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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 06.04.2007

Predigt zu Matthäus 27:33-54, verfasst von Ulrich Nembach

Klage - Leiden - Tod

Liebe Gemeinde,

I. Karfreitag - Tag der Stille, Tag der Wehklage, der Klage, der Trauer. Das Wort „Kar" stammt aus dem Mittel- und schon dem Althochdeutschen. Es bedeutet „Klage, Trauer". Wir beklagen das Leiden und Sterben Jesu. Es ist ein qualvolles Leiden und ein grausamer Tod. Menschen haben sich das ausgedacht. Ihre Absicht ist zu quälen und zu töten.

So sind die Menschen. So waren sie vor 2000 Jahren, und so sind sie heute. Eine Minenräumerin schilderte neulich im Radio ihre Arbeit. Sie erzählte, wie sie erschrak, als sie erfuhr, wie Zünder funktionieren. Eine Feder hier, eine kleine Kugel dort - sie greifen geschickt ineinander, sobald der Zünder berührt wird. Als sie das sah, fragte sie sich erschrocken: Wer denkt sich so etwas aus? Was sind das für Menschen? - Ich antworte ihr hier: Es sind Ingenieure, Arbeitnehmer, die abends nach Hause gehen und so ihre Familien ernähren. Es sind Menschen wie du und ich.

Matthäus berichtet nüchtern von Jesu Leiden und Sterben, er stellt den Gang der Ereignisse prägnant dar. Die Handelnden sind normale Menschen, wie es sie damals gab. Matthäus klagt nicht, aber er notiert exakt die Klage Jesu. Er gibt Jesu Worte im Originalton wieder, im Aramäischen, der Sprache Jesu: „Eli, Eli, lama asabtani?" Und dann übersetzt er für seine Leser und Hörer: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Warum?

II. Warum dieses Leid? Warum dieser Tod? - Eine Antwort darauf fand ich in Kirchen im Norden Deutschlands, kurz vor der dänischen Grenze, in Nordfriesland. Dort haben manche Kirchen Kanzeln mit Bildern. Die Kanzeln sind nicht glatt gestrichen wie hier in unserer Kirche, sondern sie tragen Bilder, Schnitzereien aus Holz. Diese Bilder zeigen oft die Kreuzigung Jesu. Die Gemeinde, die zum Prediger hinschaut, hat die Kreuzigung an der Kanzel vor Augen. Sie sieht jeden Sonntag das Bild mit Jesus dem Gekreuzigten. Der Prediger steht hinter dem Bild. Jede Predigt wird hinter dem Bild stehend gehalten. So geht das Sonntag für Sonntag, Jahr für Jahr. Die Kanzeln sind Jahrhunderte alt.

Eine dieser Kanzeln - in der Marienkirche in Süderlügum - erläutert, was sich der Erbauer, der Schnitzer und der Stifter der Kanzel dachten. Die Kanzel trägt unter der Darstellung des Todes Jesu eine Inschrift in der damals im Norden auch in den Kirchen üblichen Sprache, dem Plattdeutschen. Ins Hochdeutsche übersetzt steht dort (Übersetzung von Prof. Dr. Thomas Steensen):

Christus hat selbst unsere Sünde geopfert mit seinem Leib auf dem Holz.

Was unser Predigttext, das Karfreitagsevangelium, erzählend erinnert und der Hebräerbrief auf die Kurzformel bringt, „... geschehen ... zur Erlösung von den Übertretungen" (Hebr. 9,15), was das Neue Testament als Ganzes nicht müde wird zu sagen, fasst diese Inschrift knapp zusammen: Es geht um unsere Sünde. Um sie zu beseitigen, zu tilgen, starb Jesus am Kreuz. Diese Auskunft war dem Erbauer, dem Schnitzer, dem Stifter der Kanzel so wichtig, dass sie auch sie der Gemeinde jeden Sonntag vor Augen hielten und, über die Jahrhunderte hinweg, bis heute halten.

Wir sehen die Sünde heute lockerer. Wir nehmen die 10 Gebote nicht besonders ernst. Das fängt an, wenn Jugendliche eine Kleinigkeit im Kaufhaus „mitgehen" lassen, und reicht bis dahin, dass man die Kollegin, den Kollegen beim Chef schlecht macht, damit er bzw. sie den Arbeitsplatz verliert und man den eigenen behält. Wer die Sünde in dieser Weise sieht, versteht die Inschrift nicht. Er begreift nicht, was Karfreitag bedeutet. Die Klage über Jesu Leiden und Sterben ist die Klage, die Trauer über Jesu Kreuzestod. Wer die Sünde locker nimmt, sieht nicht, was damals an diesem Kreuz, diesem Kreuz neben anderen Kreuzen, geschah.

Sünde ist die Trennung von Gott - mit der Folge der Erfahrung des Alleinseins, des Verlassenseins, der Hilflosigkeit. Nach dem Passionsbericht des Lukas sagt Jesus auf dem Weg zum Kreuz zu den weinenden Frauen, die ihn begleiten (Lk. 23,28): „Weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder!"

Von der Trostlosigkeit des menschlichen Lebens erzählt ein Trauerspiel von Friedrich Hebbel. Ein Tischler, Meister Anton, ist ein aufrechter Handwerker. Er steht mitten im Leben. Er hat klare Prinzipien. Die Welt ist in Ordnung für ihn. Ist sie es wirklich? - Meister Anton ist verheiratet, er hat eine Tochter und einen Sohn, Klara und Karl. Als seine Frau stirbt, hat er noch seine Kinder. Klara ist verlobt mit Leonhard. Dieser ist ganz wild auf Klara, nicht zuletzt wegen ihrer zu erwartenden Mitgift. Um ganz sicher zu gehen, macht er ihr ein Kind. Doch dann wird Klaras Bruder eines schweren Diebstahls verdächtigt - zu Unrecht, wie sich später herausstellt. Leonhard löst die Verlobung. Klara ist verzweifelt und stürzt sich in einen Brunnen. Karl verlässt das elterliche Haus. Meister Anton steht vor einem Scherbenhaufen. Er, der Mann mit klaren Prinzipien, steht allein und mit leeren Händen da. Er schaut sich an und stellt fest: „Ich verstehe die Welt nicht mehr." - Soweit das Trauerspiel ‚Maria Magdalena' von Friedrich Hebbel, hier verkürzt nacherzählt.

Meister Anton versteht die Welt nicht mehr. Hat er sie je verstanden? Hat er sich selbst, seine Familie je verstanden? Und noch immer versteht er nicht. Klare Prinzipien - und klar an der Wirklichkeit vorbei! Es ist auch niemand da, der Meister Anton hilft. Er ist von allen getrennt. Frau und Tochter sind tot. Der Sohn hat das Haus verlassen. Gott, Jesus gibt es für ihn nicht. Gott, Jesus kommen ihm nicht einmal in den Sinn. Damit beschreibt Hebbel unser Leben. So ist der Mensch. Luther bezeichnet ihn als einen, der in sich selbst verkrümmt ist (der Mensch als „homo incurvatus in se"). Wir sagen heute: Er läuft ständig im Kreis, er hört nichts und sieht nichts.

Darin unterscheiden sich die Menschen wie Meister Anton von dem Erbauer, Schnitzer und Stifter der Kanzel. Sie verweisen auf Jesus, der sein Leben wegen der Sünde gab und durch seinen Tod die Sünde aufhob. Hätte Meister Anton unter der Kanzel gesessen, hätte er wohl gelernt, die Welt zu verstehen. Er hätte gelernt, seine Prinzipien rechtzeitig über Bord zu werfen. Vielleicht hätte er diese Ideen nie zu seinen Prinzipien gemacht.

III. Ich habe mich gefragt: Was mögen die denken, die auf dieser Kanzel stehen? Und die, die unter der Kanzel sitzen? Ist es notwendig, dass sie jeden Karfreitag und jeden Sonntag, einschließlich Ostern, das Bild mit dieser Unterschrift sehen? Dass sie es so dauerhaft vor Augen haben? Erbauer, Schnitzer und Stifter, und auch die Gemeinde heute, sagen bis heute „ja". Es gab - und gibt - viele Meister Anton und viele Meisterinnen Antonia. Nicht alle sind Handwerker. Sie sind Schüler, Arbeiter, Angestellte, Bauern, Lehrer, Manager, Politiker und Was-weiß-ich-alles. Dass sie zu Meistern, Meisterinnen Antonia/Anton werden, will die Kanzel in der Kirche Nordfrieslands verhindern. Sie steht da wie ein Leuchtfeuer und sagt: „Ihr beklagt den Tod Jesu. Recht habt ihr, aber seid getrost. Er starb, gab deshalb sein Leben, damit ihr lebt und nicht allein seid. Die Sünde, die Trennung des Menschen von Gott und damit auch von den Menschen, ist tot, gestorben am Holz von Golgatha."

Leuchtfeuer brennen dort, wo Gefahr droht, wo die Strömung gefährlich, wo die Zufahrt zum Hafen gefährdet ist. Die Gefahr, ein Meister Anton zu werden, ist groß. Darum ist es notwendig und gut, dass die Kanzel mit diesem Bild und dieser Unterschrift ständig präsent ist. Wir dürfen nicht müde werden, sie zu lesen und von der Kanzel zu predigen.

In Süderlügum saß der Vater von Matthias Claudius unter dieser Kanzel. Sein Vater stand auf ihr, ebenso schon dessen Vater und dessen Vater. Drei Generationen Claudius folgten Vater auf Sohn als Prediger. Das ging so über 100 Jahre. Erst der Vater von Matthias Claudius wurde Pastor in einem anderen Ort Schleswig-Holsteins. Sein Sohn, Matthias Claudius, suchte sich eine noch andere Kanzel, er schrieb für die Presse. Doch die Schrift an der Kanzel seiner Vorfahren steht hinter seinen Schriften. Sie alle werden nicht müde zu predigen, was dort an der Kanzel geschrieben steht.

Werden auch Sie nicht müde zu hören! Die Minenräumerin hört nicht auf in ihrem Kampf gegen Minen und andere Vernichtungsmittel. Sie arbeitet heute bei der UNO in Genf und kämpft für die Abrüstung; sie kämpft dafür, dass erst gar keine Minen produziert werden, damit Menschen nicht raffiniert töten, nicht allein sind, sondern zusammenstehen. Dafür zu kämpfen ist mühsam, aber sie gibt nicht auf.

IV. Karfreitag ist ein Tag des Wehklagens, Trauerns und des Bedenkens des Leidens und Sterbens: Jesu Sterbens für die Sünde, für die Aufhebung der Trennung des Menschen von Gott.

Amen

 



Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach
Göttingen
E-Mail: ulrich.nembach@theologie.uni-goettingen.de

Zusätzliche Medien:
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