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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis, 28.09.2008

Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 34:4-10, verfasst von Titus Reinmuth

4 Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand.

5 Da kam der HERR hernieder in einer Wolke, und Mose trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an.

6 Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue,

7 der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!

8 Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an

9 und sprach: Hab ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein.

10 Und der HERR sprach: Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des HERRN Werk sehen; denn wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.

 

(1.1) Mose auf dem Berg. Ein Klassiker. Vielfach in Hollywood verfilmt. Ich erinnere mich an einen dieser alten Schmachtfetzen. Ich sehe ihn vor mir, Mose, mit grauem Rauschebart, der Wind ist rau, Wolken ziehen sich zusammen, es kracht und donnert. Gott erscheint, gleich wird er zu Mose sprechen. - Rückblende: Gerade noch hatten die Männer und Frauen unten am Fuße des Berges um ein goldenes Kalb getanzt. Ausgelassen gefeiert, einen Altar gebaut, dem prachtvollen, anschaulichen, fassbaren Gottesbild geopfert. Mose erscheint hin- und her gerissen zwischen seinem Volk und seinem Gott. Was soll er tun? Was wird Gott sagen? - Werbepause. Das letzte Urteil Gottes muss warten. Wie immer, wenn es spannend wird. Gott muss jetzt handeln, oder? Sein Volk wendet sich ab, die Menschen tanzen ums goldene Kalb, sie haben ihn schon fast vergessen - das kann Gott doch nicht auf sich sitzen lassen! Ja, er wird hereinfahren mit Macht und Gewalt, mit Blitz und Donner oder Feuer vom Himmel oder was auch immer. So ähnlich habe ich das als Kind immer erwartet. Mose selbst war schon so außer sich, dass er die beiden Gesetzestafeln mit den zehn Geboten im Zorn zertrümmert und seinem Volk eine ziemliche Standpauke gehalten hatte. Ein letztes Mal ruft Gott ihn zurück auf den Berg. - Der Film geht weiter. Noch einmal wird Gott sich zeigen, noch einmal wird er handeln. Großes Finale! Doch dann die Überraschung: In einer Wolke zieht er vorüber und spricht: „Ich bin der Herr, euer Gott: barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue..., siehe, ich will einen Bund schließen mit meinem ganzen Volk!" Und ehe man sich versieht, taucht die glutrote Abendsonne den Berg Sinai in warmes, wohliges Licht, das Filmorchester lässt Streicher und Trompeten in Dur erklingen, und Mose schreitet mit einem selig leuchtenden Gesicht den Berg hinunter. Ein letztes Bild zeigt die beiden Gesetzestafeln, die neuen, in seiner Hand - Großaufnahme, Abspann, und man ahnt: Die Sache geht gut aus.

 

(1.2) Eine dramatische Geschichte, in der Tat. Das Volk Israel am Berg Sinai, das ist eine der Grunderzählungen des Glaubens. Hier wird beispielhaft erzählt, wer Gott ist, wer die Menschen sind, und wie Gott es eigentlich mit uns Menschen meint.

Was war geschehen? Nun, erzählt wird die Geschichte dieses kleinen Gottesvolkes, ein Volk, das in Ägypten lebt, unterdrückt von den Pharaonen, als Sklaven gehalten, angetrieben, die Paläste und Städte der Herrscher zu bauen. Gott sieht die Not seines Volkes, er hört ihre Klagen, er erkennt ihr Leid. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zeigt sich das erste Mal dem Mose. Er beruft ihn, das Volk aus Ägypten zu befreien. Hier stellt er sich das erste Mal vor. Gott sagt zu Mose: „Ich bin, der ich sein werde. Ich bin, der ich für euch da sein werde." Gott verspricht ein Leben in Freiheit, verspricht ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Und so geschieht es der Erzählung nach: Gott befreit sein Volk aus der Hand der Ägypter. Doch die Menschen um Mose zaudern ein ums andere Mal. Ihr Weg führt nicht direkt ins versprochene Land, sondern zunächst in die Wüste. Können sie Mose weiter vertrauen? Können sie Gott weiter vertrauen? Manche sehnen sich schon zurück nach den klaren Verhältnissen in Ägypten. „Wären wir doch geblieben!" Nach manchen Irrungen und Wirrungen landen sie schließlich am Fuße des Berges Sinai. Hier erscheint Gott dem Mose ein weiteres Mal. Feierlich schließt Gott einen Bund mit seinem Volk. Obwohl die Menschen so sind, wie sie sind, will Gott sich fest mit seinem Volk verbinden. Mose hört die Zehn Gebote und weitere Weisungen, Gebote, die das Zusammenleben im neuen Land regeln sollen, Ordnungen, die helfen sollen, die Freiheit zu bewahren. Am Ende verliest er das Buch des Bundes vor den Ohren des Volkes, und die Menschen antworten: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun und darauf hören." Es ist ein wenig wie bei einem Vertrag.

Jetzt erst soll Mose auf den Berg hinaufgehen, um die berühmten steinernen Gesetzestafeln zu empfangen. Vierzig Tage und vierzig Nächte bleibt Mose, so will es das biblische Drehbuch. Eine lange Zeit. Im Volk melden sich wieder die Ungeduldigen, die Unzufriedenen. Sie drängen Aaron, den Priester und Mitstreiter des Mose, ein Gottesbild zu machen: „Auf, mach uns einen Gott, der vor uns her geht! Denn wir wissen nicht, was Mose widerfahren ist." So geht es also erneut: Trotz aller Versprechen, trotz Bund und Vertrag, trotz aller guten Erfahrungen, die sie mit ihrem Gott, dem „Ich bin für euch da", gemacht hatten, verlieren Menschen die Geduld. Sie verlieren das Vertrauen in Mose und das Vertrauen in Gott. Sie bauen ihr goldenes Kalb, dann essen und trinken sie und feiern ihr Fest, weit entfernt von Mose, weit entfernt von ihrem Gott.

Hier nähern wir uns der Inszenierung aus Hollywood, durchaus eng angelehnt an das Drehbuch der biblischen Geschichte. Oben auf dem Berg erfährt Mose vom Treiben des Volkes. Als er herunterkommt, ist er außer sich. Er zertrümmert die Gesetzestafeln und lässt das goldene Kalb im Feuer zerschmelzen. Er sieht die Schuld des Volkes. Er sorgt sich sehr. Mose bittet Gott, er möge den Menschen vergeben. Aber wie geht die Sache aus? Ein letztes Mal wird Mose auf den Berg gerufen. Und tatsächlich stellt Gott sich vor als der, der er schon immer war: „Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde..." Das ist Vergebung. Stärker kann man sie nicht formulieren. Ein letztes Mal bittet Mose: „Vergib uns und lass uns für immer zu dir gehören!" Und Gott spricht: „Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, ... und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des Herrn Werk sehen."

 

(2) In der Tat eine Grunderzählung des Glaubens. Hier wird wirklich erzählt, wer Gott ist, wer die Menschen sind, und wie Gott es mit uns Menschen meint. Allein die Sprache! Kann man umfassender von Schuld reden? Nicht ein Fehler wird benannt, nicht bloß ein Vergehen. Sondern „Missetat, Übertretung und Sünde." Ein Wort reicht offenbar nicht. Hier wird in jeder erdenklichen Hinsicht von Schuld gesprochen. Das ist kein Betriebsunfall. Hier wird menschliches Leben sehr grundlegend als schuldhaftes, begrenztes, immer wieder scheiterndes, ja schuldig bleibendes Leben beschrieben. Mit jeder Wendung der Erzählung aufs Neue. Das biblische Original ist da sogar noch ausführlicher. Will sagen: Anders ist Menschsein offenbar nicht zu haben als mit Grenzen, mit Scheitern, mit Schuld.

Die ersten Tafeln zertrümmert - dann machen wir eben neue? Nein, auch das, was folgt, ist mehr als eine bloße Wiederherstellung, mehr als das Ersetzen einer wertvollen Tasse, die aus Versehen zerbrochen war. Das ist nicht einfach wieder gut zu machen. Das braucht wirklich Vergebung. Also wird Gott beschrieben: Gott ist „barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt". Auch hier ist ein Wort offenbar zu wenig. Diese neue, unverdiente, liebevolle Zuwendung Gottes zu seinem Volk, sie wird mit nahezu allen Worten beschrieben, die dafür überhaupt zur Verfügung stehen: „Barmherzig" beschreibt die herzliche Zuwendung Gottes. Gott bleibt Menschen nah, er lässt sich anrühren von ihrem Schicksal. „Gnädig" beharrt auf dem bedingungslosen Wohlwollen Gottes. Gott will Gutes, er bleibt Menschen gewogen, sogar unabhängig davon, ob seine Gnade Antwort findet oder nicht. „Geduldig" zeigt, wie unbeirrbar Gott ist. Er hält Menschen aus und hält an Menschen fest - geduldig. Und er ist „treu". Das heißt: verlässlich in der Beziehung. Trotz mancher Zerreißproben - am Sinai und anderswo - bleibt Gott den Menschen treu.

Auf dem Berg Sinai spricht Gott ein letztes Urteil angesichts der Schuld des Volkes. Es heißt Vergebung. Gott macht neu, was so beschädigt, wenn nicht zerrüttet war. Er stellt die Beziehung zu seinem Volk - und damit paradigmatisch die Beziehung zu den Menschen - auf eine neue Basis. Ganz souverän und aus freien Stücken. Das ist Vergebung.

Mag sein, so ist der Mensch: begrenzt, scheiternd, schuldig. Aber so ist Gott: zugewandt, Gutes wollend, verlässlich. Wir Menschen erfahren unsere Grenzen, aber Gott sieht uns an und sagt: Ich weiß um euch. Ihr dürft so Mensch sein.

 

(3.1) Als Nelson Mandela in Südafrika nach 27 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wurde, hätte er allen Grund gehabt, voller Zorn vor die Menschen zu treten: anzuklagen, Schuld aufzurechnen, Wiedergutmachung zu fordern für Jahrzehnte der Unterdrückung, der Gewalt, des Rassismus. Er hätte wirklich jeden Grund gehabt. Er wird den weißen Präsidenten Willem de Klerk nicht wirklich gemocht haben. Dennoch reichte er die Hand zur Versöhnung. Denn er wusste genau: Wer jetzt aufrechnet, fängt von vorne an mit Gewalt und Leid und Unterdrückung. Wer jetzt über Jahre zurücksieht, der bleibt in der Vergangenheit stecken. Er sagte: Wenn dieses zerrüttete Land zur Ruhe kommen soll, dann braucht es Vergebung. Wenn das Land überhaupt eine Zukunft haben soll, dann braucht es einen großen Vorschuss an Vertrauen.

So reichte er die Hand zur Versöhnung. Es gab eine Amnestie für die Täter. Aber überall im Land wurden Kommissionen für „Wahrheit und Versöhnung" eingerichtet, in denen Opfer und Täter gehört wurden.

Vielleicht versteht sich so diese merkwürdige Spannung in der Gottesrede am Sinai. Gott vergibt, ja, aber er sucht die Missetat der Väter auch heim an den Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied. Das kann man nicht überhören, das lässt sich nicht übergehen. Drückt es einfach ein Stück menschliche Erfahrung aus? „Die Kinder bekommen stumpfe Zähne, wenn die Väter saure Trauben essen" - wie es ein biblisches Sprichwort sagt? Sicher, so erleben es viele. Wenn jemand eine lieblose Erziehung genossen hat, spüren es meist noch seine eigenen Kinder und Enkel. Was wir an Abgasen in die Luft blasen und was wir an Atommüll hinterlassen, wird noch mehr als drei Generationen belasten. Was Menschen tun, hat Folgen.

Aber Gott? Wieso verfolgt er die verkehrte Tat bis ins dritte oder vierte Glied?

Vielleicht ist es die Spannung zwischen Wahrheit und Versöhnung. Beides gehört zusammen. So wie Wahrheit nichts nützt ohne Versöhnung, so bleibt Versöhnung leer ohne Wahrheit. Wer von Herzen vergibt, hat trotzdem nicht vergessen. Schuld hat Folgen. Oft verfolgt sie Menschen über lange Zeit. Und es ist nur wahrhaftig, diese Folgen anzusehen und anzuerkennen.

 

(3.2) In menschlichen Beziehungen ist es ja kaum anders. Vergebung beginnt, wo eben nichts einfach wieder gut zu machen und nichts wieder herzustellen ist. Vergebung ist gefragt, wo die Beziehung zwischen Menschen beschädigt ist. Manche sagen: Das geht bei mir ganz leicht. Wenn der andere sich entschuldigt, dann ist das wieder gut, dann reden wir nicht mehr drüber, dann ist das für mich vergessen und vergeben. So einfach ist das. Das ist wohl die Methode „Schwamm drüber" oder „Strich drunter". Und in Wirklichkeit, so erfährt man später, gärt es doch irgendwo weiter, und es ist eben gar nichts wieder gut. Vergeben ist etwas anderes als Vergessen. Hier fehlt ein Stück Wahrhaftigkeit. Vergebung ist, wenn es Menschen gelingt, wieder eine neue, eine gute, eine tragfähige Beziehung herzustellen. Vergebung hebt dabei überhaupt nicht die Folgen der Schuld auf. Meist bleiben die bestehen. Sie geht auch nicht dahin zurück, wo zwei Menschen waren, bevor die Schuld geschah. Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Die Schuld hat ja Spuren hinterlassen, vielleicht Verletzungen zugefügt, in jedem Fall Folgen gehabt. Nein, es muss eine völlig neue Beziehung entstehen. Zum Beispiel: Ein Mann geht fremd, geht eine Beziehung zu einer anderen Frau ein. Lange Jahre beruhte die Ehe mit seiner Frau auf Liebe, auf gegenseitiger Achtung, auf Treue. Er bereut und erzählt ihr, wie es um ihn steht und was er tat. Nun ist die Liebe komplizierter, als man das so in ein paar Zügen darstellen kann, aber: Wenn sie ihm vergibt, dann gehen die beiden ja nicht einfach dahin zurück, wo sie waren, bevor die Schuld geschah. Die Verletzungen bleiben, sie sind jetzt ein Teil ihres Lebens, ein Teil ihrer Geschichte. Alles, was folgt, wird vielmehr eine ganz neue Beziehung sein. Wahrheit und Versöhnung gehören zusammen.

Oder: Dorothy L. Sayers, die berühmte Krimi-Autorin, hat einmal in einem Brief an Dr. Welch 1943 über diese Fragen nach der Vergebung nachgedacht. Sie erzählt, wie Versöhnung unter Menschen geschehen kann. Sie schreibt: „Wenn ich wütend auf Sie werde, und Ihre schönste Teekanne aus dem Fenster werfe, dann macht keine Vergebung der Welt die Kanne wieder heil. Was wir erreichen können, ist eine Beziehung zueinander, in der wir es beide ertragen können, zusammen zu sitzen und miteinander Tee aus einem Rasierwassertopf zu trinken, ohne uns dabei unwohl zu fühlen oder das Thema ‚Teekanne‘ lautstark zu vermeiden." Das ist Vergebung. Eine völlig neue Beziehung, ein Vorschuss an Vertrauen.

 

Am Berg Sinai hat Gott sich entschieden. Er hatte allen Grund, wütend zu sein. Aber er blieb sich treu. Der „Ich bin für euch da" sah die Schuld seines Volkes. Und zeigte sich doch als der, der vergibt. Wie der Gott Israels an seinem Volk gehandelt hat, so handelt er an den Menschen überhaupt.

Deshalb können Menschen sagen: Ja, ich bin begrenzt, ich kenne das Scheitern, ich lebe mit Schuld. Aber wenn Gott mich so ansieht, wahrhaftig und versöhnlich, dann kann ich leben.

Amen.

 



Pfr. Dr. Titus Reinmuth
Wassenberg
E-Mail: titus.reinmuth@ekir.de

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