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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Ewigkeitssonntag, 23.11.2008

Predigt zu Lukas 12:42-48, verfasst von Florian Wilk

Predigttext: Lukas 12,42-48[1]

Liebe Gemeinde,

was für ein Genuss! Bei dieser Kantate[2] kann man geradezu spüren, dass „Menschen- und Engelzungen" zusammen singen. „Solche Freude" dringt durch die Ohren bis ins Herz.

Aber auch für die anderen Sinne ist heute Morgen gesorgt. Denn auf dem Altar steht eine Vase mit Rosen. Eine habe ich mit auf die Kanzel gebracht.[3] Wunderschön ist sie: Ihre Blüte leuchtet in kräftigem Rot; ihr feiner Duft verzaubert die Luft, die ich einatme.

Freilich: Wenn ich sie in die Hand nehme, fügt sie mir auch Schmerz zu: Ihre spitzen Dornen stechen in meine Finger, in meine Handfläche.

So ähnlich verhält es sich mit dem heutigen Tag. Für mich ist er eng mit Blumen verbunden: Totensonntag. Christen in aller Welt gedenken derer, die gestorben sind. Auch wir haben im heute zu Ende gehenden Kirchenjahr Brüder und Schwestern im Glauben verloren. Und manche von uns mussten dabei einen lieben Angehörigen, eine Freundin oder einen Nachbarn hergeben. Zur Erinnerung an die Verstorbenen aber gehören Blumen. Der eine bringt einen Strauß oder ein Gesteck ans Grab. Die andere stellt Blumen zu einem Foto. Gesten, die der Erinnerung sinnfälligen Ausdruck geben. Gesten, die sagen: Die Erinnerung ist lebendig.

Die Rose zeigt, was es mit solcher Erinnerung auf sich hat. Es tut gut, sich zu erinnern. Bilder treten vor mein inneres Auge, Bilder aus dem Leben eines Verstorbenen: Wie er gelacht hat und geweint, sich abgemüht und sich vergnügt. Ich denke an Augenblicke, die ich mit ihm gemeinsam durchlebt habe: Momente des Glücks - und solche voller Leid; Momente großer Nähe - und solche, in denen wir uns fremd waren. An mein inneres Ohr dringen Sätze, die er gesagt hat: Äußerungen der Zufriedenheit und des Ärgers, liebevolle und mahnende Worte. Es tut gut, sich zu erinnern. Mir wird bewusst, was ich an diesem Menschen gehabt habe.

Doch die Erinnerung tut mir auch weh. Vielleicht schon deshalb, weil das Zusammensein mit ihm nicht immer nur einfach war: Weil es manchmal Streit gab; weil er mich manchmal enttäuscht, ja, hier und da verletzt hat. Und auch deshalb, weil die Erinnerung mir meinen Nächsten, um den ich trauere, nicht zurückbringt. Mir wird bewusst, was ich an diesem Menschen verloren habe.

Es tut weh, sich zu erinnern. Es tut gut, sich zu erinnern. Beides gehört zusammen - so, wie die herrliche Blüte und die spitzen Dornen einer Rose zusammengehören.

Auch im heutigen Predigttext geht es um Erinnerung. Er steht im Evangelium nach Lukas, Kapitel 12. In diesem Zusammenhang erzählt Lukas von einem ernsten Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern. Sie reden über die Zeit, in der er nicht mehr leibhaftig bei ihnen sein wird - und damit eigentlich auch über unsere Zeit. Jesus hat dabei im Blick, wie seine Nachfolgerinnen und Nachfolger miteinander leben. Dazu erzählt er folgendes Gleichnis:

42 „Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht? 43 Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht. 44 Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über alle seine Güter setzen.
45 Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: ‚Mein Herr kommt noch lange nicht‘, und fängt an, die Knechte und Mägde zu schlagen, auch zu essen und zu trinken und sich vollzusaufen, 46 dann wird der Herr dieses Knechtes kommen an einem Tage, an dem er's nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, und wird ihn in Stücke hauen lassen und wird ihm sein Teil geben bei den Ungläubigen. 47 Der Knecht aber, der den Willen seines Herrn kennt, hat aber nichts vorbereitet noch nach seinem Willen getan, der wird viel Schläge erleiden müssen. 48 Wer ihn aber nicht kennt und getan hat, was Schläge verdient, wird wenig Schläge erleiden. Denn wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern."

Ein Gleichnis wie eine Rose: Schön und schmerzhaft. Oder wohl eher andersherum: Schmerzhaft und schön.

Denn auf den ersten Blick ist das eine erschreckende Botschaft: Nichts von dem, was wir einander antun, wird vergessen. Jeder und jede wird einmal Rechenschaft ablegen müssen: Wie bin ich mit meinen Geschwistern im Glauben, wie bin ich überhaupt mit meinen Mitmenschen umgegangen? Wir wissen nicht, wie das sein wird. Ich kann mir ein solches „Gericht" nur schwer vorstellen. Aber darum geht es gar nicht. Jesus erzählt ein Gleichnis. Und seine Botschaft ist klar: „Alles, was du anderen Menschen tust, hat Folgen. Du willst das vielleicht nicht wahrhaben. Aber irgendwann wirst du selbst diese Folgen tragen müssen. Dein Tun wird auf dich selbst zurückfallen."

Eine deutliche Warnung. Ich ahne, warum Jesus sie ausspricht: Wie oft versäume ich zu bedenken, welche Folgen mein Verhalten hat - für andere, für unser Zusammenleben und damit auch für mich selbst. Eine notwendige Botschaft also. Erschreckend aber bleibt sie.

Doch das sind nur die Dornen des Gleichnisses. Zugleich hat es eine wunderschöne Blüte, verströmt es einen wohltuenden Duft: Ich bin für meine Nächsten verantwortlich. Gott hat sie mir anvertraut. Denn das heißt: Ich bin nicht allein. Links und rechts von mir sitzen Mit-Menschen, Mit-Christen. Vor und hinter mir auch. Und das heißt zugleich: Gott traut mir viel zu, gibt mir eine große Aufgabe: Sorge für deine Nächsten.

Überfordert mich das? Wohl kaum. „Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht?", fragt Jesus. Anderen zur rechten Zeit geben, was ihnen zusteht - mehr ist nicht verlangt. Eigentlich nur das Selbstverständliche: „Achte darauf, dass deine Nächsten bekommen, was sie zum Leben brauchen. Hilf ihnen, soweit es in deinen Kräften steht."

Die Verheißung ist groß. Denn auch solches Tun hat Folgen. Vielleicht kann ich sie zunächst nicht sehen; vielleicht ahne ich nicht einmal etwas davon. Doch wenn ich anderen beistehe, trage ich dazu bei, dass Menschenleben gelingt: das Leben meines Nächsten; unser Zusammenleben; und damit auch mein eigenes Leben. Hier und jetzt - und in alle Ewigkeit.

„Nichts von dem, was ihr einander antut, wird vergessen. Alles hat Folgen, auch für euch selbst." Eine Botschaft wie eine Rose: Bestechend schön.

Eine Botschaft gerade für Totensonntag. Wenn ich an einen Verstorbenen zurückdenke, dann frage ich ja: Haben wir einander nicht viel Gutes getan? Hat er mich nicht manches Mal beschützt? Getröstet? Gesegnet? Dann wird mir bewusst, wie viel ich ihm verdanke. Dann wird mir klar: Gott hat mich reich beschenkt. Wenn ich mich an diesen Verstorbenen erinnere, dann frage ich aber auch: Was sind wir einander schuldig geblieben? Wann habe ich geredet, als ich hätte zuhören sollen; geschwiegen, als ich hätte reden sollen? Wo habe ich es versäumt, meine Hand zu reichen - oder seine ausgestreckte Hand zu ergreifen? Dann wird mir bewusst: Wir waren füreinander verantwortlich. Dann wird mir klar: Ich kann nur auf Gottes Vergebung hoffen.

Gott hat mich reich beschenkt - ich bin auf Gottes Vergebung angewiesen: Beides gehört zur Erinnerung an den Verstorbenen. Beides prägt unser Zusammenleben als Christen.

Die Verantwortung bleibt; sie wird mir nicht abgenommen. Aber der, der Rechenschaft von uns fordert, ist niemand anders als der, der für uns in den Tod gegangen ist.

Die Erinnerung bringt mir den Verstorbenen nicht zurück. Aber sie verbindet mich mit einem Menschen, den selbst der Tod nicht von Gott getrennt hat. So ist Erinnerung ein Vorzeichen der Ewigkeit. Denn in der Ewigkeit will Gott all seine Kinder zusammenführen: die, die gestorben sind, und die, die leben. Deshalb begehen wir heute nicht nur den Totensonntag, sondern feiern zugleich Ewigkeitssonntag. Auch dafür steht die rote Rose - ist sie doch die Blume der Liebe. Denn ewig ist im Himmel und auf Erden nur eins: Gottes Liebe.

Amen.



[1] Der Gottesdienst wird im Rahmen einer Reihe mit Predigten zu Texten aus dem Lukasevangelium gefeiert.

[2] Im Gottesdienst führen Universitätschor und -orchester unter der Leitung von Herrn UMD Ingolf Helm die Kantate BWV 140 „Wachet auf, ruft uns die Stimme" auf.

[3] Die Idee habe ich von Pfarrer Ernst Walter Rohmann übernommen; s. Gottesdienstpraxis Serie A. Perikopenreihe 3, Band 4, Gütersloh 1999, 146-154.



Prof. Dr. Florian Wilk

E-Mail: fwilk@gwdg.de

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