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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Altjahrabend, Silvester, 31.12.2008

Predigt zu Lukas 12:45f, verfasst von Harald Klöpper

Liebe Gemeinde,
das wäre doch mal ein Gottesdienst, wo uns nach Öffnen der Kirchentür nicht nur das altgewohnte Bild - ein auf sein Manuskript fixierter Pastor in Schwarz -, sondern Gott selber uns mit einem Lächeln entgegen kommt, uns empfängt und an seinem Arm zu seinem festlich gedeckten Tisch führt und bittet, dort Platz zu nehmen! Die Schürze, die er anhat, lässt ahnen, dass er gleich die wunderbarsten Köstlichkeiten auftischen wird!
Zunächst aber etwas anderes: Sicherlich haben wir alle einmal Gottesdienste erfahren, wo uns Gott ähnlich zuvorkommend und liebevoll nahe gekommen ist. Gottesdienste, die uns zu unserer eigenen Überraschung aus dem Alltag, aus Frustrationen und selbst Verzweiflung herausholten.
Denn wenn nicht, dann müssten wir uns ernsthaft Gedanken um unseren Gesundheitszustand machen: Masochismus gab und gibt es zwar immer wieder einmal in der Kirchengeschichte, aber dieses selbst gewählte Leid ist Lichtjahre entfernt von dem befreienden Evangelium der Gottesliebe, die in unserem Leben unendlich viel zum Positiven verändert. Genau diesem lebensschaffenden Dienst hat sich Gott verpflichtet, es ist sein Part in jedem Gottesdienst. Nicht nur im vergangenen Jahr, sondern auch für das kommende Jahr!
Erstaunlich bleibt in jedem Fall, dass Gottes sich in seinen Aktivitäten keinesfalls auf die Kirche, die Pastoren, Mitarbeiter oder den Gemeindekirchenrat beschränkt. Im Gegenteil: Von Jesus Christus, seinem Sohn und Gesandten, hören wir, dass er eher die Leute am Rande der Kirche in ihrem Alltag aufsucht: Petrus und Andreas beim Fischen, Matthäus beim Aufrechnen von Zollschulden, Maria und Martha bei hausfräulichen Tätigkeiten.
Darum ist es vielleicht auch weniger verwunderlich, wenn sich Jesus im Tempel alles andere als feierlich benimmt: er fängt Streit mit den Schriftgelehrten an und stößt die Tische der Händler und Wechsler um. Statt in der Kirche Gott zu suchen, zieht sich Jesus lieber zum Gebet in die Einsamkeit zurück.
Jesus ein Rebell? Sicherlich, an einigen Punkten schon. Aber es fällt mir schwer, ihn als Berufsrevoluzzer zu sehen, der mit Gott auf der Seite gegen die ganze Welt zu Felde zieht.
Dagegen spricht schon, dass er die meiste Zeit von Jüngern umgeben ist, selbst wenn es manchmal Tage und Jahre braucht, bis die verstehen, wie er versucht, sie und andere Menschen in Kontakt mit Gott zu bringen, warum er sie heilt und ihnen Augen, Ohren, Herz und Sinne öffnet, damit sie ungehindert erkennen können, wie nahe ihnen Gott ist, egal, wo sie sich gerade auf ihrem Lebensweg befinden. Nein, Jesus lebte und litt mit anderen und in Offenheit.
Lange Zeit hielten die Christen diese Tradition bei und trafen sich darum im Atrium, dem Innenhof der alten römischen Häuser. Unter dem offenem Himmel feierten sie die Gegenwart Gottes, bis der Wind sich bedrohlich drehte und sie sich an einigen Stellen zunehmend gezwungen sahen, sich in die Katakomben zu verkriechen.
Als wenig später das Christentum Staatsreligion wurde, kehrten die Christen auf kaum vorhersehbare Weise den offenen Formen den Rücken zu. Sie verließen die Atrien, um Katakomben gleiche Basiliken zu beschlagnahmen oder neu zu bauen.
Aus mehreren Gründen war mit der Staatskirchengründung Schluß mit der Bindung des christlichen Glaubens an den offenen Himmel und den Alltagssituationen. Denn zu den neuen und jetzt abgeschlossenen Bauten kamen Glaubensbekenntnisse hinzu, die das innere Glaubensleben bis ins Detail reglementieren sollten. Unmerklich verschob sich im christlichen Glauben die Perspektive von offenen zu geschlossenen Systemen.
Auch wenn dadurch manches zur Klärung kam, Jahrhunderte später würde die Inquisition zeigen, zu welch extrem grausamen Handlungen solche geschlossenen Systeme fähig sind.
Bis heute eindrücklich hat das Dostojewski in seinem Buch „Die Brüder Karamasoff" festgehalten. Angesiedelt in Sevilla zur Zeit der Inquisition, lässt Dostojewski dort noch einmal Jesus Christus erscheinen, wie er auf einen Großinquisitor trifft, einen Wächter über normengetreues Kirchentum.
Die Beschreibung der beiden Akteure könnte kaum unterschiedlicher sein. Über Jesus schreibt Dostojewski:
Die Sonne der Liebe brennt in Seinem Herzen, Strahlen von Licht, Erleuchtung und Kraft strömen aus Seinen Augen, und alle, über die sie sich ergießen, sind ergriffen von Gegenliebe zu Ihm.  
Der Großinquisitor ist das genaue Gegenteil: selbst das einzig Lebendige, seine Augen, sind von todbringender Macht gezeichnet:
In diesem Augenblick geht über den Platz der Kathedrale der Kardinal-Großinquisitor. Er ist ein fast neunzigjähriger Greis, groß und aufrecht, mit vertrocknetem Gesicht, eingesunkenen Augen, in denen aber noch ein Glanz blinkt wie ein Feuerfunke. Oh, nicht in seinem prächtigen Kardinalsgewande geht er vorüber, in den leuchtenden Farben, in denen er gestern vor dem Volke geprunkt hat, als er die Feinde des römischen Glaubens den Flammen übergab, - nein, in diesem Augenblick trägt er nur seine alte, grobe Mönchskutte. Ihm folgen in angemessenem Abstand seine finsteren Gehilfen und Diener und die ,heilige‘ Wache.
Angesichts des Gedränges vor dem [Kirchen-] Portal [um Jesus], bleibt er stehen und beobachtet von ferne. ... Er runzelt die grauen, buschigen Brauen, und sein Blick erglüht unheilverkündend. Er streckt den Finger aus und befiehlt der Wache, ... [Jesus] zu ergreifen.
Und siehe, so groß ist seine Macht, und bereits so gut abgerichtet, unterworfen und zitternd gehorsam ist ihm das Volk, daß es vor den Wachen wortlos zurückweicht und diese, inmitten der Grabesstille, Hand an Ihn legen und Ihn wegführen läßt. Und jäh beugt sich die ganze Menge, wie ein Mann, bis zur Erde vor dem greisen Großinquisitor; der segnet schweigend das kniende Volk und geht stumm vorüber.
Die Wache führt den Gefangenen in ein enges dunkles, gewölbtes Verließ im alten Palast des Heiligen Tribunals und schließt ihn dort ein.
Dennoch, mitten in der Nacht sucht ihn der Großinquisitor auf. Aber anders als beim Schriftgelehrten Nikodemus aus dem Johannesevangelium: keine einzige ernstgemeinte Frage wird der Großinquisitor dem gefangenen Jesus stellen. Er hat sein Urteil bereits gefällt und verkündet in einem langen Monolog dessen Todesurteil.
Der Großinquisitor gründet sich dabei auf die Versuchungsgeschichte, wie sie bei Matthäus und Lukas (jeweils im 4. Kapitel) festgehalten ist und warum die Kirche im Laufe der Jahrhunderte aus pragmatischen Gründen von der biblischen Vorlage abweichen musste:  In immer neuen Anläufen begründet der Großinquisitor sein vernichtendes Urteil über Jesus mit dem Widerspruch von menschlicher Freiheitsliebe und Verführbarkeit, die nur unter Opfer der Freiheit und die Ausgestaltung einer Zentralmacht zu überwinden sei.
Der Großinquisitor zum gefangenen Jesus:
Es fehlte Dir nicht an Warnungen und Fingerzeigen aber Du achtetest der Warnungen nicht, und Du verschmähtest den einzigen Weg, auf dem man die Menschen hätte glücklich machen können.
Du verwarfst ihn, aber zum Glück gingst Du fort und übergabst die Arbeit uns. ... Warum also bist Du uns stören gekommen? ...
Entscheide selbst, wer damals [in der Wüste] recht hatte: Du oder jener, der Dich damals befragte?
Erinnere Dich der ersten Frage. Ihr Sinn, wenn auch nicht ihr Wortlaut, war folgender: Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit irgendeiner Freiheitsverheißung, die sie in ihrer Einfalt und angeborenen Zuchtlosigkeit nicht einmal begreifen können, vor der sie sich fürchten und die sie schreckt, - denn für den Menschen und die menschliche Gemeinschaft hat es niemals und nirgends etwas Unerträglicheres gegeben als die Freiheit!
Siehst du dort jene Steine in dieser nackten, glühenden Wüste? Verwandle sie in Brote, und die Menschheit wird Dir wie eine Herde nachlaufen, wie eine dankbare und gehorsame Herde, wenn sie auch ewig zittern wird vor Angst, Du könntest Deine Hand zurückziehen, und Deine Brote würden dann ein Ende nehmen.
Du aber wolltest den Menschen nicht der Freiheit berauben, und Du verschmähtest den Vorschlag, denn was ist das für eine Freiheit, dachtest Du, wenn der Gehorsam mit Broten erkauft wird? Und Deine Antwort war: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein . . . "
Aber weißt Du auch, daß im Namen dieses irdischen Brotes der Geist der Erde sich gegen Dich erheben, mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird.
Eindeutig: dem Großinquisitor geht es bei aller Missionstätigkeit um Erhalt und Ausbau der Macht. Am Effektivsten kann das durch einen blinden Gehorsam möglichst vieler Menschen erreicht werden. Ein strafender Blick, ein schnelles Exempel statuiert wie mit der erneuten Festnahme von Jesus, und die Ordnung muss wieder hergestellt sein so wie auf dem Platz vor der Kirche von Sevilla in Dostojewskis Geschichte. Geschlossene Systeme reagieren nun einmal allergisch auf jedwede Art von Öffnung.
Schon in biblischen Zeiten finden sich erste Tendenzen dazu. Aber bereits Paulus wehrt sich heftig gegen die Anzeichen, wenn er im 5. Kapitel des Galaterbriefes schreibt:
Christus hat uns befreit; er will, dass wir jetzt auch frei bleiben.
Steht also fest und lasst euch nicht wieder ins Sklavenjoch einspannen! (Gal 5,1)
Dennoch gibt es gerade in unserer Zeit - auch ohne Inquisition - immer mehr und neue kirchliche Beispiele, in denen die christliche Freiheit abgebaut wird zugunsten eines Ausbaus der Verfügungsgewalt der vermeintlichen religiösen Schaltzentralen.
Die eher in volkskirchlicher Tradition stehenden Kirchen hat es bisher eher am Rand getroffen. Meist widerwillig und eher aus wirtschaftlichen Not haben sie Programme gekürzt, haben ihre Administration verschlankt und sie mussten bei Entscheidungsprozessen immer mehr Instanzen überspringen oder sogar abschaffen. Damit sind nicht nur Kirche und Demokratie wieder weiter auseinander gerückt, sondern damit wurde auch das Risiko von Fehlentscheidungen wieder größer.
Wesentlich erschreckender ist jedoch, wie viele Evangelisten in Fernsehen und auf Großveranstaltungen bewußt auf die Sevilla Methode setzen, wenn sie ihr Gegenüber auffordern: unterwirf dich und deine Kritikfähigkeit unserer Organisation. Als Lohn wirst du unendlich wachsenden, materiellen Wohlstand erhalten!
Es ist zum Haare raufen, wie viele Millionen Menschen bereit sind, den neuen „prosperity churches" - und damit auch dem Großinquisitor - mit ihrer Freiheit zugleich das Anliegen Jesus Christus in den Rachen zu werfen. Wahrscheinlich unüberlegt und ungewollt bestätigen sie damit dennoch die Menschen verachtende Sicht von Dostojewski's Großinquisitor, der Jesus vorwirft:
Statt Dich der menschlichen Freiheit zu bemächtigen, hast Du sie noch vergrößert, hast Du sie vervielfacht und hast mit ihren Qualen das Seelenreich des Menschen auf ewig belastet.
Dich gelüstete nach der freien Liebe des Menschen, auf daß er Dir frei folge, von Dir [gelockt] und [begeistert]. Statt nach dem festen alten Gesetz, sollte der Mensch hinfort mit freiem Herzen selbst entscheiden, was Gut und was Böse ist, wobei er als einzige Richtschnur nur Dein Vorbild hätte.
Aber hast Du wirklich nicht daran gedacht, daß er schließlich auch Dein Vorbild verwerfen und Deine Wahrheit bestreiten wird, wenn man [den Menschen] mir einer so furchtbaren Last, wie der Freiheit der Wahl, bedrückt?
Das ist eine schallende Ohrfeige für alle, die sich spätestens seit Kant's Zeiten hoffnungsvoll auf den mühevollen Weg einer Befreiung aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit" gemacht haben. Umso erleichterter wird diese Gruppe den Protestaufruf aus dem heutigen Predigttext hören:
[Gebt nicht auf!] „Haltet euch [statt dessen] bereit,     
und laßt eure Lampen nicht verlöschen!"
Denn ganz im Gegensatz zum Großinquisitor, der von ständigem Misstrauen getrieben ist und lieber den Menschen ständig über den Rücken schaut, ob denn auch alles in seinem Sinn gemacht wird, erzählt uns die biblische Geschichte von Gott als einem ungewohnt vertrauensvollen Hausbesitzer, der statt auf Misstrauen auf Vertrauen setzt. Woran das deutlich wird?
Als der Hausbesitzer auf eine Hochzeitsfeier geht, traut er seinen Angestellten zu, dass sie nicht nur verinnerlicht haben, sondern wissen, worauf es ihm ankommt. Selbst dann noch, wenn er länger als erwartet ausbleiben sollte. Der Hausbesitzer baut also auf die Treue der Angestellten.
Aber worum geht es ihm konkret? Dass das Haus in Ordnung gebracht wird, das Geschirr abgewaschen ist, die Kinder im Bett sind?
Alle diese haushaltsinternen Fragen sind Gott als Hausherrn unwichtig, weil Häuser geschlossene Systeme sind. Was ihm unvergleich wichtiger ist, ist wie wir mit anderen Menschen umgehen. In Lukas 12:45 steht deshalb geschrieben, was den Hausherrn ausrasten lässt:
Wenn aber einer der Knecht in seinem Herzen sagt:
Mein Herr kommt noch lange nicht,
und fängt an, die Knechte und Mägde zu schlagen,
auch zu essen und zu trinken und sich vollzusaufen,
dann wird der Herr dieses Knechtes kommen ...  
und wird ihn in Stücke hauen lassen
und wird ihm sein Teil geben bei den Ungläubigen. (Lk 12:45f)
Gott mag es nicht, wenn wir uns zu Herren über andere aufschwingen und es uns auf ihre Kosten gut gehen lassen. Genauso verhasst ist es ihm, wenn Menschen lediglich aus Angst vor Strafe tun, was er will. Er sucht Menschen, die ihm in liebevoller Treue zugetan sind, die aus innerer Einsicht und freien Stücken seinen Willen in die Tat umsetzen.
Ob wir uns im Rückblick auf das alte Jahr dazu im neuen Jahr entschließen können?
Leicht wird es nicht, denn wir haben eine lange Zeit hinter uns, wo im übertragenen Sinn das Schlagen von Mitmenschen Mode war. Bereits vor 20 Jahren textete und komponierte Reinhard Mey deshalb das Lied:
In diesem, unsrem Lande (CD: Balladen, 1988)
Jedesmal, wenn ich die Zeitung aufschlag
haben die Damen und Herren im Bundestag
sich schon wieder mal die Diäten erhöht,
und ich spür, wie ich für sie vor Scham erröt!
Ich seh Familien, wo es vorn und hinten nicht reicht,
seh Opa Bölke, dem man cool das Taschengeld streicht.
Mir gehn die Bilder von Armut nicht aus dem Sinn,
aber die Damen und Herren langen erst mal kräftig hin!
Ist das nicht eine Schande, in diesem, unsrem Lande!
...
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann hör ich wie's Silvester knallt und kracht.
Opa Bölke ist jedesmal zu Tode erschreckt,
sein Bedarf an Knallerei ist in zwei Weltkriegen gedeckt.
Und für das Geld, das man beim letztenmal verballert hat,
kriegst du eine Million Menschen ein Jahr lang satt!
Da kann die Welt verhungern und in Trümmer falln,
das ist uns scheißegal , wir wollen weiterknalln.
Ist das nicht eine Schande, in diesem, unsrem Lande!
9000 km trennen Deutschland und Namibia. Dennoch können wir namibische Lebensumstände in dem Lied wiedererkennen: Das Bruttosozialprodukt steigt und zugleich suchen immer mehr Menschen verzweifelt nach einer gerecht bezahlten Arbeit. Namibia ist mehr als Zuhause, es ist zugleich das Haus, das uns Gott anvertraut hat. Was müssen wir erkennen und tun, damit es dazu wird? Wie können wir 2009 unsere Haushalterschaft ernst nehmen und umsetzen?
Bei der Beantwortung dieser Fragen werden wir den Großinquisitor und seine Kumpanen zum Teufel jagen. Lasst uns lieber einstimmen mit Josua, der in der Qual der Wahl ausrief:
Ich aber und mein Haus wollen dem HERRN dienen. (Jos 24,15)
Bei keinem anderen werden wir einen tiefer gehenden Frieden, eine solch unbeschnittene Freiheit und abgrundtiefes Wohlwollen finden. Amen.



Harald Klöpper
Windhoek
E-Mail: kloepper@chrina.org

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