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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Epiphanias, 11.01.2009

Predigt zu Lukas 2:41-52, verfasst von Jesper Hougaard Larsen

Vor einiger Zeit veröffentlichte der Theologe Jørgen I. Jensen ein Buch mit dem Titel: "Der Ich-Automat". Das Buch ist eine Kritik der Tendenz in unserer Gesellschaft in Richtung von Selbstentwicklung und Selbstinszenierung.

             Das ganz große Mantra unserer Zeit ist das Bewusstsein des Individuums von Kompetenzen. Es beginnt schon in der Vorschulklasse, wo die Kompetenzen der Kinder in einer Art Führungszeugnis, das die Kinder in ihrem weiteren Leben begleitet, aufgezeichnet werden.

             Evaluerierungen auf allen Ebenen begleiten dann die Kinder und jungen Menschen in der Schule. Was willst du? Was kannst du? Wie willst du deine persönlichen Ziele verwirklichen? So lauten die Fragen an die jungen Menschen.

             Und wenn man erwachsen geworden ist, geht es weiter: Eine ununterbrochene Beurteilung, um zu kontrollieren, dass du auch deine Kompetenzen entwickelst.

             Jørgen I. Jensen schreibt, dass diese Entwicklung die Gesellschaft kindlich gemacht habe. Es werde zu einer lebenslänglichen Schulung, allerdings nicht in der Schule des Lebens, sondern in einer Streberschule, einer Curriculumschule - einzig und allein mit dem Ziel, dass man imstande sei, Formularen und Beratern gerecht zu werden.

             Messungen, Tests und Pläne für dich und dein Leben. Eine ewige Schnüffelei im inneren Menschen, die Persönlichkeit unter die Lupe genommen.

             Die Konsequenz dieser Entwicklung sei, sagt Jörgen I. Jensen, dass man Menschen erlebe, die umherliefen und die ganze Zeit über ihre eigene Biographie nuschelten, für den Fall, dass ein Interviewer oder ein Fragebogen vorbeikommen sollte.

             Das Schreckliche dieser Entwicklung sei nicht, dass sich die Aufmerksamkeit auf den einzelnen Menschen richte; es sei ganz in Ordnung, dass man sich seiner selbst und seiner Möglichkeiten bewusst werde.

             Nein, das Schreckliche sei, dass es sich in einem geschlossenen Raum abspiele. Es führe zu einem Ich-Denken ohne ein "Du" und ohne die dritte Instanz, vor der du verantwortlich seist, die Instanz, die wir im Christentum Gott nennen.

             Ohne deinen Nächsten und ohne Gott sei deine persönliche Biographie ein freischwebendes Curriculum Vitae, nämlich dein CV, deine Kompetenzen, dein Profil, deine Karriere, dein Erfolg, deine Entscheidungen, dein Persönlichkeitstyp, deine  Werte, deine Zielsetzungen.

             "Du" besäßest "dich" selbst. Du repräsentiertest die Autobiographie, aber du tätest es, ohne Blick für die Verantwortung, die sich daraus ergebe, dass du ein Mensch bist, der im Bild Gottes geschaffen ist.

             All das, was Jörgen I. Jensen hier kritisiert, kann man die Coaching-Kultur nennen, in der der Einzelne selbst verantwortlich ist, aber nur für sich selbst. Weder die geschichtliche Situation oder der gemeinsame menschliche Zusammenhang von der Vergangenheit über die Gegenwart auf die Zukunft hin bietet in der Coaching-Kultur irgendwelche Hilfe.

             Das scheint kein Platz zu sein für den Gedanken oder den Glauben, etwas Freundliches oder Entgegenkommendes außerhalb des Vorstellungsbereichs des Einzelnen könne zur Aufklärung über das Menschenleben beitragen. - Abgesehen von dem neuen Gott, dem Coach seinerseits.

             Wenn die Autobiographie, die immer zur Weihnachtszeit auf den Bücherhitlisten obenan steht, der Leitstern ist auf Kosten eines anderen Leitsterns, ja, dann wird die absolute Grenze zwischen dem Ich und dem Du verwischt. In der Welt der Kompetenzen ist jeder andere Mensch ein "Ich" wie man selbst auch. Das "Du" als der verpflichtende Mensch, der dein Schicksal ist, gibt es in der Welt der Kompetenzen nicht.

             Alles ruht auf den Schultern des Einzelnen, Hilfe bedeutet nicht mehr, dass man seinem Mitmenschen hilft, sondern Hilfe ist auf Hilfe zur Selbsthilfe reduziert. Und an diesem Punkt spielt der Coach seine Rolle, nicht als der, der dir zur Seite steht, sondern als der, der darauf zeigt, wie du selbst Erfolg haben und deine Ziele erreichen kannst.

             Während das, was von außen kommt, nur Bedeutung hat, insofern es an dem eigenen Lebensprozess des Einzelnen teilnehmen kann.

             Und so gehen Millionen von strebsamen "Ichs" durchs Leben, steif auf ihre eigenen Ziele ausgerichtet. Und sie können aneinander nur das sehen, was zielgerichtet ist.

             Sie sind alle Botschafter ihrer jeweils eigenen Lebensgeschichte, ihrer jeweils eigenen Projekte, ihrer jeweils eigenen Selbstentfaltung und können bei anderen nur das auffassen, was dem entspricht.

             "Ich" plus "ich" gibt indessen nur: "ich" - wohingegen "ich" plus "du" verpflichtet, weil das Ergebnis von "ich" plus "du" eine Öffnung auf die Welt hin ist, weg von dir selbst und hin zu deinem Nächsten.

             Und damit sind wir tief in eine christliche Auffassung vom Menschen eingedrungen. Im Christentum ist das "Du", dem ich begegne, nicht mein Lebensprojekt, nicht eine anderes "Ich", das sich auf das Ergebnis von Tests und Evaluierungen reduzieren lässt.

             Aber dort, wo es um ein "Ich" und "Du" geht, kann sich die Zeit ausweiten und mit neuer Bedeutung kommen, hier können die Perspektiven immer wieder wechseln. Wenn das andere "Ich" zu einem "Du" wird, folgt daraus ganz natürlich eine Verantwortung!

            

Und was hat nun diese Analyse der Rolle des "Ichs" in unserer Gesellschaft mit dem Bericht vom zwölfjährigen Jesus im Tempel zu tun? Mit dem Jungen, Gottes Sohn, den seine Eltern nicht finden können, und der, als sie ihn schließlich finden, wie ein unartiger Straßenjunge aufspielt, der sich den Großen angeschlossen hat.

             Und obendrein besitzt er die Frechheit, seine Eltern zurechtzuweisen, als sie sich besorgt zeigen, weil er so lange weggewesen ist. Und sie sind einem Zusammenbruch nahe gewesen aus Angst, was ihrem Knaben passiert sein könnte.

             Und dann sagt er zu ihnen: "Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich bei meinem Vater sein muss?"

             Das verstanden sie nicht. Welche Eltern wären wohl imstande, ihren Zwölfjährigen zu verstehen, wenn er oder sie voller Besserwissen käme und sagte: "Habt ihr wirklich keine Ahnung! Ich will euch erzählen, wie die Welt zusammenhängt."

             Die meisten Eltern würden sicherlich den jungen Menschen zurechtweisen und um etwas mehr Demut bitten.

             Aber, so wird erzählt, er kam dann doch wieder nach Nazareth und war seinen Eltern gehorsam. - Es scheint hier, als wollte der Evangelist die Wogen glätten und den Ungehorsam irgendwie einpacken und betonen, dass er dennoch ein frommes und artiges Kind sei, das tat, was Vater und Mutter verlangten.

             Aber später in der Erzählung des Evangeliums kommt es nun zu einer heftigen Konfrontation, als Jesus in der Begegnung mit seiner Familie sie wiederum zurechtweist und sie als seine richtige Familie abschreibt.

             Und doch behielt Maria alle Worte Jesu in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und Menschen, erzählt der Evangelist.

             Und dies Letzte über seine Forschritte in Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und Menschen ist entscheidend, und dann kommt die Antwort auf die Frage, die ich vorhin stellte: Was hat die Analyse der Ichkultur in einer Predigt über den zwölfjährigen Jesus zu suchen?

             Es besteht natürlich keine direkte Verbindung, und dennoch! Denn mit den Worten darüber, dass Jesus an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und Menschen zunahm, hat der Evangelist uns einen Schlüssel für die Kritik an einer jeden Zeit gegeben, die die Zusammengehörigkeit des Menschen mit Gott und mit anderen Menschen nicht wünscht oder nicht sehen kann.

             Wenn dieser Jesus für etwas eingetreten ist, dann war es sein unermüdlicher Kampf, den Menschen auf seine Verantwortung für ein verpflichtendes Leben mit Gott und dem Nächsten hinzuweisen.

             Die moderne Coachingkultur ist nicht imstande, einen Zusammenhang mit der Welt und mit anderen Menschen zu sehen, sondern hat den Coach selbst zum Gott gemacht, dessen Botschaft "Hilfe zur Selbsthilfe" ist, so dass du dein erfolgreiches Leben beginnen kannst.

             Es ist allerdings ein anderer Gott, dem wir in Jesus von Nazareth begegnen. Jesus macht durch sein gesamtes Leben und Wirken darauf aufmerksam, dass du eben nichts von dir selbst aus tun kannst, ohne dass du auf etwas Anders oder auf Andere stößt.

             Alles hast du von Gott geschenkt bekommen, auch deinen Nächsten, fern und nah. Jesus vermochte sowohl in seines Vaters Haus als auch nahe bei Menschen zu sein. Er kam nicht um seiner selbst willen in die Welt, sondern er kam um unseretwillen, ja, um uns die Freiheit zu geben, unseren Nächsten lieben zu können.

             In einer christlichen Menschenauffassung ist niemand allein mit der Freude und dem Schmerz. Jedes einzelne "Ich" ist nur ein "Ich" im Verhältnis zu etwas Anderem und einem Dritten, nämlich zu einem "Du" und zu Gott.

             Ja, das Christentum geht sogar so weit, zu behaupten, dass das Verhältnis eines Menschen zu Gott gar nicht denkbar ist außerhalb des Verhältnisses zu dem Nächsten.

             Wir müssen Gott und unsere Mitmenschen einbeziehen, wenn wir versuchen, uns selbst zu finden. Ohne Gott und ohne alle die Anderen, denen wir verpflichtet sind, kreisen wir nur um uns selbst und enden vielleicht mit guten Zensuren und guten Führungszeugnissen.

             Aber wozu sollen wir die gebrauchen, wenn wir nicht sehen, dass manche Menschen nicht mithalten konnten und nicht imstande waren, ihre Autobiographie zu schreiben.

             Gottes Autobiographie handelt von Jesus Christus, der in die Welt kam und eine ewige Verbindung zwischen dem "Ich", dem "Du" und Gott selbst zu stiften. Gottes Autobiographie ist so gut geschrieben und so umfassend, dass sie uns als unsere eigene Geschichte angeboten ist, weil sie auch von uns handelt.

             Und um in der Welt der Mathematik zu schließen: ich + du + Gott = die ewige Antwort des Christentums auf unser Suchen nach Lebenserfüllung. Es ist das Leben, wie es in Glauben, Hoffnung und Liebe stattfinden kann und muss. Amen.



Pastor Jesper Hougaard Larsen
Svendborg (Dänemark)
E-Mail: jhla(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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