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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiliges Christfest - 1. Weihnachtstag, 25.12.2008

Predigt zu Lukas 2:1-4, verfasst von Claus Oldenburg

Dem Morgen des 1. Weihnachtsfeiertages haftet etwas Besonderes an - und ich glaube eigentlich, dass ich das jedes Jahr sage: Es herrscht so eine Stimmung der Stille nach der großen Schlacht, nachdem das Gefühlsregister aller Menschen auf dem Siedepunkt gewesen ist, um ein gutes Weihnachten zu etablieren. Und dann wacht man am Morgen danach in einer ganz stillen Stadt auf mit einem Kirchgang, der als professionel zu charakterisieren ist.

             Denn man muss sich wohl das waschechte Kirchgängeramt auferlegen, um an diesem Morgen aufzustehen und zum Gottesdienst zu kommen.

             Und meine eigene gestresste Predigerseele denkt dann an das Lied "Frischauf! Noch einmal" - und dann muss ich mir auch noch bewusst werden, dass es ja noch nicht einmal der zweite Weihnachtsfeiertg ist, und dass ich morgen sogar einen freien Tag habe.

             Aber, aber. Neulich sprach ich von einem Zug, der vielleicht die Grundlage für eine Predigt sein könnte. Und Predigten haben es so an sich, dass sie oft feuilletonartig sind wegen der Geschwindigkeit, mit der sie produziert werden.

             Wie dem auch sei! Die Ikone könnte eine derartige Möglichkeit sein, weil es mir immer Eindruck gemacht hat, dass der Blick - der Blick der Jungfrau und des Kindes - immer und jedes Mal von Neuem tief trübselig ist. Er ist ernst und betrachtend, und es ist, als ob ein noch unbekannter Schmerz in diese dunklen Blicke gemalt ist, die in die Welt hinaussehen.

             Denn sie schauen. Das echte Ikonengemälde schaut seinen Betrachter an. Es ist nicht der Betrachter, der in ein Bild hineinsieht oder ein Bild anschaut. Es ist umgekehrt. Das Bild sieht dich an und mich, und genau dadurch wird es zu Gegenwart des Göttlichen auf der Erde.

             Die normale Interpretation dieser Dunkelheit in den Augen wird sein, dass die Blicke in ein ganz besonderes Schicksal hineinsehen, das sein Schicksal, das Schicksal des Knaben, sein wollte und musste, d.h. das Schicksal der Kreuzigung und das ganze blutige und merkwürdige Drama, das die Versöhnungstat dem menschlichen Sinn will. Auch unserem Sinn, denn wir kennen die Geschichte so gut, dass man ohne Schwierigkeiten an ihr teilnehmen kann, als wäre sie - und das ist sie eben - eine prozessuale Bewegung, die zu der inneren Bild-Bildung spricht.

             Also: Wir sehen in Bilder hinein, aber die Bilder sehen auch uns an.

             Und der dunkle Blick der Jungfrau und des Kindes sieht mit tiefem Ernst in die Wirklichkeit - und die Wirklichkeit ist sowohl die ihre als auch die unsrige.

             Die Wirklichkeit ist also unsere Wirklichkeit, aber das Entscheidende ist, dass wir nicht über sie herrschen.

             Dies ist Sache Gottes.

             Und das ist das eigentlich erschreckende. Und vielleicht kommt die Dunkelheit eben daher.

             Mutter und Kind sehen in etwas, von dem sie nicht wissen, was es ist. Wir wissen es im Nachhinein oder haben doch eine Ahnung davon. Aber die Maler der Ikonen haben stets genau dies Furchtsame eingefangen.

             Wir sollen deshalb - mit einer berühmten Formulierung Luthers - Gott "fürchten und lieben".

             Denn wir sollen die Wirklichkeit lieben und fürchten. Und genau dies tun die Jungfrau und das Kind. Es ist einfach das Gefühl, das in die Ikone gelegt ist, weil es die Aufgabe der Kunst ist, das anzudeuten, was die Rationalität nicht erfassen, geschweige denn ausdrücken kann.

            

Es ist also von einer Doppelheit für das menschliche Gefühl die Rede, und sie kommt jedenfalls in der Weihnachtszeit zum Ausdruck, weil in dem Drama selbst so Vieles eingewoben ist, was zur Durchführung des Festes gehört - und zu seinem Risiko.

             Oder mit Thomas Mann: "Was Wunder, dass im Feste immer das Menschliche aufgärte und unter Zustimmung der Sitte unzüchtig ausartete, darin Tod und Leben einander erkennen? - Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinne und beschwörst den Mythus, dass er sich abspiele in genauer Gegenwart!"

             Die Zeitlosigkeit ist das Wiedererkennen, und die Weihnachtsfreude ist die Freude des Wiedererkennens. Treu kehrt das Weihnachtsfest jedes Jahr wieder, und die meisten Menschen - auch ich - sind vollauf damit beschäftigt, dieser Festfreude zu entsprechen.

             Zugleich aber mischt sich das Schiefe immer wieder ein. Denn die Sorgen werden so sichtbar, und die Konflikte, die es geben mag, machen ihre Ansprüche mit Vorrang gerade in der Vorweihnachtszeit geltend.

             Es hat seinen Grund, dass die Scheidungsrate ausgerechnet im Dezember nach oben steigt und dass Familienstreitigkeiten am zweiten Feiertag in einer sturmvollen Mischung aus Alkoholgenuss, Müdigkeit und familiärer Überanstrengung einen Höhepunkt erreichen. Zuchtlosigkeit - verstanden als das Schiefe und das Erhitzte - vereint sich mit Zucht, die in der Andacht, der Ruhe, der Müdigkeit und Stille besteht.

             Die Funktion des Festes besteht demnach in der Herausstellung des Unterschieds zwischen Leben und Tod.

             Leben als das schöpferische Element und Tod als das destruktive Element.

             Und nur das menschliche Gefühl kann es auffangen, kann den Unterschied auffangen und empfinden, dass das Eine nicht ohne das Andere sein kann.

             So dass Leben und Tod nicht nur einander unter dem Zeichen des Festes erkennen - sie erkennen einander wieder. Und wissen, dass sie Voraussetzungen füreinander sind.

             Dies ist der Nerv und die eingebaute Spannung des Festes.

             Wenn also die Jungfrau und das Kind mit unergründlichem Ernst in die Wirklichkeit hineinsehen - und dies ist in Wirklichkeit das Hinreißende an der eigentlichen Madonnenikone -, dann muss es seinen Grund darin haben, dass wir unter dem Zeichen des Festes mit demselben Ernst des Gefühls in die Wirklichkeit sehen.

             Und sie ist ganz einfach: dass wir fürchten und lieben müssen. Dass wir das fürchten müssen, was geschieht oder geschehen kann, und es trotzdem lieben, denn sonst wären wir gar nicht in der Welt gegenwärtig.

              Das Kind ist in der Welt gegenwärtig, ungeachtet der Sorgen der Mutter.

             Und das ist der Anker des Gefühls, der Anker des Menschen, der ihn in der Wirklichkeit hält. Die Existenz des Kindes ist die Empfindung von Erde, das Gefühl, hier seinen Ort zu haben, und dass Menschen in einem fundamentalen Sinne dich und mich brauchen. Denn die Abhängigkeit ist so gewaltig, und diese Abhängigkeit ist de facto gegenseitig. Denn ein Erwachsener ohne das Kind hat nie die Bindung des Gefühls erkannt.

             Auf diesem Hintergrund ist es die Gegenwart der Weihnachtsbotschaft, dass wir an die Nähe Gottes in der Gestalt des Kindes gebunden und auf sie verpflichtet sind.

             Und das ist weder Sentimentalität noch Idyll - sondern es ist eine Vermenschlichung der Vorstellung von Gott.

             Denn die Vorstellung lässt sich zu allem gebrauchen, und sie kann deshalb auch zu allem missbraucht werden. Wir wissen es, und wir sehen es. Denn der Vormarsch der Religion - welchen Zuschnitts auch immer - führt zu einer geistigen Straffung und einer gedanklichen Gleichschaltung im Namen der Zusammenhangs und des Sinnes, die in ihrem Wesen absurd ist und nur dazu geeignet ist, andere damit fertigzumachen - im Namen der Wahrheit.

             Aber wenn man mit dem Kind in seinen Armen dasteht, dann gibt es nur noch die Abhängigkeit. Dass man selbst zu dem Kleinen wird und eben den Großen umarmt.

             Das ist der Kern der Legende von Christophorus, dieser mächtigen Figur, die ja gerade unter dem Gewicht des kleinen Kindes zusammenbricht.

             Und er kennt - wie wir - den Ernst, womit Mutter und Kind in die Welt sehen.

             Der Blick hat die Schwere, die Christophorus auf seinen Schultern fühlt.

             Amen und frohe Weihnachten!

  

 

 



Pastor Claus Oldenburg
København (Dänemark)
E-Mail: col(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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