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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 06.04.2007

Predigt zu Matthäus 27:33-50, verfasst von Reinhold Mokrosch

Liebe Mitchristen, liebe Karfreitagsgemeinde!

I.

Ich möchte mit einer erschütternden Erzählung beginnen, die jede menschliche Einbildungskraft übersteigt. Sie stammt aus einer Predigt von Paul Tillich:

Vor dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess trat ein Mann als Zeuge auf, der die Gaskammer überlebt hatte, weil er sich in den hohen Gräbern des jüdischen Friedhofes in Vilnius (Litauen) Monate lang versteckt hielt. Dort hatte er, wie er erzählte, folgendes erlebt: „In einem Grab, ganz in seiner Nähe, gebar eine junge Frau einen Sohn. Der 80jährige jüdische Totengräber, in ein Leichentuch gehüllt, half bei der Geburt. Als das neugeborene Kind seinen ersten Schrei ausstieß, betete der alte Mann: ‚Großer Gott, hast Du endlich den Messias zu uns gesandt? Denn wer anders als nur der Messias selbst könnte in einem Grab geboren werden?' Drei Tage später sah der Zeuge, wie das Kind die Tränen seiner Mutter trank, weil sie ihm keine Milch geben konnte." (Paul Tillich, Die Neue Wirklichkeit. Religiöse Reden)

Diese Geschichte ergreift unser Gefühl heute am Karfreitag total. Warum? Weil sie unseren Karfreitagserfahrungen entgegen gesetzt ist. Wir wissen heute am Karfreitag, dass wir in drei Tagen Ostern, die Auferstehung und das Neue Leben feiern werden. Der Nürnberger Zeuge jedoch hatte nach drei Tagen etwas anderes erlebt: Er sah, wie der neugeborene Säugling die Tränen seiner Mutter trank, weil sie ihm keine Milch geben konnte. Kein neues Leben! Kein happy end. Vermutlich ist der Säugling gestorben: Im Grab geboren und im Grab gestorben! Vermutlich hat sich die Hoffnung des 80jährigen Totengräbers wieder nicht erfüllt. Kein Messias! Kein Neues Leben, das aus dem Tod kommt und den Tod überwunden hat. Oder doch?

Die Geschichte ergreift unser Gefühl, weil wir wissen: Es gibt heute viele Orte wie den jüdischen Friedhof in Vilnius damals. Viele Kinder werden geboren in Ruinen, zerbombten Städten, Gefängnissen, unter Folter, in Hungergebieten, vielleicht in Gräbern. Viele sterben gleich nach der Geburt. Kein Neues Leben. Kein happy end. Keine Auferstehung. Oder doch?

Warum, frage ich mich, glaubte der alte Totengräber, dass der Messias geboren sei? Er meinte, niemand anders als nur der Messias könne in einem Grab geboren werden. Ja, aber wieso? Mich erinnert dieser Glaube an die Geschenke, welche die Weisen aus dem Morgenland nach Matthäus dem neugeborenen Jesus Kind mitgebracht hatten: Weihrauch, Myrrhe und Gold! Alle Geschenke symbolisierten ja den Tod des neugeborenen Jesus: Weihrauch wurde damals bei Beerdigungen geschwenkt; mit Myrrhe wurden Leichname einbalsamiert; und Gold symbolisierte das Himmlische Jerusalem. Jesus, nicht im Grab, aber im Kuh-Stall geboren, wurde gleich nach seiner Geburt dem Tod geweiht. Er ist so gut wie im Grab geboren. Seine Krippe wurde von den Weisen zum Grab geweiht.

Hatte der alte Totengräber es so gemeint? Sicherlich nicht, denn er war doch Jude und kein Christ! Wie verstand er den Messias? Welchen Messias hatte er erwartet? Ich vermute: einen, der von Grab und Tod zwar umgeben ist, aber Grab und Tod mit seinem Leben doch überwunden hat. „Wer anders als nur der Messias könnte in einem Grab geboren werden?!" Er war überzeugt, dass der Messias einer ist, der zwar aus dem Tod kommt und den Tod kennt, aber trotzdem Neues Leben bringt. Was ist wohl mit seinem Glauben passiert, als das neugeborene Kind möglicherweise wieder gestorben ist? Hat er da schmerzvoll gestanden: Ich habe mich getäuscht! Es war nicht der Messias!?

II.

Liebe Karfreitagsgemeinde! Der Ausdruck „Im Grab geboren" scheint mir ein treffendes Symbol für Karfreitag zu sein. Er war schon ein treffendes Symbol für Jesu Geburt zu Weihnachten. Denn Jesus wurde, wie wir sahen, schon bei seiner Geburt sozusagen „Im Grab geboren", weil er von lauter Totengeschenken umringt war: von Weihrauch, Myrrhe und Gold. Ist das jetzt bei seinem endgültigen Tod wieder der Fall? Ist sein Tod wieder ein Neuanfang? Wird Christus „am Kreuz neu geboren"? Diese Frage bewegt mich sehr!

Ich befrage deshalb zuerst Matthäus und seine Gemeindeglieder: Wie haben sie den grausamen Tod Jesu gedeutet? Als Neuanfang oder als absolutes Ende? Ich verlese aus dem Passionsbericht von Matthäus die letzten Stunden des grausam sterbenden Jesus:

Mt 27, 33 - 50

Beim Verlesen haben wir vielleicht innerlich manche Passage aus Bachs Matthäus - Passion mitgehört. Ich wäre Ihnen im Augenblick aber dankbar, wenn Sie sich davon frei machen und sich dem Bericht unvoreingenommen widmen könnten. Wie hat Matthäus den Tod Jesu verstanden und gedeutet?

Gleich der Anfang des Berichtes zeigt es deutlich: Jesus wird von Matthäus als der leidende Gottesknecht, als leidender Gerechter und als leidender Messias verstanden und gedeutet. Was bedeutet das? Im Alten Israel gab es die Vorstellung, dass Gott einmal einen Boten senden wird, der die Menschen zu Frieden, Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit bekehren möchte. Da er für solche Botschaft, wie zu erwarten ist, aber sicherlich gewaltsam vertrieben und gegebenenfalls getötet werden würde, stellte man sich vor, dass er mit seinem eigenen Leiden seinen Aggressoren einen Spiegel ihrer Gewalt vorhalten würde Und noch mehr: Man stellte sich vor, dass dieser leidende Gottesknecht auch die zu erwartende notwendige Bestrafung durch Gott stellvertretend am eigenen Leib erleiden würde. Diese Vorstellung hatte man in Israel auch auf den erwarteten Messias übertragen: Auch der Messias, wenn er denn endlich käme, würde bestimmt abgelehnt werden, würde geschlagen, gefoltert und schließlich getötet werden. Und gleichzeitig würde er die Bestrafung seiner Aggressoren durch Gott am eigenen Leib - stellvertretend für die anderen - erleiden. Deshalb erwartete man den Messias auch als einen leidenden Boten Gottes.

Genau diese Vorstellung hatte auch Matthäus geteilt! Und er fand sie in der furchtbaren Passion Jesu realisiert vor. Deshalb erkannte er in Jesus von Nazareth den erwarteten leidenden Messias. Er konnte nicht anders: Er musste Jesu Leiden und Sterben so darstellen, wie das Leiden des alttestamentlichen Gottesknechtes bzw. des leidenden Messias in den Psalmen und bei Jesaja dargestellt worden war.

Es bezog deshalb gleich vier alttestamentliche Zitate vom leidenden Gerechten in fünf Szenen auf Jesus: (Viele von uns kennen diese Szenen von den Kreuzwegstationen in einem mittelalterlichen Kreuzgang oder von Passionsprozessionen, die wir Protestanten zwar selten, aber vielleicht manchmal im Urlaub in katholisch geprägten Regionen miterleben.) Ich zeichne die fünf Szenen noch einmal nach:

1. Szene: Gleich bei der Ankunft in Golgatha gibt man Jesus Wein und Essig zu trinken, ein grauenhaftes Gemisch, das betäuben soll, wie es im Psalm 69 vom leidenden Gerechten hieß; „Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst". Aber Jesus lehnt ab. Er ist entschlossen, die grausame Hinrichtung ohne Betäubung zu ertragen - und leidet damit noch mehr als der leidende Gerechte im Psalm 69.

2. Szene: Gleich danach heißt es: „Als sie ihn gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum." Freilich fragt man sich, ob sich wirklich jemand für die Lumpen, die Jesus nach seiner Folterung noch am Leibe trug, interessierte, aber das spielte für Matthäus keine Rolle, weil er ja wieder einen Psalm, diesmal den Psalm 22, auf Jesus beziehen wollte. In Ps 22,19 klagt der leidende Gerechte nämlich: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand." Jesus wurde von Matthäus als leidender Gerechter, leidender Gottesknecht und leidender Massias verstanden und gedeutet.

Dafür spricht auch die 3. Szene: Die Schaulustigen und die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten spotten und lästern Jesus so, wie der leidende Gottesknecht verspottet wurde. Absichtlich hatten sie Jesus zwischen den beiden Verbrechern gekreuzigt, um damit allem Volk zu dokumentieren: Dieser Jesus ist ein Räuberoberhauptmann! Und jetzt fordern sie Jesus zynisch auf: „Steig doch herab vom Kreuz! Hilf Dir doch selbst, wenn Du Gottes Sohn bist! Steig herab, Du König der Juden, dann wollen wir an Dich glauben! Du hast Gott vertraut. Der soll Dich nun auch erlösen, wenn Du wirklich Gottes Sohn bist!" Sie schwören mit dem schon hingerichteten Jesus nochmals eine Machtprobe heraus: Er hat ja Gott vertraut (das gestehen sie ihm immerhin zu) - nun wird sich zeigen, ob Gott ihn mag oder nicht! Wenn Gott ihm hilft, so glaubten die Schriftgelehrten, dann mag er Jesus, hilft er ihm nicht, dann mag er ihn nicht! So einfach war das! Und da nichts passierte und Jesus nicht vom Marterkreuz herabstieg, wähnten sie sich im Recht! Sie hatten gewonnen! Sie standen auf Gottes und Gott auf ihrer Seite. - Sie bemerkten nicht, dass sie ein Werkzeug des Satans waren, der bei der bekannten Versuchungsgeschichte auch von Jesus Mirakel erwartet hatte, um an ihn zu glauben: dass er Steine zu Brot machen solle usw.

Genau so verspotteten in Psalm 22,9 die Umstehenden den leidenden Gerechten, als sie pöbelten: „Er klage es dem Herrn! Der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm!" Matthäus erkannte in Jesus den von Gott gesandten, leidenden Messias!

4. Szene: Im Augenblick seines Todes schreit Jesus mit dem Psalmisten aus Ps 22,2 die ungeheuerlichen Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" Er schreit es auf Aramäisch „Eli, Eli, lama asabthani", was die ungebildeten Römischen Soldaten als Hilferuf an Elia missdeuten. Wieder erkennt Matthäus in Jesus die Gestalt des leidenden Gerechten aus dem Psalm 22. Auch der fühlte sich von Gott total verlassen und total allein. Keine Hilfe kam von Gott! Die spottenden Schriftgelehrten scheinen Recht zu haben. Gott rührt sich nicht. - Und Jesus erlebt die Gottverlassenheit noch radikaler als der leidende Gerechte in Psalm 22. Denn dort betete der leidende Gerechte am Ende des Psalms 22: „Als ich zu Dir schrie, Gott, hast Du mich doch noch erhört!" Er fühlte sich schließlich doch noch von Gott angenommen. So aber nicht Jesus! Jesus schrie am Kreuz nicht: „Gott, Du hast mich erhört!", sondern allein: "Gott, Du hast mich verlassen!" Er litt noch viel, viel mehr als ein leidender Gerechter! Von irgendeiner Auferstehungshoffnung Jesu ist hier nichts, gar nichts zu spüren. Es nahen nur grausamster Tod, Ende und Niederlage. Gott scheint sich überhaupt nicht um den sterbenden Jesus zu scheren. Ende! Aus! Das Grab ist das Letzte! Von einer Neugeburt im Grab keine Rede! „Im Grabe geboren"? Keine Spur von neuem Leben!

5. Szene: „Jesus schrie ein zweites Mal laut - und verschied". Der Tod wird von Matthäus mit einem einzigen Wort beschrieben: „und verschied". Nicht wie in Mel Gibsons Film „Passion of Christ" als ausgedehntes grauenhaftes Spektakel. (Wie übrigens auch die furchtbare Kreuzigung von Matthäus nur mit drei Wörtern beschrieben wird: „Sie kreuzigten ihn" und nicht wie in Mel Gibsons Film populistisch als Grausamkeitsspektakel.) Aber vorher stieß er einen Todesschrei aus. Eigentlich ist es völlig unwahrscheinlich, dass jemand, der am Kreuz grausam hingerichtet wird, im Tod schreit. Normalerweise verröchelt er. Aber das spielte für Matthäus keine Rolle: Der Schrei Jesu war nach Matthäus ein Schrei, der die Welt - Wende einleitet. Alles, alles in der Welt wird anders! Vielleicht könnte man sogar sagen: Matthäus verstand diesen Schrei als Sieges - Schrei. - Also doch eine Wende? Doch keine totale Gottverlassenheit? Doch eine Neugeburt am Kreuz, im Grab?

III.

Liebe Karfreitagsgemeinde! Den meisten von uns sind diese 5 letzten Stationen des gekreuzigten Jesus bekannt. Vielleicht haben manche von uns selbst einmal an einem Kreuzzug teilgenommen. Vielleicht haben einige von uns die Passionsspiele aus Oberammergau, aus Saar Louis, auf der Via Dolorosa in Jerusalem oder in irgendeinem Wallfahrtsort in Polen oder anderswo im Fernsehen oder real miterlebt. Es mag sein, dass einige von Ihnen dabei innerlich sehr berührt waren, andere nur wenig. Es mag sein, dass einige von Ihnen die Hoffnungs- und Ausweglosigkeit des Karfreitags dabei besonders, andere dagegen kaum gespürt haben. Aber sicherlich ist uns allen am Karfreitag immer bewusst: Am Sonntag ist ja Ostern! Jesus wird auferstehen. Seine Passion hat ein happy end!

Auch in unserem weiteren Matthäustext folgen gleich apokalyptische Zeichen eines neuen Lebens: Der Vorhang im Tempel zerriss, so das jetzt jeder einen Zugang zu Gott hat! Die Erde bebte! Die Gräber brachen auf und Heilige standen aus diesen Gräbern auf! Das völlig neue Leben brach an! Ja - im Augenblick des Todes Jesu entstand neues Leben. „Im Grabe geboren" bzw. „Am Kreuz geboren" sind wirklich treffende Symbole für Karfreitag.

Aber trotzdem: Ich habe absichtlich die apokalyptisch - kosmischen Ereignisse nicht vorgelesen, weil sie nach meinem Empfinden dem stillen Karfreitag eigentlich widersprechen. Und sie widersprechen auch dem stillen Ereignis auf dem jüdischen Friedhof in Vilnius. In aller Stille war dort im Grab ein Kind geboren. Der Totengräber erkannte in ihm den Messias - sicherlich einen leidenden Messias!

Und das bestätigte sich! Das neu geborene Kind litt bitterlich. Vielleicht starb es wieder. Der Totengräber hatte sich einmal wieder getäuscht. - Ist die Situation dieses Totengräbers nicht genau unsere Situation? Ich fühle mich oft in seiner Situation: Ich bin überzeugt, dass Jesus von Nazareth der Christus, d.h. der Messias ist. Sein Leiden und Sterben stärken in mir diese Überzeugung. Ich bin überzeugt, dass seit Jesu Leben und Tod neues Leben, nämlich gewaltfreies, gerechtes, liebevolles und schöpfungsähnliches Leben neu entstanden ist, - wie der Totengräber. Ich hoffe, dass die Macht des Todes seit Jesu Auferstehung geringer geworden ist. Und ich erfahre, dass diese Hoffnung immer wieder stirbt - wie der Totengräber. Ich sehe, dass überall Neugeborene in Gräbern, Hungersgebieten, unter Gewalt und Folter neu geboren werden und bald elendig wieder sterben - wie der Totengräber.

Unterscheidet mich irgendetwas von ihm? Uns verbindet die Hoffnung. Und uns unterscheidet der Glaube an Christi Auferstehung und an Neues Leben - obwohl ich manchmal (wenn ich von mir selbst und von meinem guten Ergehen absehe) davon wenig spüre. Oft denke ich: Ja, das Grab ist das letzte! An eine Neugeburt im Grab und im Tod kann ich oft nicht glauben.

 

In solchen Situationen des Zweifels möchte ich an den Spruch an der Wand des Warschauer Getthos erinnern. Dort schrieb ein gläubiger Jude:

„Ich sehe die Sonne nicht, aber ich weiß, dass sie scheint,
Ich spüre keine Liebe, aber ich glaube, dass es sie gibt,
Ich erfahre keine Gerechtigkeit, bin aber gewiss, dass es gerechte Menschen gibt,
Ich sehe Gott nicht, ich glaube aber an ihn!"

„Im Grabe geboren" - das ist ein Symbol für Karfreitag. Wir glauben an das Neue Leben, auch wenn wir es angesichts der Gewalt des Todes oft nicht erleben.

Gottes Friede, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus. Amen



Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
Institut für Ev. Theologie der Univ. Osnabrück
E-Mail: Reinhold.Mokrosch@uni-osnabrueck.de

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