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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Advent, 07.12.2008

Predigt zu Lukas 21:25-33, verfasst von Bernd Giehl

Liebe Gemeinde!

In diesem Jahr ist es mir zum ersten Mal aufgefallen, wie vielfältig und bunt das Angebot der Kirchen gerade im Advent ist. Wenn man nicht mehr Gemeindearbeit macht, sondern in der Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt ist, fällt einem so etwas eben schneller auf. Da veranstaltet also die eine Gemeinde einen lebenden Adventskalender. An einem bestimmten Wochentag zieht man zu einem Haus, das dafür besonders geschmückt ist, dort werden dann Geschichten vorgelesen und Lieder gesungen. Eine andere Gemeinde in der Wiesbadener Innenstadt bietet jeden Sonntag Führungen für Kinder durch ihre Kirche an. Das Sozialpfarramt eröffnet den Advent mit einer Aktion am Wiesbadener  Hauptbahnhof.  Auf dem Sternschnuppenmarkt im Zentrum Wiesbadens gibt es nicht nur einen Stand der Kirche, an dem christliche Bücher verkauft werden und Gespräche mit Pfarrerinnen und Pfarrern möglich sind, sondern auf der Bühne am Schlossplatz gibt es an manchen Tagen auch Adventsangebote für Kinder. Nicht nur eine sondern zwei Innenstadtkirchen führen das Weihnachtsoratorium von Bach auf und andere bieten Bachkantaten an oder veranstalten ein Adventskonzert mit Chören und adventlicher Musik.

Nun ist es ja nicht so, dass die Gemeinden und Dekanate zu anderen Zeiten untätig wären. Aber im Advent steigt die Zahl der Aktivitäten doch spürbar an. Vor allem in der Innenstadt, rund um den Sternschnuppenmarkt. In Wiesbaden mit seinem großen Weihnachtsmarkt, wo alles Mögliche rund um Weihnachten verkauft wird, fällt es einem schon einmal auf, wie die Kirchen rund um den Markt rufen: Wir sind auch noch da. Neben all den schon beschriebenen Aktivitäten gibt es dann auch noch die „Zwölf Minuten mit Gott" in der Marktkirche, wo man sich als Ruhepol in all dem vorweihnachtlichen Trubel versteht und einlädt zu einer kurzen Andacht mit adventlicher Musik und mit einer kurzen Besinnung.

Nein, ich will das alles nicht schlecht machen. Es ist gut, dass die Kirchen Präsenz zeigen. Gerade in der Vorweihnachtszeit, die ja früher einmal Adventszeit hieß und eine Zeit der Besinnung sein sollte. Und doch kann ich mich hin und wieder des Gefühls nicht erwehren, dass da auch eine Portion Angst dahinter steckt. Man muss eben auf sich aufmerksam machen, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Und dafür ist die Adventszeit eben genau die richtige Zeit. Wann, wenn nicht vor Weihnachten sollen die Menschen denn noch ihr Bedürfnis nach Religion entdecken? Also müssen die Kirchen mitmischen in diesem vielstimmigen und oft auch dissonanten Chor. Auch sie müssen auf den Markt gehen und zeigen: Wir sind auch noch da.

Ein ketzerischer Gedanke? Mag schon sein. Aber wir sind ja hier unter uns. Und da kann man es schon mal aussprechen, was man wahrnimmt:  Angst um den Bestand der Kirche. Der ja durchaus nicht gesichert ist. Angst nicht mehr wahrgenommen zu werden, ins Vergessen zu geraten. Eine Angst, die vielleicht gar nicht so unbegründet ist und der man sich doch ein wenig schämt.

Nun werden fromme Gemüter wahrscheinlich sogleich einwenden, dass das ja wohl nicht sein könne, dass die Kirche falle. Der Fels in der Brandung. Die Institution, die zweitausend Jahre überdauert hat. Die Reiche kommen und gehen sah. Das Weltreich der Spanier, das heilige römische Reich deutscher Nation, die Monarchie in Deutschland und was da noch alles aufzuzählen wäre. Eine Welt ohne die christliche Kirche? Wäre die vorstellbar?

Nun ja. Nicht so ganz einfach. Andererseits: Haben wir uns vorstellen können, was in diesem Jahr geschah, dass nämlich das Bankensystem um ein Haar in sich zusammengebrochen wäre? Haben wir uns vorstellen können, dass die Welt des Geldes einfach nicht mehr funktioniert? Weil keine Bank mehr der anderen traut und deshalb ihr Geld lieber für sich behält? So phantastisch es sich auch anhört: Geld an sich hat keinen Wert. Erst das Vertrauen darauf, dass ich für das Geld, das ich ausgebe, auch den entsprechenden Gegenwert bekomme, macht es werthaltig. Und wenn dieses Vertrauen nun zerstört ist, weil die Banken nicht mehr sicher sind, dass sie das Geld, das sie ausleihen, auch wieder zurückbekommen? Dann bricht offenbar alles zusammen. Dass wir weit davon entfernt gewesen wären, wird wohl kaum jemand behaupten.

Was wäre gewesen, wenn ...? Manchmal stehen wir am Abgrund und merken es erst später.

Aber will ich überhaupt darüber reden? Eigentlich nicht. Ich will Ihnen keine Abgründe ausmalen. Es wäre ein leichtes gewesen, die Bankenkrise noch ein wenig zu dramatisieren, von Menschenschlangen vor geschlossenen Eingangstüren der Deutschen Bank oder der Commerzbank zu erzählen, von Geldautomaten, die kein Geld mehr ausspucken. So furchtbar viel Phantasie gehört ja nicht dazu, sich das alles auszumalen. Andererseits: warum sollte ich das tun? Weil der Predigttext von diesen Abgründen redet? Weil er den Untergang der Welt vor Augen malt? Von daher liegt ein solches Szenario natürlich nahe. Andererseits tue ich mich seit vielen Jahren schwer mit Texten wie diesem. Jedes Mal wenn sie wieder an die Reihe kommen, frage ich mich: wie mit ihnen umgehen? Ich könnte meinen Vater fragen; der würde mir vielleicht sagen, ich solle einfach das predigen, was dasteht. Wenn es in fünf Jahren nicht eintreffe, dann eben in 50. Aber als der Skeptiker, der ich nun einmal bin, würde ich darauf erwidern, dass das schon die Gemeinde des Lukas so geglaubt habe, und dass es dann noch einmal gut 1900 Jahre dauerte, ohne dass das, was hier beschrieben wird, eintrat. Oder soll ich sagen, es werde schon alles nicht so schlimm kommen? Und die Rede vom wiederkommenden Jesus sei sowieso nur ein Mythos? Dann würde ich gegen meine eigene Hoffnung anpredigen.

Nein, bei aller Kritik an Texten wie diesem: Da ist ein Kern, der mir wichtig ist. Und diesen Kern möchte ich herausarbeiten. Ich will das versuchen, indem ich eine Geschichte erzähle.

Lukas sitzt an seinem Schreibtisch. Es ist später Abend. Den ganzen Tag über hat er Kranke behandelt. Er ist zu ihnen in ihre Häuser gegangen und hat ihnen Medikamente gegeben. Hat ihnen gut zugesprochen. Vielen hat er gesagt, sie sollten die Hoffnung nicht sinken lassen; das werde schon wieder. Andere hat er getröstet indem er gesagt hat, auch wenn er bald sterben müsse, werde doch nicht alles zu Ende sein. Er werde bald bei Gott im Licht sein. Einer hat ihn gefragt, warum er noch komme. Er, der Kranke, könne ja nicht einmal die Medikamente bezahlen, geschweige denn den Arzt, und Lukas hat nur abgewinkt. Sicher verdient er mit seiner Tätigkeit den Lebensunterhalt, aber Geld ist ihm nicht wichtig. Viel wichtiger ist ihm die Nachfolge Jesu. Vor vielen Jahren schon hat er sich den Christen angeschlossen. Dieser Jesus hat ihn fasziniert. So völlig aus dem Vertrauen auf Gott leben wie Jesus - wer das könnte. Er versucht es zumindest. Und auch Jesus nachzufolgen ist ihm wichtig.

Schon seit langer Zeit schreibt Lukas sein Evangelium. „Evangelium" ist Griechisch und heißt „Frohe Botschaft". Gott liebt die Menschen, obwohl sie Sünder sind, so übersetzt er dieses Wort. Gott sieht, was sie Böses tun, Gott sieht auch, wie sie unter dem Bösen leiden, und er will ihnen helfen. Darum hat er seinen Sohn in die Welt geschickt, um die Menschen zu erlösen. Wunderbare Geschichten hat dieser Jesus, den sie den Sohn Gottes nennen, erzählt. Am Besten gefällt Lukas die Geschichte vom „Verlorenen Sohn", der weggeht von seinem Vater, weg von der Aufgabe, die für ihn bestimmt war. Wie er sich dann in der Welt verirrt,  in Not und Elend gerät und am Ende beschließt, nach Hause zurückzukehren. Und wie dann der Vater dem Verlorenen entgegeneilt, wie er ihn in die Arme schließt, als den wiedergefundenen. Immer und immer wieder erzählt Lukas sie jedem, der sie hören will. Er will, dass die Menschen von Jesus und seiner Botschaft erfahren.

Heute Abend ist er an einer schwierigen Stelle angekommen. Es ist die Rede vom Ende der Welt und vom Kommen des Menschensohnes. Diese Worte kann Lukas nicht übergehen. Auch er muss sie aufschreiben, genau wie sein Vorläufer Markus, der das erste Evangelium geschrieben hat. Er selbst hat seinen Vorgänger zwar nicht mehr kennen gelernt - der hat etwa zwanzig Jahre vor ihm geschrieben - aber er hat Menschen befragt, die den Markus noch gekannt haben. Natürlich hat er sie auch zu dieser Rede befragt. Markus habe ganz fest daran geglaubt, dass Jesus noch zu seinen Lebzeiten wiederkomme, haben ihm die berichtet, die er interviewt hat. Deshalb habe Markus auch keine Angst vor den Schrecknissen gehabt, über die er berichtet habe. All das, so habe Markus gesagt, dauere ja nur eine kurze Zeit. Und dann werde Jesus wiederkommen und sein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit aufrichten. Kurze Zeit später sei Jerusalem von den Römern zerstört worden, und darin habe Markus erst recht eine Bestätigung der Weissagung Jesu gesehen. Aber das sei ja nun auch schon zwanzig Jahre her, aber Jesus sei immer noch nicht wiedergekommen. Was er, der gelehrte Herr, denn dazu meine.

Und nun sitzt Lukas also über diesem schwierigen Kapitel und brütet. Wie kann er das seinen Lesern verdeutlichen? Die, an die er denkt, sind ja Menschen, denen er Hoffnung predigen will. Ihr Leben ist schließlich schwer genug. Manche von ihnen erinnern sich noch an die furchtbaren Verfolgungen unter Kaiser Nero. Lukas überlegt hin und her. Was soll er tun? Weglassen kann er diese Rede natürlich nicht. Die Zeichen des Kommenden hat Jesus nun einmal benannt. Aber soll er wirklich, wie sein Vorgänger Markus, schreiben: „Aber zu der Zeit werden Sonne und Mond ihren Schein verlieren und die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen?" (Mk 13,24f.) Das erscheint ihm doch allzu drastisch. Also schwächt er ein bisschen ab und schreibt lieber: „Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Menschen bange sein..." Weil ihm da aber immer noch zu viel von der Angst die Rede ist, fügt er noch einen Satz hinzu: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich euer Erlösung naht."

Nun ist es wirklich finstere Nacht. Seine Frau, das weiß Lukas, ist schon lang zu Bett gegangen. Lukas ist mit dem zufrieden, was er heute Abend geschrieben hat. Er löscht die Öllampe und geht zu Bett. Für heute hat er sein Tagwerk getan.  

War es so? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es so, vielleicht aber auch ganz anders. Aber ich habe das, was mir aufgefallen ist, benannt. Lukas hat das Werk seines Vorgängers ergänzt. Obwohl er sicher davon ausging, dass Markus Worte Jesu überliefert hat, hat er ihnen etwas hinzugefügt. Vor allem diesen einen Satz: „Wenn dies alles geschieht, so erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht." Lukas ist es wichtig, dass seine Leser in all dem Schrecken, den sie erleben werden, den Mut nicht sinken lassen. Er will sagen, dass hinter all dem Gott zu suchen ist, der das Kommen seines Reiches nicht aus den Augen lässt.

Im Grunde ist Lukas in einer ähnlichen Situation wie wir. Er kennt die Überlieferung, dass Jesus schon bald nach seinem Tod und seiner Auferstehung wiederkommen wird als Menschensohn, und dass er dann sein Reich aufrichten wird. Ein Reich in dem es keinen Hunger und keinen Krieg mehr geben wird. Er kennt diese Worte, aber auch er hat seine Not mit ihnen. „Wann wird es so weit sein? Wann wird Gott kommen und sein Reich aufrichten?" So wie wir fragt auch er.  So viel anders als unsere Situation ist auch die seine nicht. Auch er und die Menschen für die er schreibt, leben in unsicheren Zeiten. Auch seine Leser fragen vermutlich: Wann ist es so weit? Aber er kann die Frage genauso wenig beantworten wie wir. Doch er will ja Mut machen. Also fügt er den Worten, die er bei Markus findet, diesen Satz hinzu: Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich euer Erlösung naht." Gebt die Hoffnung nicht auf, dass Gottes Reich kommen wird, will er damit sagen. Vertraut auf Gott. Er wird es richten.

Im Advent gehen wir auf die Geburt Jesu zu. Wir feiern Gottes Kommen in die Welt. Aber zugleich bitten wir auch darum, dass er noch einmal kommt und sein Reich aufrichtet, sodass es alle sehen können. Wenn wir an dieser Hoffnung festhalten, wenn wir  vor allem im Advent immer wieder an sie denken, dann sind wir ausgespannt zwischen Himmel und Erde. Das gibt Hoffnung, aber es kostet uns auch Kraft. Manchmal ist es gar nicht so einfach, an dieser Hoffnung festzuhalten.

 Ich will mit einer kleinen Geschichte schließen. Am 1. Dezember habe ich als Mitarbeiter der Öffentlichkeitsarbeit die Eröffnung des „lebenden Adventskalenders" im Wiesbadener Hauptbahnhof erlebt. In einer Ecke des Hauptbahnhofs stand ein kleiner Posaunenchor und blies „Macht hoch die Tür" und „Tochter Zion". Die Leiterin der evangelischen Erwachsenenbildung und der Referent für gesellschaftliche Verantwortung erzählten etwas von der Botschaft vom Advent und interviewten die Stadtverordnetenvorsteherin, wie sie den Advent erlebe. Passanten blieben stehen und hörten zu, andere setzten unbeirrt ihren Weg fort. Hin und wieder Lautsprecherdurchsagen, die die Musik oder die Redebeiträge unterbrachen. Ein Paar, das lautstark stritt. Die Realität ließ sich - anders als im Gottesdienst nicht ausblenden. Aber vielleicht war ja gerade das der Gedanke dieser Eröffnungsveranstaltung. Die Botschaft vom kommenden Herrn soll gerade da gesagt werden, wo sie sonst nicht erklingt.

Vielleicht hat sie ja gerade dort, an diesem eher nüchternen Ort, Menschen erreicht, die sonst keine Kirche aufsuchen.

 



Pfarrer Bernd Giehl
Hünstetten
E-Mail: giehl-bernd@t-online.de

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