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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis, 28.09.2008

Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 34:4-10, verfasst von Ralf Hoburg

Die zweite Chance

 

I)

Chancen des Lebens

Die verpasste Chance ist wohl eine der größten Ängste, die viele Menschen innerlich aufreibt. Die Schnelllebigkeit der Konsum- und Medienwelt verlangt die permanente Wachsamkeit, um nicht das „Schnäppchen" bzw. die einmalige günstige Gelegenheit zu verpassen. Ich ertappe mich seit einiger Zeit dabei, dass die in Mengen den Tageszeitungen beigelegten bunten Prospekte der Kaufangebote meine erhöhte Aufmerksamkeit haben. Die Frage, wo der Kaffee heute günstiger ist - bei REWE, Aldi oder Plus - scheint fast wichtiger als die Tagespolitik oder das Weltgeschehen. Nur ja keine Chance verpassen... so lautet auch die Devise bei kulturellen Events oder in der Frage des Lebensgenusses. Dabei sein ist Alles. Die „einmalige" Chance ist der Tribut an einen Lebensstil, der die Jetztzeit zum Maßstab macht, Alles der Verfügbarkeit und dem ökonomischen Haben unterwirft und nicht mit der Wiederkehr des Angebotes oder der Fülle der Möglichkeiten rechnet. Obwohl wir in einer Überflussgesellschaft leben suggeriert die „verpasste Chance" die Angst vor dem Mangel und das Haben-Wollen oder besser: es auch zu bekommen entscheidet über „Sein oder Nicht-Sein". Die „verpasste Chance" macht aber auch das Leben aus: Zwei Menschen, die sich lieben und nicht mehr zueinander finden können, weil ein „Vertrauensbruch" zwischen ihnen steht - Die verpasste Chance der Versöhnung, die alles weitere eröffnet - die verpasste Chance, der man Zeit des Lebens nachtrauert, weil man nicht den Mut hatte über den eigenen Schatten zu springen und den richtigen Zeitpunkt einfach verpasst hat.

Aber - so weiß die Lebenserfahrung - es gibt eine „zweite Chance". Vor allem auf dem Arbeitsmarkt spricht man für gewöhnlich von der „zweiten Chance". Nach längerer Zeit der Arbeitslosigkeit wieder die Möglichkeit zu bekommen, eine feste Anstellung zu erhalten und sich im Berufsleben zu bewähren. Aber auch dann, wenn das Vertrauen verloren gegangen ist, Enttäuschungen zwischen Menschen im Raum stehen und nicht zuletzt in Partnerschaften hat die Rede von der zweiten Chance eine sehr wichtige, ja geradezu existenzielle Bedeutung. Wer gar nach einer schweren Erkrankung oder einer aussichtslos scheinenden Operation wieder gesund wird, redet nicht selten von der zweiten Chance des Lebens und sieht sie als ein Geschenk an. Oftmals werden dann mit der zweiten Chance weitreichende Konsequenzen verbunden. Das Leben wird umgestaltet und aus den Fehlern der Vergangenheit werden Konsequenzen gezogen. Das Leben mit der „zweiten Chance" kann manchmal sogar quali-tätsvoller sein als vorher.

Das Leben besteht aus beiden Arten von Chancen: den verpassten und den ermöglichten Chancen. Letztlich bildet die Rede von den Chancen des Lebens die Offenheit des Lebens ab. Für den englischen Philosophen Sir Karl Popper liegt in der „Offenheit" allen Seins eine Grundkategorie. Aber ist wirklich Alles im Leben so offen? Haben wir die Wahl zwischen den Chancen? Die Antwort darauf liegt nicht so sehr allein in der wissenschaftlichen Entscheidung darüber, ob das Leben durch „Zufall" oder „Notwendigkeit" gesteuert wird, sondern vielmehr auch darin, ob ich fähig bin Chancen zu erkennen und zu ergreifen und vor allem darin, ob ich Chancen auch als Gewinn und Geschenk oder Gabe sehen kann. Vor allem letzteres führt aus christlicher Sicht dazu, dass sowohl die verpassten Chancen wie auch die „zweite" Chance zu einer Lebensqualität werden können, weil ich in die Lage versetzt werde die Dimension „dahinter" zu erahnen... Und von dieser Dimension spricht der heutige Predigttext aus dem 2. Buch Mose (Exodus).

2)

Der innere Antrieb der „zweiten Chance"

Die erste Chance war vertan. Moses hatte die zehn Gebote auf zwei steinernen Tafeln von JHWE selbst auf dem Berg Sinai erhalten. (Ex. 20) Sie versprachen dem Volk Israel eine sichere Lebensgrundlage im gelobten Land. Das Volk war erwählt worden und es wurde ihm eine gute Zukunft verheißen. Alles schien gut und die getroffenen Vorkehrungen über die Stiftshütte und die Kleidung der Priester sicherten die Lebensqualität ab. Aber als Mose erneut zu Jahwe auf den Berg Sinai stieg und längere Zeit vom Volk abwesend war, ergriff das Volk Israel die sich bietende einmalige Chance. Es mehrten sich die Unzufriedenheiten und man erschuf sich ein „goldenes Kalb" als eigenständigen Gott (Ex. 32). Ein Altar wurde gebaut und man tanzte um den Altar herum. Das Leben wurde gefeiert und genossen. Endlich hatte das Volk Israel einen Gott zum Anfassen, den man vor sich hertragen konnte und der vorzeigbar war. Ein Gott zum Anfassen - das ist die Sehnsucht, die allen Religionen zu schaffen macht. Aber Gott gibt es eben nicht als einmalige Chance und der Glaube kann sich der Provokation nicht entziehen, dass Gott eben nicht wie die Produkte der Welt zum Anfassen ist.

Es lässt sich viel Sympathie übrig haben für dieses Verhalten des Volkes Israel, denn es entspricht doch in gewisser Weise eben jener Lebensauffassung der Chance, die man nutzen sollte und die das Leben in seiner Qualität steigern soll. Der Konsum oder die erworbenen Produkte sollen mein Leben bestimmen und es schöner machen. Aber oftmals folgt nach dem Genuss und dem Rausch sehr schnell die Katerstimmung. Die genutzte Chance verfliegt, weil die Stereoanlage zum „Schnäppchenpreis", deren einmalige Chance zum Kauf man nicht auslassen konnte, dann doch im Alltagsleben nicht so bedeutsam ist oder die Billigprodukte dann doch schneller kaputt gehen als die teurere Markenware. Während sich also heute manch einmalige Chance als echtes Windei herausstellt, merkt das Volk Israel den Schwindel nicht sofort. Die Faszination des goldenen Kalbes nimmt sie ganz gefangen.

In dieser Situation des inneren Abfalls von Jahwe zürnt Gott und es entbrennt sein Zorn. Jahwe will das Volk Israel vernichten (Ex. 32,10). Um Gott zu besänftigen, gerät Mose in die Rolle des Fürsprechers des Volkes. Er wird zum Streitschlichter, indem er Gott an seine Zusagen gegenüber dem Volk Israel erinnert, der Israel erwählt hat. (Ex. 32,13) Und hier liegt dann der innere Antrieb für alles weitere Geschehen, denn Jahwe erweist sich als der wahre Gott Israels, indem er gnädig ist und Vergebung ausspricht. So heißt es in Ex. 33, 18: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich." Der innere Grund des Bundes (Karl Barth) liegt in der Erwählung Israels. Aus diesem inneren Grund heraus erbarmt sich Jahwe des Volkes und gibt ihm eine „zweite Chance". Die Versöhnung ist demnach die Voraussetzung für die „zweite Chance".

Die zweite Chance ist das Geschenk Gottes. Sie anzunehmen kann fast nicht ausgeschlagen werden. Erst in dem Augenblick, in dem die „zweite Chance" von Gott selbst auf der Grundlage seiner gnädigen Zuwendung ermöglicht wird, erhält Mose den Auftrag, ein zweites Mal steinerne Tafeln herzustellen, die genauso waren wie die ersten und dort die Gebote auf-zuschreiben.(Ex. 34,1ff). Was an dieser Begebenheit höchst interessant ist, ist die Tatsache, dass es offenbar keinen Qualitätsverlust zwischen der ersten Fassung der Tafeln und der zweiten Fassung der Tafeln besteht. Die „zweite Chance" ist demnach eine echte Chance, weil die Uhr auf „Null" gestellt ist. Die zweiten Tafeln der zehn Gebote unterscheiden sich nicht von den ersten Tafeln.

Sucht man auch hier nach der Möglichkeit, den biblischen Text im heutigen Lebenskontext zu verstehen, habe ich ebenfalls viel Sympathie übrig für die dahinter liegende Botschaft. Der „innere Antrieb" der zweiten Chance liegt in der Versöhnung, der Verzeihung, der Aussöhnung - sei es nun durch Gott oder durch ein gegenseitiges Zusprechen zwischen Menschen. Die zweite Chance erhalten Menschen, die sich lieben und zerstritten sind, wenn sie dem Anderen verzeihen und Wege aufeinander zugehen und nicht auf den St. Nimmer-leinstag warten. Die „zweite Chance" heißt dann aber auch Arbeit an sich selbst, die eigenen Fehler nicht dem Anderen anzulasten. Die zweite Chance ist dann so etwas wie eine Bewährungsprobe, aber durchaus mit dem Wissen, dass man scheitern kann.

Ohne die zweite Chance würde dem Leben etwas entscheidendes fehlen. Es wäre nicht wirklich offen für Überraschungen, die die Qualität eines wirklichen Neuanfangs hätten.

 

3)

 Der Bund als Lebensformel

Die zweite Chance eröffnete sich in dem Moment, wo Mose stellvertretend für das Volk vor Gott tritt und ihn um Vergebung bittet. Mose hatte den Mut, um Vergebung zu bitten. Er machte den entscheidenden Schritt auf Jahwe zu. Er traute sich „Bitte" zu sagen. Er tritt zwischen das Volk und Jahwe und spricht: „vergib uns unsere Missetat und Sünde." (Ex. 34,9) Und Jahwe reagiert darauf, aber seine Reaktion zeigt auch Schattenseiten. Es ist durchaus eine zwiespältige Antwort, die Jahwe gibt, denn sie zeigt auch Seiten an Gott, die für uns nicht angenehm zu hören sind.

Die Gottheit Gottes demonstriert er daran, dass er die Macht hat zu vergeben und zu strafen (Ex. 34,7). Für Luther hatte Gott diese zwei Gesichter: der Vergebung und des Zorns. Ganz bewusst sprach Luther vom sog. „verborgenen" und „offenbaren" Gott. Der liebende Gott ist zugleich auch der strafende Gott. Nicht gilt es nicht als pädagogisches Instrument religiöser Observanz mißzuverstehen, sondern als Freiheit, die bei Gott liegt. Es ist lediglich Ausdruck seiner Souveränität und seines freien Willens. Deutlich wird daran aber auch, dass im christlichen Verständnis die „zweite Chance" als Gabe Gottes oder als sein Geschenk der zuwendenden und vergebenden Liebe angesehen werden kann. Die „zweite Chance" fällt uns im Leben oftmals zu. Dadurch erhält sich geradezu einen zwingenden Charakter des „jetzt oder nie" ohne dabei zum billigen Schnäppchen zu werden. Denn für die zweite Chance muß ich etwas tun. Einerseits muß ich sie annehmen und ergreifen und andererseits stellt sie mich in die Verpflichtung, nämlich der Änderung meines Lebenssinnes und meines Verhaltens. Aus diesem Grund gibt Jahwe die Weisung an das Volk: „Halte, was ich Dir heute gebiete" (Ex.34,11).

Er selbst erneuert deshalb den Bund mit Israel. Dieser Bund, in dessen Mitte bis heute in Israel die Tora steht, ist die Lebensordnung. Es ist wie ein Vertrag, der zwischen Jahwe und dem Volk Israel geschlossen ist. Israel hat die zweite Chance bekommen, weil es sich vom Goldenen Kalb abgewandt hat und Jahwe die Treue hält. Diese exklusive Bundestreue zeichnet das Judentum bis heute aus. Die Geschichte ist voll davon, dass das Volk Israel immer wieder die „zweite Chance" erhielt. Auch die Shoa vermochte es nicht, den Bund zwischen Jahwe und Israel zu zerstören. Gerade in den letzten Jahren seit 1989 ist es ein Zeichen der „zweiten Chance", dass in Deutschland jüdisches Leben und jüdische Kultur an vielen Orten wieder stärker zu spüren ist. Es ist die „zweite Chance", die in der Versöhnung der Greueltaten liegt, die in Deutschland auch im Namen Gottes am jüdischen Volk begangen worden sind. „Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte Du bist, soll des Herrn Werk sehen." (Ex. 34,10) Wenn das nicht eine echte Chance ist! Und anders als bei den Werbeblättern der Zeitungen weiß ich: dass ist keine einmalige Chance, die ich verpassen kann, sondern eine Zusage, die die Zeiten überdauert.

Amen



Prof. Dr. Ralf Hoburg
FH-Hannover
E-Mail: Ralf.Hoburg@t-online.de

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