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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Advent, 30.11.2008

Predigt zu Matthäus 21:1-9, verfasst von Güntzel Schmidt

Predigttext:

Als sie in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen. Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9): "Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers." Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!

 

Liebe Gemeinde,

wenn ich mir im Buch oder in einer Zeitschrift eine wichtige Stelle markieren will, habe aber gerade keinen Stift zur Hand, dann falze ich die untere Ecke der Seite um: ich mache ein Eselsohr in die Seite.
Das geht natürlich nur mit Zeitschriften, Zeitungen oder eigenen Büchern. In Büchern aus der Bibliothek darf man keine Eselsohren machen. Früher durfte ich auch meine eigenen Bücher nicht so markieren - ein Eselsohr auf einer Seite gehörte sich nicht, das war ein Zeichen von Liederlichkeit. Deshalb genieße ich es heute manchmal, ein Eselsohr in eins meiner Bücher machen zu können ...
Das Eselsohr, so unschön es ist, erfüllt einen wichtigen Zweck: Es markiert etwas Wichtiges.
Auch in den heutigen Tag müsste man ein Eselsohr machen, um etwas Wichtiges zu markieren: Es ist Advent. Jesus, Gottes Sohn, kommt.

I

Advent - auf deutsch: Er kommt. Daran erinnern uns die vier Sonntage vor Weihnachten, darauf bereiten wir uns vor, das ereignet sich in ihnen: Jesus kommt.
Dass Jesus unter uns ankommt, ist offenbar nicht wörtlich zu verstehen - sonst würde mancher Witzbold wohl fragen: "Ja, wo ist er denn?" Er ist ja schon angekommen, vor langer Zeit. Und die Geschichte, das Evangelium, das von diesem Kommen berichtet, handelt heute nicht von der schwangeren Maria, die sich auf die Geburt ihres Kindes vorbereitet. Eine solche Geschichte würde man eigentlich erwarten, so kurz vor Weihnachten.
Das Evangelium handelt vielmehr vom Erwachsenen Jesus, der seinem Tod entgegengeht - oder, wenn man so will, entgegen reitet. Der Ölberg, von dem aus Jesus nach Jerusalem einzieht, wird noch einmal eine Rolle spielen: Dort liegt der Garten Gethsemane, wo Jesus mit Gott und seinem Schicksal ringt, wo er mit einem Kuss verraten wird. Das Volk, das jetzt "Hosianna" ruft, wird wenige Tage nach dem Einzug "Kreuzige ihn!" brüllen. Und als sein Todesurteil wird das angegeben werden, als was die Menschen ihn gerade begrüßen: König, Sohn Davids.

II

Advent - Jesus kommt. Und offenbar ist es von Belang, wie er ankommt: auf einem Esel.
Der Esel hat keinen guten Leumund. Er gilt als störrisch und faul, als dumm und trübsinnig, und ist das Reit- und Lasttier der armen Leute. Die reichen Leute, Könige zumal, kommen hoch zu Ross. Aber hier muss eine Prophezeiung erfüllt werden, das Wort eines Propheten muss Wirklichkeit werden, und darum ist es nötig, dass Jesus auf einem Esel reitet. Auf zwei Eseln, wenn man's genau nimmt: Einer Eselin und ihrem Fohlen - wie auch immer man sich den Ritt auf zwei so unterschiedlich großen Tieren vorstellen soll.

Eine Prophezeiung wird erfüllt, indem Jesus auf einem Esel in die Stadt reitet.
Jesus selbst ist die Erfüllung eines Wortes: "Das Wort ward Fleisch", steht am Anfang der ganz und gar vergeistigten Weihnachtsgeschichte des Johannesevangeliums, "das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit" (Johannes 1,14). Jesus ist das lebendig gewordene Wort Gottes, das Wort, das wahr wurde, das Wirklichkeit wurde. Da ist es nur folgerichtig, dass auch ein Prophetenwort lebendig und wirklich wird, als Eselin und Fohlen.

III

Wenn wir, vom fleischgewordenen Wort angeregt, genauer hinschauen, die Geschichte beim Wort nehmen, fällt auf, dass den beiden Eseln die beiden Jünger entsprechen, die Jesus aussendet, sie zu holen. Vielleicht braucht es zwei Jünger, um zwei Esel zu beschaffen. Vielleicht werden aber auch hier wieder Worte lebendig.
"Du Esel", sagt man manchmal, wenn jemand zu begriffsstutzig ist, oder wenn man sich über jemanden ärgert. Auch die ersten Christen wurden als Esel verspottet und karikiert - ihr Glaube an einen menschlichen Gott, der den Tod eines Verbrechers starb, war einfach zu lächerlich, zu dumm.
Auch bei den Eseln im Evangelium menschelt es: Sie bekommen die Kleider der Jünger aufgelegt. Vielleicht findet hier auch so etwas wie ein Rollentausch statt: Die beiden Esel, die Jesus beim Einzug tragen, haben etwas von den Jüngern, sie sind sozusagen als Jünger verkleidet. Jahrhunderte später wird eine Legende aufkommen, ein Mensch habe ein Kind durch einen Fluss getragen, das sich im Nachhinein als das Christkind, als Jesus, entpuppte. Christophorus wurde dieser Mensch genannt, Christusträger.

IV

Noch ein letzter Gedanke, bevor ich versuche, all die losen Enden zu verknüpfen:
Jesus zieht als König in Jerusalem ein, als solcher wird er vom Volk begrüßt. Nicht hoch zu Ross, sondern auf einem Esel - nicht als Herrscher, sondern als ein volksnaher König, als Volkskönig. Einer, der nicht Macht will, nicht Herrschaft über andere will, sondern gut zu den Menschen ist. Seine hervorstechende Eigenschaft heißt auf Griechisch "pra'üs", auf deutsch: freundlich, sanftmütig.

Und das Volk, das sich so wankelmütig zeigt - heute schreit es "Hosianna", morgen "Kreuzige ihn!" - das Volk ergreift das Wort. Es ruft ihm zu: "Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn". Das ist der Gruß, mit dem die Priester die Pilger im Tempel begrüßten. Ein Priesterwort aus dem Mund des Volkes - Priestertum aller Gläubigen. Jesus macht es möglich.

V

Advent - Jesus kommt. Worte werden lebendig, werden Fleisch. Esel werden zu Christusträgern, und "Esel" ist nicht mehr nur ein Schimpfwort.
Den Jüngern, dem Volk kommt Gott ganz nah - so nah, dass sie alle zu Priestern, alle zu Christusträgern werden.

Wenn Jesus heute, am 1.Advent, zu uns kommt, sind auch wir Christusträger. Wir tragen ihn auf unseren Schultern wie einst Christophorus. Kein Schlauberger oder Witzbold kann sagen: "Guck mal, da ist er ja!" Dass wir ihn tragen, kann man nicht sehen - und doch wird er, wird Gottes Wort durch uns körperlich, wird durch uns wirklich. Das Wort "pra'üs" wird durch uns Wirklichkeit. Da, wo wir in dieser Zeit des Advents, der Ankunft, sanftmütig, freundlich sind, kommt Jesus an durch uns. Kommt seine Freundlichkeit und Sanftmut in uns zur Welt. Und zu den Menschen. Und auch zu uns durch andere, die für uns zu Christusträgerinnen, zu Christusträgern wurden.

Wenn also das nächste Mal jemand "Du Esel!" zu Ihnen sagt: Dann lächeln Sie! Lächeln Sie still in sich hinein und nehmen Sie es als ein Kompliment an. Denn in diesem Augenblick werden Sie, wenn ich das mal so sagen darf, ein richtiger Esel sein und eine richtige Eselin: Ein Christusträger. Der, der Ihnen dieses "Kompliment" machte, hat es wahrscheinlich so nicht gemeint - aber welche Wirklichkeit sein Wort annimmt, bestimmt nicht er, sondern Sie.

Und wenn Sie mal wieder ein Eselsohr in eine Seite falzen - oder ein Eselsohr in einem Buch finden -, dann denken Sie daran, dass dieses Eselsohr Sie an etwas ganz Wichtiges erinnern will: Dass wir "pra'üs" sind, sanftmütig und freundlich - so sanftmütig und freundlich wie der, auf den wir im Advent warten. Und es wird: Advent - er kommt zu uns. Amen.



Pfarrer Güntzel Schmidt
Klosterkirche Riddagshausen
E-Mail: guentzel.schmidt@lk-bs.de

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