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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 03.08.2008

Predigt zu Lukas 7:36-50, verfasst von Johannes Værge

Die Frau trocknete seine Füße mit ihrem Haar... Das kann sie nur tun, wenn sie ihr Haar offen trägt. Aber gerade das konnte man sich als Frau sonst nicht erlauben. Althergebrachte Gewohnheit und Brauch im Mittleren Osten - verschärft bei den Moslems, aber zur Zeit Jesu auch bei den Juden wohlbekannt - althergebrachter Brauch und Anstand verlangte, dass eine Frau ihr Haar verhüllte, um sich nicht der unwillkommenen Aufmerksamkeit von Männern auszusetzen. Verhülltes Haar als Zeichen der Unterordnung. Aber hier, Jesus gegenüber, haben derlei Regeln keine Gültigkeit. Weg mit dem Schleier! - hier wird die Frau befreit.

             Als ich neulich auf dieses Detail in dem Textstück aus dem Lukasevangelium aufmerksam wurde, weckte es meine Erinnerung an eine Eigenheit aus der frühen Zeit der Kirche: die Erzählung von den Jungfrauen ohne Kopftuch in Karthago.

             Wenn man um das Jahr 200 in Karthago - damals eine bedeutende römische Stadt in Nordafrika - zum Gottesdienst kam, stieß man auf folgenden Anblick: Deutlich sichtbar saß eine Schar junger Frauen in der Kirche - ohne den gewöhnlichen Schleier! Mit unverhülltem Gesicht, offenem Haar - wirklich ein besonderer Anblick. Und die Gemeinde war stolz darauf, diese Frauen vorzeigen zu können: Seht, was der christliche Glaube mit sich bringen kann! Eine neue Freiheit!

             In der römischen Welt des Mittelmeeres dieser Zeit war die Gesellschaft sehr hierarchisch aufgebaut, mit folgender Rangordnung: zuoberst stand der Mann, dann folgte die verheiratete Frau, darauf kam das Kind und zuunterst der Sklave. Für die Frau bestand die Möglichkeit, in die bestehende Gesellschaftsordnung einzutreten, wenn sie heiratete und damit einem Mann unterstellt - und verschleiert wurde.

             Aber mit dem Christentum kam eine Möglichkeit, von den traditionellen Normen abzuweichen - für die Frau: dadurch dass sie der Norm nicht entsprach und eine andere Rolle als die der Ehefrau wählte. Dass sie sich selbst als frei, als allein an Gott gebunden verstand.

             In einer zeitgenössischen Quelle hören wir die stolze Erklärung einer dieser Frauen: "Ich gehe ohne Schleier, denn der Schleier der Vergänglichkeit ist von mir genommen; ich bin ohne Schande, denn die Taten der Schande sind weit von mir entfernt."

             Auf uns wirkt es fremdartig, die Wahl eines jungfräulichen Daseins als etwas anderes zu sehen denn als Verzicht. Im Zusammenhang der damaligen Zeit war es vielmehr ein Zeichen der Hoffnung. Es war Ausdruck dafür, dass in dem Glauben eine Stärke enthalten war, im körperlichen Leben eine Kraft der Verwandlung, stärker als die althergebrachten Normen.

             Im Christentum erfuhr man also einen Ansporn, gegen alte Muster aufzutreten, in den ersten Jahrhunderten taten das nicht zuletzt Frauen, um unabhängig vom sozialen Erbe Einfluss zu bekommen. Unterschicht, Sklave, Aritokratie - diese Zugörigkeit war in der Gemeinde nicht entscheidend. In vielen Gemeinden bildeten sich Gruppen einflussreicher Witwen.

             Aber es ist auch festzustellen, dass dieses Freiheitsverständnis bei den Zeitgenossen nicht unwidersprochen blieb. Starke Kräfte wirkten dahin, dass die gewöhnlichen Normen auch in kirchlichem Zusammenhang Geltung haben müssten. Auf diese Weise könne die Kirche leichter den Frieden mit der Umgebung bewahren.

             Der Auftritt der unverhüllten Frauen war daher nur ein vorübergehendes Ereignis - und dennoch: Was die unverhüllten Frauen in Karthago vertraten, wurde später in anderer Form von der Klosterbewegung wieder aufgenommen. Hier gab es eine Möglichkeit für Frauen, eine andere Rolle als in der sonstigen Gesellschaft zu finden - obwohl wir heute mit unseren Vorstellungen sicherlich eher einen Blick für die Beschränkungen in der Lebensweise der Nonnen haben. So betrachtete man die Sache ursprünglich nicht; es war vielmehr ein Weg in eine Freiheit, die die Gebundenheit an Christus ermöglichte.

             Was die geschichtliche Entwicklung dann im Übrigen angeht, kam der einst so neue und normenüberschreitende Impuls im Christentum - z.B. auch in der Einstellung zum Kind, in der Achtung vor dem Kind - gewannen diese Impulse allmählich in dem Maße an Bedeutung, dass sie für uns selbstverständlich geworden sind.

 

Zurück zu dem Ereignis, von dem das Lukasevangelium erzählt. Der Wirt des Hauses, der Pharisäer Simon, ist entsetzt, als er sieht, dass Jesus die Hingebungstat der ungeladenen Frau gutheißt. Simon verachtet die Frau, er weiß ja, was sie für eine ist. Er ist über Jesus entrüstet - dass er der berüchtigten Frau erlaubt, ihn zu berühren, schamlos wie sie ist.

             Ja genau - ohne Scham, d.h. ohne Schande. In der Begegnung mit Jesus: keine Schande. Gleichsam aus dem Gefängnis befreit, ins offene Land gehoben, das Lebendige erleben. Nicht mehr ausgeschlossen.

             Die Frau, wie es heißt, "eine Sünderin in der Stadt" - eine gefallene Frau. Von den meisten Menschen mit Empörung und Missbilligung betrachtet, von vielen Männeraugen mit ebenso herabwürdigender Mischung aus Begehr und Verachtung angesehen. Ein Menschenleben, in dem etwas schief gegangen ist, und jetzt ist ihr eine ganz bestimmte Funktion im Kreislauf der kleinen Stadt zugefallen: sie ist der Mittelpunkt für Begehr und Geringschätzung.

             Der Pharisäer Simon dagegen gehört zu den ordentlichen, moralisch unanfechtbaren, hoch geachteten Menschen. So war das mit den Pharisäern: Wenn man sich der Bewegung der Pharisäer angeschlossen hatte, bedeutete das die Verpflichtung zu einem exemplarischen Leben. Die Pharisäer waren Menschen - Männer! -, die deutlich erkennbar ihr persönliches Leben ernst nahmen, und man betrachtete sie gewöhnlich mit großem Respekt. - An etlichen Stellen in den Evangelien richtet Jesus scharfe Angriffe gegen die Pharisäer wegen Heuchelei, aber es war doch nicht anders, als dass Jesus sich einem Pharisäer wie Simon gegenüber ganz offen verhalten und, das dürfen wir wohl glauben, mit Freuden seine Einladung annehmen konnte.

             Und da passiert es dann, dass diese Frau, die Simon bestimmt nicht eingeladen hat, in die Gesellschaft eindringt, sich durch die Wand missbilligender Blicke einen Weg bahnt und über Jesus ausgießt, was sie an Tränen und wohlriechendem Öl  und Hingabe besitzt. Ein starker Ausdruck hingebungsvoller Dankbarkeit.  Und in den Augen Simons fällt Jesus durch, weil er bei ihrer Berührung keinen Abscheu zeigt, weil er ihre Tränen und ihr Öl und ihr gelöstes Haar nicht zurückweist. Kann Jesus denn nicht sehen, was das für eine Frau ist?

             Doch, Jesus sieht sie, wie sich aus dem Text ergibt, als einen Menschen mit "vielen Sünden". Sie ist keine Unschuld. Er sieht einen Menschen, der vom rechten Weg abgekommen ist. Ein Dasein, das äußerst zwielichtig geworden ist.

             Das können sie beide sehen, der Pharisäer und Jesus. Aber der Unterschied ist, dass das alles ist, was Simon in seinem sicheren Wohlstand zu sehen vermag, während Jesus mehr sieht. Entscheidend mehr.

             Was dem Ereignis im Hause Simons vorausgegangen ist, wissen wir nicht, aber die Frau muss irgendeine starke Erfahrung mit Jesus gemacht haben. Ihre überwältigende Reaktion in Simons Haus ist nur als Audruck dafür verständlich, dass sie die Begegnung mit Jesus als bahnbrechend, umstürzend erlebt hat. Jesus muss sie mit einer überwältigenden Antwort auf den Schmerz ihrer Sehnsucht getroffen haben mit einem Ergebnis, wie wenn man einen unentwirrbaren und schattenspendenden Busch fällt und wegräumt und dann Sonne und Regen auf den bis dahin im Schatten liegenden Fleck Erde fällt, so dass nun durch das Licht und die Feuchtigkeit neues Leben hervorbricht, wo die Erde vorher unfruchtbar gewesen war, und wo niemand geglaubt hätte, dass da noch etwas Gutes wachsen könnte.

             Aber Jesus hatte das in sich, was so etwas geschehen ließ. Mit einer Macht, wie wenn es Gott selbst ist, der herbeigekommen war. Der Schöpfer nahegekommen, der Neuschöpfer des Lebens.

             Im Sünder und in der Sünderin sah er Gottes geliebtes Kind verborgen, und er ruft es heraus. In seinen Blick, in sein Wort, in sein Reich. "Deine Sünden sind dir vergeben."

             Der Schmerz der Sehnsucht, der Schrei in der Seele nach Erlösung als vollgültiger Mensch in offenem Land, und hier ist die Frau gesehen worden, gefunden worden und aufgerichtet worden, aus dem Gefängnis der Schande herausgerufen - sie hat ihren befreienden Glauben gefunden, sie ist ihrem Heil begegnet.

             "Dein Glaube hat dich erlöst. Gehe hin in Frieden," das sind die Worte an die Frau mit den vielen Sünden. Ihre überwältigende Reaktion an jenem Tag steht als ein Zeichen dafür, dass, wenn Gottes Nähe erfahren wird, aus dem Schlimmsten ein lichtvoller klarer Strom hervorgerufen werden kann. Und wie Jesus zu der Frau von "deinen Sünden" spricht, nennt er den Glauben der Frau "deinen Glauben".  "Dein Glaube hat dich erlöst." Es waren deine Sünden, aber sie sind dir jetzt vergeben, sie werden deinem Leben nicht mehr im Wege stehen, die Schande ist weg - und der Glaube ist dein, wie das Leben deines ist. Das ist Geschenk, aber nicht irgend etwas Fremdes, das du übernehmen solltest, eher das Geschenk, für das du bestimmt warst, von dem du aber weggekommen bist. Etwas, was verborgen worden war, wird ans Licht gerufen. Du bist dazu geschaffen - im Bild Gottes.

             Das sehen seine Augen in dir, in uns, dafür machen sie Platz, das wollen sie hervorrufen. Dies ist es, was mehr als irgend etwas sonst du bist. Hervorgerufen durch den Glauben, die Empfänglichkeit für Gottes Licht und Regen. Der Mensch neu geboren zu empfangen und zu geben. So dass jeder Mensch an seinem Platz entdeckt, dass wir dem Leben zu Verfügung stehen, dem Leben, das größer ist als wir.

Amen



Pastor Johannes Værge
Hellerup (Dänemark)
E-Mail: johs.v(a)mail.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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