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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahr / Jahreslosung, 01.01.2009

Predigt zu Lukas 4:16-21, verfasst von Gunda Schneider-Flume

Ein gutes Neues Jahr wünschen wir uns heute Morgen, liebe Gemeinde. Ein gutes Neues Jahr haben sich viele von uns in der vergangenen Nacht gewünscht, und heute werden wir immer wieder Menschen, die wir treffen, ein gutes Neues Jahr wünschen und selbst Wünsche bekommen. Gut tun diese Wünsche, wenn wir sie sagen und wenn sie uns gesagt werden.

Haben Sie Glückwunschkarten bekommen zum Neuen Jahr, liebe Gemeinde? Weihnachten ist das Fest der Geschenke, die man bekommt, Neujahr ist das Fest der Glückwünsche zum guten Neuen Jahr, das noch offen und unbestimmt vor uns liegt. Oft sind Weihnachtsgrüße und Neujahrswünsche auf einer Karte vereint, obwohl die beiden Feste ursprünglich nicht zusammengehörten. - Wie viele Überstunden haben die Postbediensteten in den letzten Tagen eingelegt, um all die Glückwunschkarten zu sortieren und zu befördern. Man kann die Karten sammeln und alle nebeneinander aufstellen.

Die Motive auf den Karten unterscheiden sich. Da ist der Mistelzweig oder das Rentier im Schnee, ein Stern oder ein Schneemann, auch weihnachtliche Motive findet man: einen Engel, einen Weihnachtsbaum oder die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten: Ein Esel trägt Maria und das Kind, Josef trottet daneben. Eines haben alle unterschiedlichen Karten miteinander gemeinsam: das Wohlwollen. Sie teilen mit, dass jemand wohlwollend an mich denkt, vielleicht nur ein einziges Mal im Jahr. Der gute Wunsch auf der Glückwunschkarte ist das durch die Post beförderte Wohlwollen eines anderen Menschen zum Neubeginn des Jahres.

Deshalb liebe ich diese Karten. Sie stehen da und erinnern an Verbindungen, gelegentlich nur hauchzarte, von ferne her, aber wohlwollende, die uns begleiten. Mit Freude und Stolz kann man feststellen, wie viele Menschen an einen denken, einen nicht vergessen haben. Vielleicht hält die Verbindung weiter über das ganze Jahr bis zum nächsten Neujahrsfest. Brauchen wir das nicht, dieses Wohlwollen über die Zeit hinweg, das Netz von Beziehungen, das hält und trägt, auch in der Einsamkeit? Festzeit ist von Wohlwollen erfüllte Zeit. Menschen freuen sich miteinander und bereiten sich Freude. Die Glückwunschkarten - eine Kette wohlwollender Wünsche, selbst wenn sie vielfach nur noch als SMS ankommen, auch so aber noch Zeichen von Wohlwollen und Suchen nach wohlwollenden Verbindungen, das den Neujahrstag erfüllt und uns bestärkt für das Neue Jahr. Wohlwollen stärkt.    

Was aber sind Wünsche? Sind die ältesten, stärksten und dringendsten Wünsche nicht Illusionen, wie Sigmund Freud sagt, Hirngespinste, mit denen man sich aus der Realität verabschiedet? Man übersteigt die alltägliche Wirklichkeit, und es kommt vor, dass man sich dabei die Flügel verbrennt wie Ikarus. Sein Vater Daedalus hatte für sich und den Sohn Flügel gefertigt. Der neugierige, entdeckungslustige Sohn kam der Sonne zu nahe, das Wachs, das die Federn seiner Flügel zusammenhielt zerschmolz, er stürzte ab. Wünsche können das gleiche Schicksal erleiden wie Aktienkurse, sie stürzen ab wie Ikarus, unaufhaltsam.

Aber was ist Realität? Es beginnt mit der Geburt eines Kindes, das ist Realität, doch es ist noch viel mehr. Ein Geschenk, Freude, ein Freudenfunke ist das, der auch am Neujahrstag noch leuchtet. Oft ist es die Erfüllung eines lange gehegten Kinderwunsches. Da ereignet sich Fülle des Lebens, Leben als Geschenk, aus reinem Wohlwollen. Gnade ist das alte Wort dafür. In der so genannten Realität ereignet sich viel mehr als Realität, Erfüllung von Wünschen.

Gottes Geschichte, ja Gott selbst provoziert Wünsche, so erzählt es die biblische Tradition. In einer weihnachtlichen Verheißung heißt es: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande scheint es hell." Das ist eine Verheißung, die Wünsche weckt, Wünsche als Lebenskraft.     

Im Finstern, in der Tiefe, da wo alles aussichtslos erscheint, entstehen Wünsche, aber sie entstehen nicht aus dem Dunkel heraus. Aus dem Nichts kommt nichts. Aus dem Dunkel kommen dunkle Machenschaften, keine guten Wünsche. Wünsche, die Lebenskraft wachsen lassen gegen Resignation und Mutlosigkeit, entstehen aus der Erinnerung an Licht, das ins Dunkel fällt. Nur so konnte der Pfarrer Kurt Reuber Weihnachten 1942 im Kessel die Stalingrad-Madonna zeichnen, Erinnerung an Licht, Leben, Liebe. In Erinnerung an Gottes Wohlwollen, seine Gnade in der Weihnachtsgeschichte, gewann der Wunsch nach Wärme und Geborgenheit Gestalt trotz Kälte und Finsternis. Ein Wunsch, eine Hoffnung, die vielen Menschen Lebenskraft verlieh über die Realität hinaus.

Aber es gibt auch andere Wünsche, nicht aus guter Erinnerung, böse Wünsche, Todeswünsche, überall auf der Welt zeigen sie sich machtvoll. Sie richten ihre Kraft gegen das Leben von anderen, gegen Menschen eines anderen Stammes, gegen Menschen einer anderen Religion oder Hautfarbe, gegen Menschen eines anderen politischen Systems. Sie wachsen auf dem Boden des Misstrauens gegen alles Fremde und wollen es auslöschen. - Und es gibt Wünsche aus der Triebkraft der Gier. Zur Zeit spüren wir die Folgen davon weltweit. Die Gier, aus Schulden unkontrolliert immer mehr und immer mehr Gewinn zu erzielen, indem Kredite wieder und wieder neu profitreich verkauft werden, treibt ein zerstörerisches Spiel mit Menschen, die sich aus eigener Gier an diesem Spiel beteiligen. Aber Profitgier schafft keine Lebenskraft und keinen Mut. Sie lässt nicht nur Aktienkurse abstürzen und Finanzsysteme ins Wanken geraten, sie stürzt Menschen in Unglück und Verzweiflung.

Können wir ein anderes Wünschen lernen? Lassen sich Wünsche neu orientieren? Zum Neuen Jahr wirklich neue Wünsche! Oder sind es immer wieder die alten, die nach zwei Wochen verbraucht sind und vergessen, wenn die Glückwunschkarten weggeräumt sind und wir zurückbleiben, ernüchtert oder resigniert? Gottes Geschichte provoziert zu neuem Wünschen, das uns ganz und gar verändert, so dass wir selbst neu werden. Der Predigttext zum heutigen Neujahrstag spricht davon.

Lukas 4,16-21

   

„Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen.

Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht ‚Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.‘

Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.

Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren."

Eine uralte Verheißung ist das. Was für Wünsche weckt sie, wie verändert sie uns? Stärkt sie uns für alles, was im Neuen Jahr auf uns zukommt, was wir erwarten, was wir zu bewältigen haben und was wir hoffen? Das Evangelium den Armen, die Freiheitspredigt den Gefangenen, den Blinden das Sehen, den Zerbrochenen die Befreiung, eine Vision ist das, gefährliche Erinnerung, die alle Verhältnisse umkehrt und dahin reicht, wo Menschen nicht mehr wünschen können, weil sie das gute Wünschen verlernt haben. Gefährliche Erinnerung, mit der man über Mauern springen kann.

Im Alten Israel gab es die religiöse Einrichtung des so genannten Erlassjahres. Ursprünglich war das verbunden mit der Tradition des Ackerbaus. Alle sieben Jahre war ein Jahr der Brache. Das erinnert daran, dass das Land, die Lebensgrundlage, dem Gott Israels gehört, er hat es geschenkt. Von ihm kommt das Leben. Alle sieben Jahre, im Erlassjahr, ging es um Schuldenerlass, Hilfe für die Armen und Freilassung der hebräischen Sklaven, alle sieben mal sieben Jahre, im Jobeljahr, gab es ein Erlassjahr für alle Bewohner des Landes. Die durch Schulden versklavten Menschen kamen wieder frei. Das ist das Gnadenjahr, göttlich institutionalisiertes Wohlwollen, Ermöglichung neuen Lebens und neuen Wünschens für Menschen, die nicht mehr wünschen können, die große Befreiung für Belastete und Gebeugte, für Menschen ohne Perspektive und Mut. Diese Erinnerung wird in der Predigt Jesu aufgegriffen, und sie wird mit der Ankündigung des „Heute", nicht erst irgendwann, am Sankt-Nimmerleinstag, überboten.

Neu wünschen. Was wünschen wir? Das Neue Jahr ist für uns noch wie ein fast ganz unbeschriebener Kalender. Die Seiten sind leer. Noch sind nicht alle Tage mit Terminen belegt. Nur einige Urlaubs- und Ferienzeiten stehen schon fest. 2009 kommt uns noch vor wie eine weitgehend leere Strecke, die wir mit unseren Wünschen und Plänen ausfüllen wollen. Aber wird das gelingen? Trotz der Freude des Anfangs - und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne - kommen Unsicherheit und Angst auf. Wird unser Wünschen zum Ziel kommen? Werden wir es erleben, noch erleben? Oder überholen die alten Ängste langsam und stetig die Neujahrshoffnungen und -wünsche?

Ich habe mich beworben um einen Arbeitsplatz, die Bestätigung meiner Bewerbung habe ich erhalten, werde ich den begehrten Platz bekommen? Was hängt da alles von ab! Der Blick auf Konjunktur- und Finanzkrise lässt Schlechtes ahnen. Wird bald wieder das deprimierende Warten einsetzen? Da helfen nicht positives Denken und Optimismus.

Kraft, Gesundheitskraft wünschen wir uns, die oft nicht zur Verfügung steht. „Ja, das möcht' ich noch erleben" schreibt der Dichter. Möge die Gesundheit so lange ausreichen, bis noch einige Wünsche in Erfüllung gehen. Am Erfolg der Kinder, und Enkel würde man sich gerne noch freuen, vielleicht eine kleine Zeitspanne noch.

Aber wünschen wir nur für uns selbst im engsten Familienkreis, für unsere Lieben? Sind Weltwirtschaft und Politik, Kriege und Vertreibungen abgeschrieben, damit wir wenigstens auf kleinstem Umfeld friedlich wünschen können? Doch Wünsche nur für Haus und Familie, so wichtig sie sind, können nicht vergessen machen, dass wir nicht auf Robinsons einsamer Insel leben. Die Worte Globalisierung, Rezession, Wirtschaftskrise, Klimawandel stellen viele Wünsche in Frage; und die Bilder der fliehenden Frauen und Kinder, der Vertriebenen auf der Suche nach Wasser, Brot und einem schützenden Zelt schreien zum Himmel.

Unser Planen und Wünschen ist oft wenig nachhaltig, nur auf uns selbst und den morgigen Tag bedacht. Passend auf Finanz- und Wirtschaftsmärkte heute haben wir in der Epistellesung aus dem Jakobusbrief gehört, wie zu den Handel Treibenden, die auf den Weltmärkten reisen, gesagt ist: „Ihr wisst nicht, was morgen sein wird. Was ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet." Und dagegen ist die so genannte conditio Jacobea gestellt, die wie eine Schicksalsdrohung klingende Bedingung aus dem Jakobusbrief. „Wenn der Herr will." Geht es so mit unseren Wünschen? Müssen wir mit dieser Angst ins Neue Jahr gehen? Wenn der Herr will. Die leere Zeitstrecke vor uns erscheint schon übervoll mit Irrtum, Elend, Schuld und Angst. Wirkt dabei Gott als der große Angstmacher? „Wenn der Herr will", ist das die Drohung des Schicksals in eine leere Zukunft hinein?

 

Wünsche können viel bewirken, sehr viel. Gerade konnten wir bei einem beispiellosen Wahlkampf in den USA beobachten, wie ein neuer Hoffnungsträger, einer aus der Gruppe der lange unterdrückten und benachteiligten Schwarzafrikaner zum Präsidenten gewählt wurde. Was für Wünsche und Erwartungen heften sich an diese Wahl! - In Leipzig haben wir vor nun fast 20 Jahren erlebt, wie die Freiheitswünsche der Bevölkerung die Gewaltherrschaft der Staatsmacht zurückdrängten. Wünsche wirken machtvoll, und sie bewegen Menschen und Machtstrukturen.

Aber es gibt Menschen, denen das Wünschen vergangen ist. Den ungewollten Kindern aus zerstörten Familien- und Lebensverhältnissen, den vielen Straßenkindern weltweit. Woher sollen sie gute Wünsche haben nach all ihren Erfahrungen? Gelernt haben sie den Kampf ums Überleben oder die Resignation. Was wird das kleine Mädchen wünschen, das so stolz sein weißes Kleid gegen den Schmutz der Slums in Haiti verteidigt? - Die Frau, die täglich von unerträglichen Schmerzen geplagt ist, kann stumpf werden, zum Wünschen nicht mehr fähig. Wage da einer von positivem Denken zu reden. Das gibt es nur bei Menschen, denen es gut geht und die meinen, sie könnten sich aus eigenen Kräften heilen und lenken. Gehört hierher die Schicksalsdrohung: Wenn der Herr will? Gott - die Schicksalsdrohung auf der leeren Zeitstrecke?

Nein, Gottes Wille ist keine Schicksalsdrohung! Gott ist nicht der große Verunsicherer der Zeit, allmächtiges Schicksal, das uns in Angst hält, sein Wille ist die Macht des Wohlwollens, die Leben bewahrt.

 

In all unser Wünschen und Nicht-Mehr-Wünschen-Können greift die Verheißung unseres Predigttextes, die Verheißung des göttlichen Wohlwollens machtvoll ein. Heute, am 1. Januar 2009, ist die Verheißung schon erfüllt. Das ist unerhört. „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren." Heute wird das Gnadenjahr verkündet. Da ist die Zeit umgekehrt. Gottes Zeit ist nicht wie eine leere Wegstrecke vor uns, eine drohende Fülle von Ungewissheit. Die Zeit des allmächtigen Gottes ist Fülle von Wohlwollen, Überfülle von Anfang an.

Mit unserer Zeiterfahrung und unseren Wünschen geht es ja so, dass wir wünschen und planen und Vorsätze fassen, aber all das steht unter dem ängstigenden Vielleicht: Vielleicht bestehe ich die Prüfung, vielleicht erhalte ich den Arbeitsplatz, vielleicht reicht meine Gesundheitskraft. Der Vorbehalt des Vielleicht ist realistisch angesichts der Ungewissheit menschlicher Kräfte und  Planungen.

Aber der Gott Jesu Christi ist nicht das große Vielleicht, und der große Angstmacher, sondern die gewiss machende Erfüllung der Zeit heute. Gottes Wohlwollen für alle Menschen ist schon geschehen in dem Ereignis, in dem Gott zu den Menschen kam in dem Kind in der Krippe. Das neue Kalenderjahr steht im Lichte der schon geschehenen Zeitenwende des Weihnachtsfestes. Deshalb gilt schon heute: das Evangelium den Armen, die Befreiung den Gefangenen, den Blinden Sehen, den Zerschlagenen die Freiheit. Verheißungen für heute mit einem Trend in die Niedrigkeit sind das. In die Tiefe gehen sie, wo die Wünsche absterben oder stumpf werden, aber heute wunderbar erneuert werden.

Durch die Fülle von Gottes Wohlwollen schon heute ist die Zeit unterbrochen. Dieses Wohlwollen begleitet uns alle Tage durch das Jahr. Wir wünschen und planen für die Zeit des Jahres 2009 ins Ungewisse hinein. Kraft dazu können wir daraus beziehen, dass uns schon ein wohlwollendes Planen im Rücken steht. Das Wohlwollen im Rücken reißt aus Resignation und Mutlosigkeit. An kleinen Kindern kann man das am besten beobachten: Im Schutze eines wohlwollenden Blickes können sie mit Freude laufen, auch wenn sie noch nicht sicher auf den eigenen Beinen sind. Der wohlwollende Blick bestärkt, ermutigt und ermuntert. Er ist stärker als die Angst.

Die gefährliche Erinnerung der göttlichen Verheißung macht erfinderisch, weiter nach Friedenswegen zu suchen gegen das Töten und die Gewalt in Afrika: Ein Erlassjahr für die Ärmsten der Armen zu gestalten und sie anzuleiten, mit den ihnen gegebenen Ressourcen umzugehen. Gottes Wohlwollen stärkt die Augen, die nicht sehen, zu neuen Visionen und Hoffnungen, Gottes Wohlwollen stärkt den langen Atem und die Ausdauer auf dem mühsamen Weg zu verantwortlicher Kontrolle der Finanzmärkte. Es geht dabei ja nicht um Schicksal, sondern um menschliches Versagen und Schuld. Allzu schnell reagieren wir darauf mit einem „Das ist eben so". Aber wenn die Zeit anhält, weil heute sich Verheißung erfüllt, wenn der Zirkel von Schuld, Nachlässigkeit, Korruption und Schlamperei unterbrochen wird, werden auch neue Kräfte frei. Gottes Wohlwollen im Rücken macht erfinderisch.

Wohl gehen unser Planen und Wünschen und all die guten Vorsätze immer noch ins Ungewisse. Werden sie Erfolg haben? Die prophetische Verheißung ist keine Erfolgsgarantie, die gibt es vermeintlich für positives Denken. Das steht unter der Bedingung des Erfolges, oder es stürzt ab. Gottes Wohlwollen, sein Gnadenjahr ist an keine Bedingung gebunden. Die mit Gottes Kommen geschehene Umkehrung der Zeit befreit von der Angst des Vielleicht, denn Gottes Wohlwollen ist unabhängig von unserem Erfolg, es geht mit uns auch da, wo Menschen das Wünschen aufgegeben haben. Gottes Wohlwollen ist die Kraft, die uns nüchtern mit dem Vielleicht, der Kontingenz des Lebens, wie es heißt, umgehen lässt.

Wo man selbst keine Möglichkeit mehr sieht - für mich ist alles nur dunkel im Neuen Jahr: Ich sehe keinen Ausweg mehr, keine Chance, keine Perspektive -, da lässt Gott neu sehen. Die Unterbrechung der Zeit durch Gottes Gnade schafft die Möglichkeit zu neuem Sehen. Denen, die nichts mehr sehen, tun sich neue Chancen auf, neue Einfälle, neue Perspektiven. Das Gnadenjahr heute eröffnet neuen Raum und neue Zeit, Befreiung, weil jemand neben mir geht. Gott, der allmächtige Gott selbst im Dunkel. Dort schafft er Licht wie das Kind in der Krippe. Sein Wohlwollen reicht an das Krankenbett, wo einer liebevoll tröstend die Hand des Kranken ergreift. Gottes Wohlwollen macht die große Traurigkeit erträglich, denn wenn jemand neben mir geht, gilt wohl, was der Psalmbeter erfahren hat: Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Das unerwartete Wohlwollen im Rücken verbindet Menschen und bestärkt ihre guten Wünsche und Vorsätze zum Neuen Jahr, denn mit allen Menschen geht jetzt der Stern der Gotteshuld, der Stern göttlichen Wohlwollens.

Amen.




Prof. Dr. Gunda Schneider-Flume
Leipzig
E-Mail: dr.gunda.schneider@t-online.de

Bemerkung:
Universitätsgottesdienst in der Nikolaikirche, Leipzig


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