Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Advent, 14.12.2008

Predigt zu Matthäus 11:2-6, verfasst von Uta Pohl-Patalong

Liebe Gemeinde!
Warten. Warten - drängend oder gelassen, voller Vorfreude oder mit bangem Herzen. Warten darauf, dass etwas geschieht. Dass jemand kommt. Dass es besser wird. Dass das wahre Leben beginnt. Dass sich die ewige Sehnsucht erfüllt. Der Mensch ist ein Wesen, das wartet - das fähig ist zum Warten und oft genug zum Warten verdammt ist. Advent ist eine Zeit des Wartens. Auf das Weihnachtsfest mit seiner Hektik oder seiner Besinnlichkeit, auf das Familientreffen oder die Einsamkeit, auf die Geschenke und nicht zuletzt darauf, dass der ganze Trubel mal wieder geschafft ist. Zeit des Wartens aber auch auf etwas anderes, auf jemand anderen. Denn da sollte doch einer kommen...

Warten - im Gefängnis. Auf das Essen. Auf das Urteil. Auf die Entlassung - oder auf den Henker. Auch Johannes, der der Täufer genannt wird, wartet - so stelle ich es mir vor. Nicht zuletzt wartet er auf Besuch, auf Menschen, die ihn für kurze Zeit dem Gefängnisalltag entfliehen lassen in dem Kontakt zur Welt und zu dem, was sie da draußen erzählen. Und sie haben viel zu erzählen dieses Mal:

„Stell dir vor, was da los ist in den Dörfern Galiläas. Das muss dich doch besonders interessieren! Jesus von Nazareth, ja, der, den du damals getauft hast, der tut Dinge! Den Blinden, der da immer an der Straße saß, du weißt schon, der mit dem langen Bart und dem abgerissenen Mantel, den hat er geheilt, der kann jetzt wieder sehen! Und der Lahme, der immer durchs Dorf humpelte und so Mitleid erregend guckte, der kann gehen, richtig schnell, gestern habe ich ihn sogar rennen sehen! Und viele Reden hält Jesus, und das Volk hört zu. Aber es gibt auch Widerspruch, manche finden das ganz gefährlich, was er sagt... na ja, du weißt ja am besten, wie gefährlich das werden kann, unbequeme Dinge zu sagen. Der ist wirklich jemand ganz Außergewöhnliches! Und du, du hast ihn damals doch angekündigt in der Wüste als jemand, der stärker ist als du und der die Menschen nicht nur mit Wasser, sondern mit dem Geist taufen wird."

So mag Johannes im Gefängnis von den Werken Christi gehört haben. Und seine Freunde oder seine Verwandten mögen vielleicht noch hinzugesetzt haben - oder vielleicht auch nur hinzugedacht, um Johannes nicht noch mehr zu quälen: „Und du bist hier eingesperrt und kannst ihn nicht erleben, und es ist völlig ungewiss, ob du jemals wieder herauskommen wirst."

Im Gefängnis hat man viel Zeit, vielleicht zu viel Zeit. Zeit jedenfalls für Fragen, für die kleinen Fragen des Alltags und für die ganz großen des Lebens. Man hat Zeit zu zweifeln und Zeit, noch einmal alles von vorne zu hinterfragen. Zeit, sich nicht mit raschen Antworten und scheinbaren Eindeutigkeiten zufrieden zu geben. Zeit für die Frage: „Bist du es, Jesus von Nazareth? Bist du es, den ich damals so vollmundig angekündigt habe? Ich höre, was du tust, und es klingt, als ob du derjenige sein könntest, auf den wir, auf den ICH schon so lange warte, aber es klingt auch wieder ganz anders. Bist du nun derjenige, der die Welt verändert - der mein Leben verändert? Der die Kraft und die Macht hat, alles zum Guten zu wenden, die Tränen abzuwischen, die Ungerechtigkeit zu besiegen und Gottes Willen endlich zum Ziel kommen zu lassen? Oder bist du ein Schritt in die richtige Richtung, eine vorläufige Antwort, eine Phase, in der es vorübergehend einmal besser wird... aber der Eigentliche, das Eigentliche bist du nicht?" Für Johannes ist dies frag-lich und frag-würdig zugleich. Hoffnung klingt aus dieser Frage und auch Zweifel. Ein besonderer Mensch ist dieser Jesus, gewiss, und seine Worte und Taten sind beeindruckend, aber letztlich bleiben sie Einzelfälle - hier sieht ein Blinder, dort geht ein Lahmer, da hört man beeindruckende Worte, und ein Leben verändert sich. Aber die ganz große Veränderung der Welt ist darin noch nicht zu erkennen. Immer noch gibt es Blinde, Lahme, Taube, Arme, immer noch gibt es Ungerechtigkeit und Unterdrückung - und vor allem: immer noch gibt es Gefängnisse, wie Johannes schmerzlich am eigenen Leibe spürt. Müsste das nicht das erste sein, wenn er es wäre, wenn er der ersehnte Messias wäre, dass die Gefangenen befreit werden - und zumal, wenn sie seine Sache vertreten? Kann man glauben, dass Jesus von Nazareth der Messias ist, wenn man seine befreiende Botschaft so gar nicht am eigenen Leibe spürt? Wäre es nicht zu verständlich, wenn man sich enttäuscht abwendet, resigniert und sich anders orientiert?
Johannes wendet sich nicht ab, sondern er fragt. Er fragt, und die Frage ist keine Informationsfrage, die man aus sachlichem oder wissenschaftlichem Interesse stellen oder auch nicht stellen kann. Die Frage ist existentiell. Es geht um die eigene Existenz, um das eigene Selbstverständnis, um den Sinn des Lebens und des Sterbens.

Advent ist eine Zeit des Fragens. Im Advent wird Gewohntes und Selbstverständliches fraglich. Die Zimmer und Fenster, Straßen und Plätze sehen anders aus als zu anderen Zeiten des Jahres, stimmungsvoll, wenn es gut geht, nicht selten aber kitschig, überladen mit viel zu vielen Figuren und Lämpchen, möglichst auch noch bunt und blinkend. Sie provozieren geradezu die Frage nach dem eigentlichen Weihnachten, nach dem Sinn des Ganzen, nach dem Kern. Dass dieser äußere Schein, dass überhaupt kein äußerer Schein die eigentliche Weihnachtsbotschaft sein kann, wissen und spüren wohl alle - wer erwartet schon die Erfüllung tiefer menschlicher Sehnsüchte von Kommerz und Kitsch? Vielleicht wird die Frage nach dem, das da kommen möge, auf das wir Menschen immer warten, in der Form dieser überzogen inszenierten und nicht selten Ärger provozierenden Adventszeit durchaus gestellt - verschlüsselt, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, diffus. Gut hat man es, wenn man die Frage nicht diffus stellen muss, sondern an jemanden richten kann. Wenn die Frage nach dem erlösenden Sinn eine Richtung, einen Ansprechpartner hat.

Johannes weiß, wem er die Frage stellen muss. Und er findet einen Weg, sie zu stellen, aus dem Gefängnis heraus. Ich stelle mir vor, dass er beim nächsten Besuch einige Freunde bittet: „Sucht Jesus von Nazareth in den Städten. Folgt der Menschenmenge, die doch immer um ihn herum ist, und dringt zu ihm durch, sagt ihm, ich, Johannes - er kennt mich doch noch, ich hoffe, er kennt mich noch! - muss es wissen: Bist du es, der da kommen soll, oder soll ich, sollen wir alle auf einen anderen warten?"
Offensichtlich finden sie ihn, wo und wie auch immer, sie dringen auch zu ihm durch und stellen die Frage des Johannes: „Bist du es - oder bist du es nicht?" Eine klare Ja-Nein-Frage, pädagogisch verpönt, existentiell manchmal enorm wichtig.
Und dann diese Antwort: „Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt."

„Was w i r hören und sehen?" So oder so ähnlich könnten die Freunde des Johannes reagiert haben, als Antwort an Jesus oder, wenn sie sich nicht trauen, dem Meister zu widersprechen, bei sich in Gedanken. „Mit Verlaub, das haben wir Johannes doch schon alles erzählt. Genau das war doch der Auslöser dafür, dass Johannes uns geschickt hat. Deine Taten waren für ihn doch gerade nicht eindeutig, zumal wenn er nicht selber befreit wird! Und wir haben sehr wohl bemerkt, dass du kein Wort über die Befreiung der Gefangenen gesagt hast, das war doch sicher kein Zufall! Natürlich kennen wir die Worte des Propheten Jesaja, auf die du angespielt hast. Wir haben den Anfang des 61. Kapitels gut im Ohr, wo der Knecht Gottes sagt: ‚Der Geist Gottes ruht auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn.' Auf den beziehst du dich, und Johannes wartet darauf, dass du dich als der ersehnte Messias zeigst und endlich, endlich ihn und alle anderen befreist! Wenn das aber aus irgendwelchen Gründen nicht geht, wollte er es wenigstens aus deinem Munde hören, klipp und klar: Bist du es, ja oder nein? Und wenn du es bist... - Moment mal, habe ich gerade richtig gehört: ‚Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert?'

Ja, diese Antwort kann ärgern. Sie ist ärgerlich in ihrer Uneindeutigkeit, wenn ich Eindeutigkeit erwarte und erhoffe. Sie ärgert, wenn ich die große Veränderung, das Ende des Wartens, die endgültige Erfüllung meiner Sehnsüchte erhoffe und wieder nur auf das verwiesen werde, was ich doch eigentlich schon wusste und kannte. Und sie ist geradezu ein Skandal - skandaliste steht da im Griechischen - wenn ich von Jesus, von Gott eine klare Botschaft erwarte und auf meine menschliche, brüchige, uneindeutige Erfahrung mit ihm verwiesen werde.

Ob sie auch Johannes geärgert hat? Darüber schweigt der Predigttext. Der Schauplatz der Erzählung im Anschluss an diese Szene führt nicht mehr zu Johannes zurück, sondern bleibt bei Jesus und der Menge um ihn herum. Der Erzählung ist es offensichtlich nicht wichtig, was seine Freunde Johannes berichtet haben, wie er ihre Worte aufgenommen hat und wie seine Reaktion auf die Worte Jesu war. Wir wissen nicht einmal, wie Johannes zu Jesus stand, als er dann hingerichtet wurde. Wichtiger ist es der Erzählung offensichtlich, wie Jesus zu Johannes steht: „Als sie fortgingen, fing Jesus an, zu dem Volk von Johannes zu reden", heißt es im Anschluss an den Predigttext. Jesus spricht ausgesprochen hoch von Johannes: „Er ist mehr als ein Prophet" und „unter allen, die von einer Frau geboren sind, ist keiner aufgetreten, der größer ist als Johannes der Täufer..." Er spricht aber auch von der Gewalt, der die Welt immer noch unterliegt, und davon, dass das, was jetzt vor Augen ist, noch nicht das Himmelreich ist, in dem der Kleinste größer ist als alle Menschen auf Erden, einschließlich Johannes. Das, was Johannes erlebt, auch das, was Johannes mit Jesus erlebt oder nicht erlebt, das ist noch nicht die Erfüllung aller Sehnsüchte, das Abwischen aller Tränen, theologisch gesprochen: es ist noch nicht das Reich Gottes in Vollendung. Das, was ersehnt wird, ist nicht identisch mit dem, der ersehnt wird, jedenfalls nicht in seiner Durchsetzung und Vollendung, sondern nur im Ansatz, zeichenhaft. Wäre das anders, würde das Kommen Jesu, das wir Weihnachten feiern, die Welt so radikal verändern, dass nichts mehr ist, wie es war, dass alle Tränen getrocknet sind, alle Blinden sehen und alle Lahmen gehen, alle Gefangenen erlöst sind und den Armen nicht mal mehr das Evangelium gepredigt werden müsste, weil es keine Armut mehr gäbe - dann, ja dann wäre alles eindeutig. Dann würde die Antwort Jesu auf die seit 2000 Jahren gestellte Frage lauten: „Selbstverständlich, ich bin's" (und falls es unser Jesusbild zulässt, wäre eine logische Fortsetzung: „Was für eine überflüssige Frage, das sieht man doch").

So antwortet Jesus nicht. Und auch an diesem Weihnachtsfest wird es - jedenfalls nach menschlicher Wahrscheinlichkeit - wieder so sein wie an allen, die wir bisher erlebt haben, dass es uneindeutig bleibt mit dem Kommen des Reiches und der Erfüllung unserer Sehnsüchte nach Liebe und Frieden, nach Sinn und Gewissheit. Immer sind es nur Zeichen, die auf DEN hinweisen, der schon lange kommen sollte und der, wie Christinnen und Christen seit 2000 Jahren glauben, in Jesus von Nazareth gekommen ist. Damals wie heute werden wir verwiesen auf unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen, die manchmal beeindruckend und spektakulär, manchmal auch ganz unspektakulär sind, immer aber deutungsoffen. Von dem, der da kommen soll, kann man offensichtlich nicht erzählen, ohne die eigenen Erfahrungen mit ihm zu erzählen.
Da aber jede Erfahrung uneindeutig ist, werden wir verwiesen auf unsere Deutungen dessen, was wir sehen und erleben. Die gleiche Erfahrung wird nicht nur im Glauben anders gedeutet als in der Distanz zu Gott, sondern auch unter Christinnen und Christen gibt es ganz unterschiedliche Deutungen der gleichen Wahrnehmungen und Erfahrungen. Gemeinsam ist den christlichen Perspektiven allerdings, dass sie nach dem Reich Gottes fragen, dass sie auf seine Durchsetzung warten und dass sie jedenfalls potentiell Wirklichkeit im Lichte von Gottes Anwesenheit in dieser Welt deuten.

Advent ist eine Zeit des Deutens. Unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen im Advent sind oft noch uneindeutiger und deutungsbedürftiger als sonst. Ob ich im vorweihnachtlichen Trubel die Sehnsucht, die Frage nach dem, der da kommen soll, wie verstellt, verquer und manchmal schwer erträglich auch immer, erkenne, ist deutungsabhängig. Im Advent ist die Haut dünner, die existentielle Frage näher an der Oberfläche. Vielleicht ist deshalb auch der Ärger so groß, nicht nur über die Uneindeutigkeit, sondern auch über die Formen, die die Adventszeit angenommen hat. .
Selig ist sicher nicht, wer sich nicht an den Formen ärgert. Aber selig ist vielleicht, wer sich von diesen Formen nicht von seiner Frage abbringen lässt nach dem, der da gekommen ist und wieder kommen soll. Selig ist, wer seine Sehnsucht nicht verliert im Warten auf die große Erfüllung und aus dieser Sehnsucht Kraft schöpft zum Protest gegen alles, was der Erfüllung widerspricht. Selig ist auch, wer sich von dem Wunsch nach Eindeutigkeit nicht davon abhalten lässt, die Zeichen Gottes in dieser Welt zu sehen und sie so zu deuten, dass Gott schon jetzt mitten unter uns ist. Was genau die Zeichen Gottes in der Welt sind, an denen es sich zeigt, dass er mitten unter uns ist? „Geht hin und sagt, was ihr hört und seht."
Und der Friede Gottes, der größer ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong

E-Mail: uta.pohl-patalong@hamburg.de

Bemerkung:
Predigt in der Universitätskirche der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel


(zurück zum Seitenanfang)