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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahr / Jahreslosung, 01.01.2009

Predigt zu Lukas 4:16-21, verfasst von Klaus Steinmetz

Nun sind wir also drin im neuen Jahr, liebe Gemeinde, und schreiben 2009. Wir stehen am Anfang. Wie immer, wenn etwas Neues beginnt, haben wir unsere Erwartungen und Pläne: Gewisse Dinge, wie Veränderungen im familiären oder beruflichen Bereich stehen uns bevor und sind abzusehen. Anderes, was im alten Jahr begonnen wurde, soll weitergeführt werden. Hoffentlich gelingt alles zum Guten. Unwillkürlich bin ich da eben beim Sprechen (Schreiben) in die Wunschform geraten: Hoffentlich... Aus gutem Grund! Denn es geht ja hierbei um Zukunft, um unsere, meine Zukunft. Und bei allem, was wir erwarten und planen, uns vornehmen und machen können - und auch müssen -, ist uns doch klar: In der Hand haben wir sie nicht, die Zukunft. Lapidar hören wir es aus der Epistellesung im Jakobusbrief: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder jenes tun. Nur dann! Klingt fromm und sehr realistisch zugleich.

Wenn man bedenkt, was alles in einem Jahr geschehen kann, dann ist es im Grunde recht wenig, was wir mit einiger Sicherheit voraussehen können. Die Raketen und Leuchtfeuer heute nacht haben die Dunkelheit nur sehr kurzfristig und zuckend aufhellen können. Es ist bedenkenswert, dass der Brauch der Licht- und Lärmerzeugung in der Neujahrsnacht einmal entstanden ist, um böse Geister zu vertreiben, also letztlich aus Angst. Und in welchem Maße huldigt unsere Zeit dieser Sitte und bezahlt auch noch dafür - viel Geld! Aber auch wenn man diesen Gedanken jetzt nicht weiter vertieft - es bleibt doch im Blick auf das neue Jahr, unsere Zukunft, dabei: Wir sehen und wissen nicht allzu viel; da ist Ungewissheit, ja auch irgendwo Angst im Spiel.

Und wenn ich vorhin sagte: Wir stehen am Anfang - stimmt das wirklich? Ist hier wirklich etwas neu außer der neuen Jahreszahl? Ich muss daran denken, wie es mir früher als Schüler ging, wenn ich ein neues Heft anfing, mit guten Vorsätzen, was Sauberkeit und deutliche Schrift anging. Und spätestens auf der zweiten Seite oben war zu merken: es bleibt alles beim Alten.

Wie steht es mit dem neuen Anfang? Es begleitet uns doch in ebenso, vielleicht noch stärkerem Maße das Gefühl: Das Alte hängt auch, zumindest auch, weiter an uns. So leicht kommen wir nicht davon los und frei, nur weil 2009 anfängt. Und ich meine jetzt nicht so sehr das Alte, was gut war und ist, was wir auch gar nicht missen möchten. Das gibt es doch, Gott sei Dank! Dem Pessimismus sei hier nicht das Wort geredet. Ich habe aber jetzt auch das Alte im Blick, das wir schon ganz gerne hinter uns ließen, was uns schwer geworden ist und niederdrückt; im Großen etwa die dunklen Vorzeichen aus der Finanz- und Wirtschaftskrise, und noch mehr wohl so manches aus unserem privaten, familiären Umkreis.

Gibt es davon eine Befreiung, einen neuen Anfang? Eine Frage, die ja nicht nur den Beginn des neuen Jahres betrifft, sondern weit darüber hinaus reicht? Bis in unsere Wünsche prägt sich das aus. Nicht die Wünsche, die wir in diesen Tagen bei der ersten Begegnung in der Regel so äußern, die klingen meist sehr vollmundig: Alles Gute...viel Gesundheit...viel Erfolg! Nein, bis in die Wünsche, die wir ehrlich vor uns selbst, für uns selbst haben, da prägt es sich aus, dass es gar nicht so leicht ist, an einen ganz neuen Anfang zu glauben. Da sind wir zufrieden, wenn es einigermaßen gut geht, ein bisschen besser vielleicht, angenehmer, leichter, und jedenfalls nicht schlimmer.

Gibt es einen neuen Anfang?

Als Jesus damals in der Synagoge seiner Heimatstadt Nazareth aus dem Prophetenbuch vorgelesen hat, wie das jeder erwachsene Jude tun durfte (und bis heute tun darf), da hat er anschließend gesagt: Ja, es gibt einen neuen Anfang, ein Neues - von Gott her. Es waren die alten Worte, die er vorlas: von den Armen, denen die gute Botschaft verkündigt wird; von den Blinden, denen gesagt wird, dass sie sehen sollen; von den Gefangenen, dass sie frei sein sollen. Diese Worte kannten wohl die meisten seiner Zuhörer. Aber dann, das Buch war bereits zugeschlagen, fügte er hinzu: Heute hat sich dies Wort erfüllt vor euren Ohren. Vor euren Ohren, sagt er erstaunlicherweise, nicht: vor euren Augen. Zu sehen ist also nichts. Und das heißt doch: Indem ich diese alten Worte aufnehme, indem ich sage: Ich bin es, für den das gilt, werden diese alten Worte neu; überraschend und verwirrend neu. Sie hätten ihm ja glauben müssen, dass er recht hat. Aber wie konnten sie das? Nur weil er sich da hinstellt und es behauptet, kann man doch nicht glauben, dass Gottes Gnadenjahr anbricht, also Zeit der Gnade. Nicht: „Gnadenlos günstig", womit man in einer merkwürdig brutalen Wortverwirrung uns heute meint zum Kaufen anreizen zu können; sondern eine Zeit gnadenreich und günstig, voller Heil und Segen. Dass er behauptet: Jetzt beginnt es, der neue Anfang ist da; in mir steht er vor euch! -das war vielen zu viel. Im folgenden wird berichtet, dass man ihn hinausgejagt hat und einige ihn am liebsten getötet hätten.

Aber einige haben ihm dann doch geglaubt, als er ihnen sagte: Kommt mit! Fangt neu an!, und sind ihm gefolgt. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass ihnen Altes vergeben war, wenn er mit den schlichten Worten zu ihnen kam: Friede sei mit euch! Sie konnten aufatmen, wurden frei.

Die Worte Jesu in der Synagoge  zu Nazareth, auch seine Zusage des Friedens dürfen und sollen weitergesagt werden, das hat er selbst gesagt und gewollt. Und ich stelle mir vor, wie diese Worte zu den Armen und Unterdrückten dieser Welt kommen - es gibt ja heute nicht weniger von ihnen als damals, sondern geradezu unzählige mehr -: welche Hoffnung, welchen Antrieb können sie in ihnen auslösen, wenn sie hören: Es gibt eine Wende, einen neuen Anfang.

Und auch in uns selbst können sie der Sehnsucht einen Raum eröffnen, den Gedanken zulassen und frei setzen, dass wir solchen Neuanfang insgeheim wünschen, ja sogar brauchen. Dass es ihn gibt, können wir nicht machen. Nur sagen lassen können wir uns das. Sagen lassen heute zum Beginn eines neuen Jahres, dass diese Zeit und alle Zeit, in die diese Worte treffen, neu werden, neuer Anfang, gnädiger Anfang, Gnadenjahr des Herrn, auch 2009.

Es stimmt wohl, dass solcher Anfang immer nur bruchstückhaft sich verwirklicht und sichtbar wird: Freiwerden von Schuld etwa, die Schuld wird ja nicht vergessen, auch von dem, der sie auf sich geladen hat; aber er kann nun damit leben, ohne dass sie ihn umtreibt und sein Leben zersetzt. Krankheit, auch wenn sie nicht von mir weicht, muss mich nicht mehr verbittern und verzweifeln lassen. Das alles sind nur kleine Zeichen.

In Moskau wirkte im 19. Jahrhundert ein Arzt aus Deutschland, dessen Name und Andenken dort bis heute nicht vergessen ist. Er beobachtete, wie Gefangene, die nach Sibirien verbannt waren, zu mehreren mit Eisenringen an eine lange starre Stange geschmiedet wurden und so auf den unsäglich qualvollen Fußmarsch dorthin getrieben wurden, den viele von ihnen nicht überstanden. Dieser Anblick und der Gedanke daran waren ihm unerträglich. Durch beharrlichen Einsatz, der von vielen zwischendurch nur belächelt wurde, erreichte er, dass zuerst die feste Stange durch eine bewegliche Kette ersetzt wurde, später auch die Eisenringe durch lederne Manschetten - für die Betroffenen eine große Erleichterung. Natürlich kann man sofort feststellen, was alles damit nicht erreicht wurde, wie viel Unmenschlichkeit weiterhin blieb; vor allem war es nicht die Freiheit. Und doch ein kleiner Schritt, und doch von großer Bedeutung. Solche kleinen Zeichen bergen in sich den Hinweis darauf, dass es einen großen, ganzen Anfang geben wird, eine endgültige Erfüllung, eine Zeit der Gnade, des ganzen Segens.

Auch wenn sich nicht alle Fesseln lösen, es wird sie auch im neuen Jahr geben, die kleinen Schritte und Zeichen. Ich wünsche sie uns allen, jedem und jeder da, wo sie es am nötigsten brauchen. Und wir sollten, wo wir es können, einander helfen. Fesseln erträglicher zu machen und zu lösen. Denn wir sind ja miteinander auf dem Weg, auf dem Weg zu jener Erfüllung, die Jesu Worte uns vorgezeichnet haben. Und jeder Tag steht unter der von ihm gegebenen Verheißung: Heute beginnt das Gnadenjahr des Herrn. Amen



Sup.i.R. Klaus Steinmetz
Göttingen
E-Mail: kljsteinmetz@tele2.de

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