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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahr / Jahreslosung, 01.01.2009

Predigt zu Lukas 4:16-21, verfasst von Manfred Wussow

        
Mit dem Lied EG 64 „Der du die Zeit in Händen hast" von Jochen Klepper (22.03.1903 - 11.12.1942)

Lied EG 64,1

In Nazareth ist was los. In der Synagoge hält Jesus seine erste Predigt. Eltern, Nachbarn, Spielkameraden von einst - alle sind da. Was später gar als „Antrittsrede" hochgelobt wurde, sorgte in dem Kaff für blankes Entsetzen. Der Prophet Jesaja ist an der Reihe. Turnusmäßig. Nichts Besonderes.  Nichts Besonderes auch, dass Jesus sich vorne hinstellt. Das ist in der Synagoge möglich, sogar üblich.
Lassen wir uns die Geschichte von Lukas erzählen:

„Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jesaja 61,1-2):

»Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen,  zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«

Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren" (Lk. 4,16-21).

Was Jesus den Leuten sagt, ist - in nur einem Satz - ungeheuerlich: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren. Ob Jesus noch mehr gesagt hat, wüsste ich zwar auch gern, aber der eine Satz reichte - um ein Fass zu öffnen.
Lukas erzählt sogar:

„Und alle, die in der Synagoge waren, wurden von Zorn erfüllt, als sie das hörten. Und sie standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt gebaut war, um ihm hinabzustürzen. Aber er ging mitten durch sie hinweg" (Lk. 4,28-30).

Das Gnadenjahr des Herrn fängt mit Gewalt an. Die Hinrichtung, ein paar Jahre später, am Kreuz kündigt sich schon an. Ein Gnadenjahr - die wohl größte Sehnsucht der Menschen. Von den alten Träumen, Schuldverhältnisse, Abhängigkeiten und Machtgefüge regelmäßig aufzubrechen, war schon zu Jesu Zeit nichts übrig geblieben.

Wir singen heute am ersten Tag des Jahres 2009  das Lied  „Der du die Zeit in Händen hast" von Jochen Klepper. Strophe für Strophe ist von seinen Lebenserfahrungen gezeichnet, gleichzeitig aber die Einladung, das Gnadenjahr Gottes zu entdecken - auch in den Verdunkelungen und Verstrickungen des Lebens.
 
Lied EG 64,2

Die Überschrift kam zuletzt. Über Wochen hatte Klepper das Thema bewegt und erschüttert. Wenn er von des „Jahres Last" spricht, die abgenommen und in Segen verwandelt werden soll, dann ist es zunächst sein Jahr 1937. Nach langer Arbeit und Entbehrung war sein Buch „Der Vater. Der Roman des Soldatenkönigs" im Februar erschienen und schickte sich an, ein Bestseller zu werden. Aber schon am 25.03.1937 wurde er aus der Reichsschrifttumkammer ausgeschlossen, da er - wie es in der Begründung heißt - „nicht geeignet" sei, „durch schriftstellerische Veröffentlichungen auf die geistige und kulturelle Entwicklung der Nation Einfluss zu nehmen."
Klepper hatte eine jüdische Frau geheiratet, die ihre beiden Töchter mit in die Ehe brachte.

Am 25. September 1937 schreibt Klepper in sein Tagebuch:

„Den Herrn der Ewigkeit um Zeit zu bitten, die er erfülle mit von ihm gewährtem Werk: das ist ein Gebet, das man erst in viel Verzweiflung lernt. Gott hat Zeit; und hat meine Zeit in Händen"

Noch fehlt das Bibelwort, das Klepper seinen Liedern stets voranstellte. Aber er findet es in Psalm 102:

„Er demütigt auf dem Wege meine Kraft, er verkürzt meine Tage.
Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg / in der Hälfte meiner Tage!
Deine Jahre währen für und für.
Du hast vorzeiten die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk.
Sie werden vergehen, du aber bleibst;
sie werden alle veralten wie ein Gewand; wie ein Kleid wirst du sie wechseln,
und sie werden verwandelt werden.
Du aber bleibst, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende."

Lied EG 64, 3

Am 24.12.1937 schickt Klepper seinem alten Lehrer, Prof. Herrmann, eine Abschrift seines Gedichtes „Der du die Zeit in Händen hast"  - und widmet es ihm als Neujahrslied.

Klepper hat viel angefangen, vieles abgebrochen, vieles sich auch aus der Hand nehmen lassen. Er hat vieles vor den eigenen Augen zerrinnen sehen - und hat doch eine große Hoffnung.  In jeder Zeile spürt man den Atem Kleppers.
In seinem Tagebuch, 1956 in Auswahl unter dem Titel" Unter dem Schatten deiner Flügel" von seiner Schwester Hilde herausgegeben, äußert er Zweifel und Ängste, was seine Arbeit betrifft. Die Kämpfe, in die er verwickelt wird, belasten ihn körperlich. An vielen Stellen begegnen wir einem Menschen, der zerbrechlich ist - und der das nicht verbirgt.
Die Worte und Bilder aber entlehnt  Klepper der Bibel. Dass wir im Winde treiben, vergänglich sind, sagen die Psalmen. Aber auch, dass Gottes Gnade „in unsere leeren Hände" strömt. Und mit dem Wort „strömt" ist der Überfluss, der Reichtum Gottes auf einmal ganz nah. Er geizt nicht, er kleckert auch nicht, er hält auch nichts zurück. Gott, so beim Wort genommen, verwandelt jeden Tag. Alles, was Klepper kunstvoll zusammenfügt, ist ein Psalm. Klage- und Loblied in einem.

Lied EG 64, 4

Schauen wir noch einmal in das Jahr 1937.
Am 27. Oktober reicht Klepper auch sein „Neujahreslied" bei der Reichsschrifttumkammer ein. In der von Kurt Ihlenfeld herausgegebenen Zeitschrift „Eckart" soll das Gedicht noch vor Jahresende erscheinen.

Alfred Richard Meyer, Referatsleiter, schreibt am 18. November 1937 in einem internen Gutachten:

„Dieses Gedicht, das gewiss von Zeitschriften wie: ‚Eckart' angenommen werden könnte, ist eine lyrische Paraphrase über den 102. Psalm und vertritt eine Gesinnung, die absolut jüdisch genannt werden muss. Es wird gesprochen von des Jahres Last, dass alles, was ein Mensch beginnt, vor seinen Augen zerrinnt, dass des Menschen Tag und Werk vergeht, dass der Mensch im Winde treibt, dass die Menschen ihre Tage in Schuld verbringen, dass sie in ihrer Zeit vieles versäumen und verfehlen. Gegen die Frömmigkeit dieses lyrischen Dichters soll gewiss nichts gesagt werden, aber das heutige Deutschland darf bestimmt ein Neujahrslied in einem anderen, positiveren Ton erwarten, der es nicht nötig hat, auf die knechtische Einstellung der Psalmen zurückzugreifen".

Jochen Klepper empfand die Stellungnahme als Anklage. Er sah die neuen Herren die Zeit in die Hand nehmen und sich anschicken, alles neu zu formen: den neuen Menschen, das neue Deutschland, die neue Weltordnung.

In der Neujahrsnummer der „DAZ" (Deutsche Allgemeine Zeitung) vom 1.1.1938 konnte das Gedicht dann doch wenigstens auf Seite 7 erscheinen. Einer der Redakteure, Hans Eberhard Friedrich, schrieb Klepper zu Weihnachten:

„Ich bin sehr glücklich darüber, wirklich sehr glücklich und ich schließe dieses Jahr mit der freudigen Feststellung, Sie kennengelernt zu haben. Das ist keine liebenswürdige Phrase, lieber Herr Klepper, sondern eine wirkliche Freude erfüllt mich darüber, dass ich Sie kenne, der so glauben und so singen kann. Ich danke Ihnen. Das Bibelwort meines Lebens lautet: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe diese drei; die Liebe aber ist die größte unter ihnen! (!. Kor. 13,13.)"
 
Lied EG 64, 5

So hört sich Vertrauen an. Selbst die Tage, die wir in Schuld verbringen, bekommen ihren Wert geschenkt - und das rechte Maß. „Was wir versäumt, was wie verfehlt, darf nicht mehr vor dich dringen".

Als Klepper das Neujahrsgedicht abschloss, formulierte er - in der ersten überlieferten Fassung:

Der du allein der Ewige heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unserer Zeiten:
Laß - sind die Tage auch verkürzt,
wie wenn ein Stein in Tiefen stürzt -
uns dir nur nicht entgleiten!

Das Bild von den verkürzten Tagen war schon im 102. Psalm von menschlichen Erfahrungen gesättigt. „Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg / in der Hälfte meiner Tage!"
Wir würden von dem abgebrochenen Leben reden, vielleicht auch von dem nicht gelebten. Klepper spricht die Hoffnung, aber auch die Sorge aus, dass Gott einen Menschen - im tiefen Fall - nicht verfehlt. Ein Bild, das noch mehr in sich birgt: Gott ist ganz unten.  Er ist schon da, wo ich - lande.

Ahnte Jochen Klepper, wie es mit ihm, seiner jüdischen Frau, seinen jüdischen Stieftöchtern weitergehen würde? In seinem Tagebuch hält Klepper alles fest. Der Ring wurde immer enger gezogen, die Spielräume immer kleiner - und Jochen Klepper sah zu. Wie ein Chronist seines eigenen Lebens beschreibt er das Fallen in die Tiefe. Ein späterer Kritiker nannte Jochen Klepper ein „deutsches Schaf".

Die älteste Stieftocher, Brigitte, konnte noch kurz vor Kriegsbeginn 1939 nach London emigrieren. Für Renate, von Klepper liebevoll „Renerle" genannt, zerschlagen sich später alle Hoffnungen. Selbst die Erwartung, als Soldat respektiert zu werden, erfüllt sich nicht. 1941 wird er entlassen - „unehrenhaft". Jüdisch versippt, darf er nicht für das Vaterland kämpfen - oder fallen.

Am 10. Dezember 1942 hat Klepper das letzte und hoffnungslose Gespräch mit Adolf Eichmann im Reichssicherheitshauptamt. Seine Frau Ruth und seine jüdische Stieftochter Renate werden vor der drohenden Deportation ins KZ nicht geschützt. Jochen Klepper wusste, was auf sie zukam - seine Intervention in der Höhle des Löwen zeigt aber auch: es wussten alle.

Seine letzte Tagebucheintragung ist vom 10.12.1942:

„Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst.
Wir sterben nun - ach, auch das steht bei Gott.
Wir gehen heut Nacht gemeinsam in den Tod.
Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt:
In dessen Anblick endet unser Leben."

Wagen wir noch einmal einen weiten Blick zurück:

Am 26. April 1903 wurde Joachim Georg Klepper - er nannte sich später Jochen - von seinem Vater getauft, dem Pfarrer in Beuthen/Oder.  Es war der Sonntag Misericordias Domini, der Sonntag vom guten Hirten.  
Als Taufspruch wählte der Vater Jes. 43,1:
„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!"
Jochen Klepper hat an diesem Wort gehangen. Nahezu jedes Jahr erwähnt er in seinem Tagebuch Tauftag und Taufspruch.

Im Evangelium liest Jesus aus dem Propheten Jesaja:
»Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen,  zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.

Lied EG 64,6



Manfred Wussow
Aachen
E-Mail: M.Wussow@gmx.de

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