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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Advent, 14.12.2008

Predigt zu Matthäus 11:2-6, verfasst von Stefan Strohm

I. Predigttext: Mt 11,2-6 (3. Advent)

Als nun Johannes im Gefängnis von den Werken des Christus hörte, ließ er ihn durch seine Jünger fragen:

Bist denn Du der Kommende, oder sollen wir einen andern erwarten?

Jesus antwortete ihnen:

Geht, und verkündet Johannes, was ihr hört und seht:

Blinde kommen zum Sehen und Lahme gehen umher, Aussätzige werden rein und Taube hören. Und:

Tote werden erweckt und Armen wird das Evangelium verkün­digt.

Ja, selig ist, wer sich an mir nicht stößt.

 

II. Predigt

1.

Liebe Gemeinde

Das letzte Wort des Vorläufers ist eine Frage:

Bist denn Du der Kommende?

Danach hören wir nocheinmal von Johannes dem Täufer: Herodes Antipas hat ihn aus dem Gefängnis holen und ermorden lassen. Seinen Kopf hat er der Stieftochter über­geben und sie der Mutter, welche zum zweiten Mal, mit Herodes Antipas, verheiratet ist.

Das letzte Wort also des Vorläufers, des gefangenen Predigers in der Wüste, Johan­nes' des Täufers:

Bist denn Du der Kommende, oder sollen wir einen andern erwarten?

Warum fragt Johannes der Täufer das? Hat der Täufer nicht am Jordan den Geist wie eine Taube auf Christus herabkommen sehen? Hat er einen andern erwartet, als er am Jordan ausgerufen hat:

... Der aber nach mir kommt, ist stärker als ich; mir steht es nicht zu, ihm die Schuhe zu tragen.

...In seiner Hand ist die Wurf schaufei, und er wird seine Tenne säubern. Seinen Weizen wird er in die Scheune einbringen, die Spreu aber wird er in unauslösch­lichem Feuer verbrennen.

Hat Johannes einen Rächer erwartet, einen Befreier der Gefangenen und Unterdrück­ten, einen, der den Feuersturm entfacht, welcher die Herren hinwegfegt und Gerech­tigkeit über den Hütten der Gebeugten aufblühen läßt?

Ist Johannes enttäuscht, mahnt er, drängt er Jesus, fordert er von ihm den Be­freiungsschlag ein? Will er Taten sehen, sehen, wie das Land in Feuer stehe, die An­maßenden verbrenne und verzehre, damit es dann wie von selbst kommen kann, das paradiesische, gotterfüllte Leben?

Das letzte Wort des Vorläufers, des gefangenen Predigers in der Wüste, Johannes' des Täufers ist eine Frage:

Bist denn Du der Kommende, oder sollen wir einen andern erwarten?

Warum fragt Johannes der Täufer das? Hat der Täufer nicht am Jordan den Geist wie eine Taube auf Christus herabkommen sehen? Hat er einen andern erwartet, als er am Jordan zur Buße gerufen hat:

Ich taufe euch mit Wasser zur Umkehr; der aber nach mir kommt, ist stärker als
ich...
Er wir euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen.

Es wird erzählt, daß die Jünger des Täufers schon vorher einmal zu Christus gekommen sind und gefragt haben:

Warum fasten wir und die Pharisäer, deine Jünger aber fasten nicht?

War Johannes der Täufer, der Herodes um seiner Ehe mit der Frau seines Bruders willen zur Rede gestellt hat, ein Mann des strengen, des rigorosen Lebens, der in Jesus nun, wie Jesus das Urteil der Leute zitiert, den «Fresser und Weinsäufer» sieht, den Freund der Zöllner und Sünder, den Vertreter des Laisser-faire?

Ist Johannes enttäuscht, mahnt er, drängt er Jesus auf ein heiligmäßiges, entsa­gungsvolles, weitabgewandtes Leben, damit es dann wie von selbst kommen kann, das gotterfüllte paradiesische Leben?

Was hören wir da in die Frage des Johannes hinein? Wir sehen den Rigoristen der sozialen Gerechtigkeit, wir sehen den Moralisten eines geläuterten, einfacheren Lebens in ihm.

Und indem wir sehen, wie wir in ihn ein Ideal von uns projizieren, sehen wir vielleicht auch, wie wir in das, was auf uns zukommt aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft, projizieren, nicht was war, oder was kommt, sondern, was wir sehen wollen, gewesen sein oder kommen sehen wollen. Wir projizieren in ihn unsere Fragen und unsere Erwartungen hinein.

Augustus oder Karl der Große, Stalin oder Hitler, Kennedy oder Obama, waren sie es, auf die wir warten sollten, oder sollen wir wieder und wieder eines andern warten? Doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er soll Gott nicht versuchen und keinen andern anbeten als Gott allein.

Sollte Johannes der Täufer nicht danach gefragt haben, ob er in Jesus den zu sehen hat, in dem der allein Anbetungswürdige, er selbst zu ihm kommt, nichts anderes mit ihm, als das, wofür Johannes keinen Namen hat, nur die Ausrichtung darauf, den «Kommenden» ?

Bist Du einer von jenen, die unsere gar zu genau benannten Erwartungen erfüllen, so daß wir auf anderes und wieder anderes warten könnten und müßten, oder bist Du der, außer dem nichts anderes mehr zu erwarten und zu hoffen ist, weil mit ihm mehr als Erwartetes da und Gegenwart ist?

Sollte der gefangene Täufer Johannes, indem er nach dem Kommenden fragt, dem erst noch Kommenden, dem, was noch nie war, frei werden von sich, um das Unerwartete, den Kommenden selbst, keinen andern, eben den ganz andern, in seine Gefangenschaft hereintreten lassen?

 

2.

Liebe Gemeinde

Die Antwort des Kommenden ist wie eine Frage zu nehmen:

Geht, und verkündet Johannes, was ihr hört und seht.

Die Frage in dieser Antwort ist, ob die Jünger des Johannes denn hören und sehen können. Dies ist der alte Fluch aus dem Prophetenbuch des Jesaja, daß die Leute hören sollen - doch nicht begreifen, sehen sollen - doch nicht verstehen, daß ihnen hörend und sehend Hören und Sehen vergeht.

Nun, was die Jünger des gefangenen Johannes hören und sehen sollten, ist erst einmal dies:

Blinde kommen zum Sehen und Lahme gehen umher, Aussätzige werden rein und Taube hören.

Wenn ein Blinder zum Sehen kommt, denken wir, gehe ihm eine Welt auf, wenn ein Tauber hört, denken wir, öffnen Worte sein Herz, öffnen sich Herzen für ihn.

Und was geschieht, wenn ein Sehender plötzlich zum Sehen käme, ein Hörender plötzlich hörte? Die Johannesjünger waren nicht blind und nicht taub. Was sollten sie sehen? Was sahen sie nun?

Wurden sie in der Sympathie mit den einst Blinden und nun Sehenden trunken von der Schönheit der Welt? Wurden sie in der Einfühlung in die einst Tauben und nun Hörenden berauscht von der Fülle des Wohllauts?

Sind sie jedoch dabei die geblieben, die sehen - und doch nicht sehen, hören - und doch nicht hören?

Oder war es ganz anders? Sind sie zuerst einmal zu Blinden geworden, zuerst einmal zu Lahmen, zuerst einmal zu Unreinen und Tauben? Sind sie zuerst einmal zu solchen geworden, die nicht mehr meinen zu sehen, obwohl sie nicht sehen, was dem andern fehlt, die nicht mehr meinen zu hören, obwohl sie nicht hören, was der andere in seinem Sagen verborgen sagt? Sind sie zu solchen geworden, an denen ein Schöpfungswerk, ein Neuschöpfungswerk sich ereignen wird, zu solchen, die neu erschaffen und neu in die Welt gestellt werden? Zu solchen, die gar nichts sind und erst werden, zu solchen, auf die der Kommende zukommt, der kommende Herr der Welt im Kind, der Kommende Schöpfer aller Kreaturen im Leidenden, der kommende Versöhner im Sterbenden?

Sind sie andere geworden? Haben sie an der Seite der Aufblickenden unvermittelt ein liebendes Gesicht gesehen, an der Seite von Zuhörenden ein befreiendes Wort gesagt?

Nun, was die Jünger des gefangenen Johannes hören und sehen sollten, ist sodann noch dies:

Tote werden erweckt und Armen wird das Evangelium verkündigt.

Werden sie, die Jünger des Johannes, die Stimme hören, welche die Toten erwecken wird, die Posaune des Jüngsten Gerichts, werden sie diese Posaune so hören, daß sie ein Ruf des Lebens und nicht des Todes für sie sein wird?

Werden ihre Ohren durch die Predigt des Evangeliums so geöffnet werden, daß sie den Richter der Welt auf sich zukommen sehen, sehen in dem Kind, das bittet, und in dem Leidenden, der fleht? Werden sie im Kind zur Freiheit des Gebens, im Leidenden zur Geduld des Zuhörens sich rufen lassen, beim Dahinscheidenden zur Stütze und zum Trost sich einfinden?

Werden sie den Ruf des Lebens hören, indem sich ihre Augen auftun für den, den sie leiten können, die Ohren für den, der ihr Zuhören braucht? Werden sie durch ihr Leben gerüstet sein, das ewige Leben zu empfangen, werden sie etwas nehmen können, das sie nicht selber erzeugt und verantwortet haben, werden sie zu Kindern werden, denen noch alles Gabe sein kann, und werden sie zu Gezeichneten werden, sie sich nicht selbst sühnen können, sondern die wissen, was Befreiung aus der Selbstrechtfertigung heraus ist, von Öffnung aus der selbstverschuldeten Eingeschlossenheit ist?

Die Antwort Jesu an die Jünger des Johannes muß als Frage verstanden werden. Oder sollten wir meinen, daß man verstanden habe, wenn man bemerkt hat, daß die Antwort Jesu auf die Aufhebung des Fluchs im selben Buch Jesaja verweist, die davon spricht, daß der Kommende, der Befreier und Erlöser, der Rächer und Befrieder, die Lahmen gehend, die sehend Verbendeten sehend, die hörend Betäubten hörend macht?

Saget den verzagten Herzen:
«Seid getrost, fürchtet euch nicht!
Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache;
Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.»
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan
und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch,
und die Zunge der Stummen wird frohlocken.

Wer denn sind die Blinden, wer die Lahmen, die Unreinen und die Tauben, wenn nicht die, denen das Herz übergeht am Wort, das sie zuerst einmal blind, taub, lahm und unrein vor sich und Gott sein läßt, damit der Kommende dann in ihnen und mit ihnen alles in allem sein wird, Leben im Tod, Finsternis, aus der das Licht aufstrahlt, Stille in der ein weckendes Wort hörbar wird?

Wer denn sind die Blinden, Unreinen, Lahmen, wenn nicht die, die sich zu Zeugen der Taten des Kommenden machen lassen. Wird der auf sie Tag für Tag zukommende Gehemmte und Verstörte, Lebensgelähmte und am Leben Verwundete sie, indem sie auf ihn sich einlassen, zum Vorboten und Zeugen dessen werden lassen, der kommen soll, er und kein anderer, der wahrhaft Lebendige und Heilige?

3.

Liebe Gemeinde

Der Schlußsatz der Antwort verstört nun, wenn man ihn denn wachen Sinnes und mit offenen Ohren hört:

Ja, selig ist, wer sich an mir nicht stößt.

Johannes der Täufer sitzt gefangen in seinem Verließ. Wenn der Lärm der Straße überhaupt zu ihm dringt, dann verhalten, wenn das Licht des Tages überhaupt zu ihm scheint, dann gedämpft, wenn er nicht ohnedies an die Wand gefesselt ist, kann er nur ein paar Schritte gehen, wenn er auch keinen Aussatz hat, steckt er gleichwohl im Schmutz. Und wenn sich die Tür öffnet, treten vielleicht noch einmal seine Jünger ein und berichten von der wunderlichen Antwort dessen, der der Kommende sein wird, bestimmt aber bald der Henker, der ihm den Kopf abnimmt und der Tochter von Herodes Frau übergibt.

Johannes ist der Vorläufer, der Vorläufer nur, aber immerhin der Vorläufer. Bald wird der Kommende gefangen werden, eine Nacht nur, gebunden werden, das Urteil des hohen Rates, das Schreien der Menge, den Spott der Leute hören, die Mitgekreuzigten sehen und den Geruch der Galle schmecken.

Der Schlußsatz der Antwort verstört, wenn man ihn denn mit dem Blick auf den gefangenen Täufer hört:

Ja, selig ist, wer sich an mir nicht stößt.

Sollte Johannes letztlich und ahnend danach gefragt haben, ob der Kommende eben der sei, der hineinkomme in die über Johannes gelegte Stille und Nacht, Unreinheit und Gefangenschaft, Tod und Qual? Ist der Kommende der, an dem die Verzweiflung über die Finsternis der Herzen, die Taubheit des Verstandes, die Unreinheit des Wollens und Denkens nur deutlicher und krasser hervortritt, insofern er der ist, mit welchem das Licht der Welt aufgeht und der die Toten die Stimme des Lebens hören läßt?

Und der Kommende kommt nicht nur an die Seite der Blinden und Geblendeten, der Tauben und Mundtotgemachten, der Lahmen und Gefangenen, der Unreinen und Geschmähten, der Sterbenden und Ermordeten, er tritt nicht nur neben sie, sondern, was ihnen angetan worden ist, wird ihm angetan werden.

Ist das der Kommende, dem es geht, wie es allen geht, wenigstens allen, denen es übel ergeht und denen übel mitgespielt wird? Ist das der Kommende, der offenbart, was gespielt wird: Blendung und Selbstverblendung, Taubheit und Weghören, Lahmheit und Trägheit, Schmach und Schändung, Unreinheit und Erniedrigung?

 

Wenn dieser Gekommene den Blinden geheilt hat, den Lahmen gehen gemacht, den Tauben hören, den Aussätzigen rein, hat er es im Blick auf das Kommende getan, das Reich, in dem die Tränen getrocknet, in dem kein Leid und kein Tod mehr sein wird, keine Schuld mehr, sondern Gottes Ja zum Menschen gesprochen werden wird, engültig und unwidersprechlich.

Und im Blick auf dieses Reich ist alles schon Gekommene und noch Kommende bloßer Ankunftsort, wartende Adventszeit. Er aber, der Kommende, ist zugleich der uns Entnommene, Preisgegebene, um seines letzten Advents willen Entrückte. Er ist nicht der Rächer der Unterdrückten und das Ideal des guten Lebens, nicht der vor­bildliche Heilige und das Ideal des guten Lebens, nicht eingegangen in ein Bild des Vollendeten Vorbilds. Er hat keine Gestalt und Schöne, er ist zur Sühne gekommen des verunstalten Lebens, des kranken und unreinen Leibs, der aussätzigen Seele, des verblendeten Sinnens, dessen, was vergehen muß vor dem Kommenden, dem Leben und der Seligkeit.

So ist er der Kommende, auf den wir warten, der allen Vorstellungen und Idea­len Entnommene, und damit der zu uns, nicht wie wir sein wollen, oder sein sollen, Kommende, der zu uns kommende, statt unser Kommende.

Wäre er dies oder das, was wir festmachen könnten, so wäre er ein Prediger, wie kein zweiter, ein Arzt wie kein anderer, ein Heiland wie keiner sonst, er wäre dies und das, etwas anderes als der, der so kommen wird, daß uns Hören und Sehen vergehen. So aber, allem entzogen, ist er nicht dies und nicht das, sondern das Ja und Amen in allem, in dem und in jenem.

Wer daran keinen Anstoß nimmt, daß dies Ja und Amen im Kind und im Kreuz gekommen ist, auch zu ihm kommen wird, dem sehend Blinden, dem hörend Tauben, dem Lahmen und Unreinen, wird selig werden.

Ihm wird dies und das dann nicht mehr nur dies und das sein, es wird ihm zu dem werden, das Hören und Sehen vergehen läßt, weil es Ankunftsort und Adventszeit wird für das Kommende und den damit Kommenden.

Die Wege, die wir miteinander gehen, die Worte, die wir voneinander hören, die Welt, die wir einander zeigen, könnten Ankunftsorte sein für das Kommende, das Ganze, das Ja, das bedingungslose und letzte: Ja und Amen. Sie könnten sich öffnen, um das einzulassen, von dem wir nicht wissen, wie es aussieht und sich anhört, vor dem Sehen und Hören vergehen, weil es das letzte und unfaßliche Ja zu uns ist, das der Kommende selbst zu uns sprechen wird, in dem aber jedes Ja, das wir zueinander sagen, schon seinen Glanz verbreitet und entfaltet haben wird.

Sollen wir, dürfen wir, können wir auf etwas anderes warten? Das aber sei ferne. Sollen, dürfen, können wir anders darauf warten, als daß wir es unsere Zeit seinen Advent sein lassen? Das aber sei ferne.

Amen.

 

 

Literatur:

Johannes Brenz, In Scriptum Apostoli et Evangelistae Matthaei de Rebus Gestis Do­mini nostri Iesu Christi Commentarius. Tübingen 1582 (Erste Ausgabe 1566).

Bernhard Weiss, Das Neue Testament. Handausgabe. Erster Band. Die Vier Evange­lien. Leipzig 2. Auflage 1905 (1. Auflage 1900).

Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition. Göttingen 4. Auflage 1958 (1. Auflage 1921).

Erich Klostermann, Das Matthäusevanglium. (HNT 4). Tübingen 4. Auflage 1971 (1. Auflage 1926).



Pfarrer i.R. Dr. Stefan Strohm
Stuttgart
E-Mail: st.strohm@t-online.de

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