnis ist dazu verdammt, unversehrt zu bleiben." (Elie Wiesel)

Gerade wir Christen in diesem Land sollten stets vor Augen haben: Jeder beschmierte jüdische Grabstein ist auch ein Schandfleck auf einem christlichen Altar. Jedes zerstörte jüdische Mahnmal ein Riss auch im Fundament der Kirche Christi. Und jedes Hakenkreuz an einer Synagogenwand ein Schlag auch gegen das Kreuz Jesu. Gestern und heute. Vergessen wir das nicht!

Doch es reicht nicht, nach außen wachsam zu sein, auch nach innen müssen wir sehen. Ein Gradmesser für das Verhältnis der Christen zu Israel war stets die Karfreitagsfürbitte, die erst in einer Formulierung von 1969/70 im reformierten Messbuch den Juden eine angemessene Rolle als dem Volk, „zu dem Gott unser Herr zuerst gesprochen hat" zuweist und damit Israel in das richtige Licht stellt. Dieser klare Blick scheint nun getrübt, wie die Umformulierung der Karfreitagsfürbitte durch Benedikt XVI in diesem Frühjahr vor Augen führt. Der neuen Version zufolge muss Israel wie alle anderen Völker Christus erkennen. Damit wird Israel den Heidenvölkern gleichgesetzt. Seine besondere Bedeutung als das Volk, „zu dem Gott unser Herr zuerst gesprochen hat", hat es verloren. An die Stelle der „respektvollen Formulierung aus dem Jahr 1970" tritt eine „subtile Aufforderung zur Judenmission" (Charlotte Knobloch, SZ 31.03.2008). Mir scheint, angesichts dieses Rückschritts gewinnen die Worte des Paulus im Brief an die Römer einen neuen, aktuellen Sinn: „Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet (...). Im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.""

Die ganze Wahrheit um die beiden Kinder Abrahams bleibt ein Geheimnis. Der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig denkt unseren heutigen Predigttext mit folgenden Worten nach: „Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Arbeiter am gleichen Werk. Er kann keinen von beiden entbehren. Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, gehört so weder ihnen noch uns. (...) Unmittelbare Schau der ganzen Wahrheit wird nur dem (zuteil), der sie in Gott schaut. Das aber ist ein Schauen jenseits des Lebens. (...) So sind wir beide, jene wie wir und wir wie jene, Geschöpfe gerade um dessentwillen, dass wir nicht die ganze Wahrheit schauen."

VII

„Wer hat denn jetzt recht? Sie oder ich?" - „Wen hast du jetzt denn lieber? Mich oder ihn?" Kevin und Ina stehen vor ihrem Vater. Jetzt wollen sie es wissen. Die Wut weicht der Angst. Zögerlich greift Ina nach der Hand ihres älteren Bruders und spürt bei seinem kalten Händedruck ein leichtes Zittern, das ihr sagt, er fürchtet sich genau wie sie. Lächelnd winkt der Vater seine Kinder zu sich und drückt sie ganz fest. „Beide habt ihr recht. Ich habe euch beide lieb, so verschieden ihr auch seid. Keinen von euch will ich wissen. Und nun - lasst uns etwas Schönes machen!" Kevin und Ina jubeln, fallen ihrem Vater um den Hals. „Ich hab' dich lieb, gaaanz doll!" - kreischt Ina, „und - den Kevin auch!"

Amen.

 



Dr. Martina Janßen
Kandidatin des Predigtamtes im Ehrenamt, Göttingen-Holtenser Berg
E-Mail: mjansse@gwdg.de

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