Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 19.10.2008

Predigt zu Matthäus 18:1-4, verfasst von Ulla Morre Bistrup

 

„Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen."

Das klingt ganz einleuchtend. Denn Kinder haben ganz besondere Eigenschaften. Sie können sozusagen das Himmelreich an jedem beliebigen Ort um sich herum schaffen. Oder doch jedenfalls die nahe Umgebung und die nahen Erlebnisse empfinden und genießen und ihnen eine Bedeutung zuschreiben, als befänden sie sich im Himmelreich. Das hat man unzählige Male gesagt und geschrieben. Unter anderem steht es in einem der Lieder, die Benny Andersen uns geschenkt hat und die schon lange zu den Kleinodien unseres Landes gehören. Das Lied handelt vom paradiesischen Land der Kindheit:

Die Fliege ist blau.

Sie kitzelt mich auf meinem Zeh,

und ein paar Ameisen, die wir kennen,

machen es sich gemütlich auf deinen Händen,

der Frosch pinkelt eine Träne,

bevor er geht.

So einfach, so unverdorben und intakt, so geborgen und vertraut. Sogar die Ameisen kennt man. Und wenn man sich mit dem Fuß an einem Feldstein stößt, muss man wohl ein Pflaster draufbekommen.

Kein Wunder, dass man sich als Erwachsener zurücksehnen kann. Denn jetzt gibt es so viele Dinge, die gar nicht so einfach sind, sondern in Unordnung, ungewiss und unbekannt. Und sehr viel anderes als Ameisen. Und wir haben viele Schrammen bekommen, die sich nicht einfach mit einem Pflaster haben behandeln lassen. Wir wollen also sehr gern. Wir wollen so gern wieder wie Kinder werden. Wir suchen gern die Stätten unserer Kindheit auf, ihre Aussichten und ihre Gerüche. Wir singen so gern Lieder, die von Kindern handeln, wir erzählen gern von Kindern für die nächste Generation. Zurück zur verlorenen Unschuld! Zum verlorenen Paradies! Das noch immer genauso verlockend wirkt, wie es für mehr als Erinnerungen unzugänglich ist und bleibt. Weil die Einsichten und Erfahrungen von der Verletzbarkeit anderer und an einem selbst, die Einsichten und Erfahrungen von der Komplexheit und den Problemen des Lebens, die dazwischen liegen, weder ausgelöscht werden können noch ausgelöscht werden sollen.

In dem Lied von Grundtvig, das wir eben gesungen haben, geht er unumwunden zur Sache:

Die entschwundnen Kindertage

nur umsonst man ruft zurück

hier auf Erden, voller Klage;

wie ein Traum fuhr hin das Glück.

             Ja, so ist es. Aber was meint Jesus dann, wenn er davon spricht, dass wir wie Kinder werden sollen? Was bedeutet Jesu Rede von der Kindheit, wenn sie keine nostalgische Flucht zurück in einen Lebensabschnitt ist, der einmal gewesen und der eben für immer verloren ist, was anderes ist die Kindheit als ein - sicherlich ungeheuer wesentlicher - Hintergund dafür, dass wir so sind, wie wir sind.

Ja, Jesus spricht nicht von der Kindheit als dem Ort der Unschuld, als dem Paradies vor dem Sündenfall. Er spricht von der Kindheit als dem Ort des Anfangs und das heißt als einem Ort, der, wenn ich so sagen darf, sehr wohl auch nach dem Sündenfall seine Bedeutung hat. Die Kindheit ist der Ort, an dem alles anfängt. An dem das Leben vor einem liegt. Voller Möglichkeiten. Als ein Ort, an dem die Erinnerung, die Sorge oder Bitterkeit über die Vergangenheit den Hoffnungen und Erwartungen für die Zukunft nichts anhaben kann.

Er ruft ein kleines Kind zu sich und stellt es, wie im Text steht, mitten unter sie. Mit dem Gesicht den staunenden Jüngern zugewandt, die zweifellos diesen Zug als durchaus unpassend und unbegründet empfunden haben, stellt er das Kind vor sich. Und er zeigt auf diese Weise, dass der Ort - der Ort mitten unter ihnen und inmitten der Welt mit ihm, Jesus, hinter sich, mit ihm im Rücken - der Ort des Beginns ist. Und jedesmal, wenn wir den Gottesdienst feiern, feiern wir ihn ganz einfach, damit er uns an den Schultern fasst und an diesen Ort stellt. Vor sich. Wie er es mit dem Kind tat. So dass wir erfahren, dass der Ort des neuen Anfangs nicht einfach einmal war, als wir Kinder waren, sondern dass er sich für immer vor uns befindet. Als der Ort des neuen Lebensmutes. Als der Ort, an dem wir Erwartungen und Hoffnungen für die Zukunft finden können. Glaube daran, dass die Zukunft uns Neues zu bringen hat - ja, wer weiß, vielleicht das Beste.

Weil wir ihn im Rücken haben. Ihn, der an einem Kreuz am Karfreitag den Sündenfall und alles, war wir in unserer Vergangenheit vergeudet und verbrochen haben, mit sich ans Kreuz genommen hat. Damit auf diese Weise ein neuer Anfang für uns immer möglich ist.

Sagt er. Zu uns. Aber können wir daran glauben? Können wir daran glauben, dass es den Ort des neuen Anfangs für uns gibt?

Ja, wir könnten doch mit der Frage beginnen, ob wir glauben können, dass es ihn für andere gibt. Können wir uns und unsere Begriffe von Recht, Gerechtigkeit und Billigkeit beherrschen, so dass wir keinen von diesen Kleinen, die einen neuen Anfang finden, geringachten? Oder bringen wir sogleich sie und damit uns selbst zu Fall - auf den Weg in die Tiefe des Meeres mit dem Mühlstein um den Hals. Indem wir uns über ihren neu gewonnenen Lebensmut lustig machen. „Dir geht's wohl wie gewohnt" - oder schlimmer: „Du bist ein für alle Mal von dir selbst und uns anderen als einer abgestempelt, der seine Zukunft hinter sich hat - begreif das soch!"

Und wenn es um uns selbst geht: Bringen wir uns selbst zu Fall, weil wir es weder wagen noch wollen, dass wir einer von diesen Kleinen werden? Können wir uns demütigen und jegliche Selbstgerechtigkeit aufgeben, alle Gedanken daran, was wir verdient haben, und jegliche Illusion, einziger Schmied unseres eigenen Glücks zu sein? Wagen wir all das aufzugeben und den Neuanfang unseres Lebens als etwas zu betrachten, was uns und allen anderen unverdient geschenkt wird - unabhängig davon, ja trotz dessen, wer und was wir sind und geleistet haben?

Wagen wir es, die Selbstgerechtigkeit und all die mühsam erkämpften Verdienste und Auszeichnungen, die uns zu Fall bringen, von uns abzuhauen wie die Hand, den Fuß und das Auge im Text?

Das sind Fragen, mit denen wir persönlich zu kämpfen haben. Aber während wir kämpfen, ruft er zu sich.

Er ruft, wie er es kurz zuvor getan hatte, als wir die Taufe feierten: „Lasst die kleinen Kinder zu mir kommen!", rief er. Die kleinen Kinder, ja, das ist das Kind, das ihr heute zur Taufe brachtet, aber das seid auch ihr, die mit ihm kamen. Und alle wir anderen, die dabeistanden. Und dann sagte er zu uns, dass das Reich Gottes unser sei. Ganz kostenlos.

Er ruft, wie er es gleich auch tun wird, wenn wir das Abendmahl feiern: „Trinkt alle daraus, denn dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden." Vergebung der Sünden. Ein neuer Anfang ist also möglich für alle meine Kleinen.

Er ruft uns immer wieder zu sich, und er stellt uns mitten in alles, was unser Leben ausmacht - an großen und kleinen Widerständen, an Zweifeln und schweren Entscheidungen, an Enttäuschungen und Reue, an Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit. Vor sich stellt er uns. Wie ein kleines Kind. Denn da stehen wir am Ort des neuen Anfangs, der Vergebung, der Versöhnung, der Möglichkeiten und der Zukunft. Mit ihm im Rücken.

Lasst uns, hierhin gestellt, Grundtvig hören über die Kindertage, die das ganze Leben andauern und noch darüber hinaus - nämlich als einer von diesen Kleinen, als Kinder Gottes:

Diese seine Kindertage

sind der Lenz der Ewigkeit,

treiben fort all Weh und Klage,

auch in unsrer letzten Zeit,

rufen die Verheißung aus,

führn uns heim ins Vaterhaus,

himmelweit vom Schattentale:

Gottesfreud im goldnen Saale.

Amen

 

 

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier



Lektor Ulla Morre Bistrup
DK-8410 Rønde
E-Mail: umb(a)km.dk

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