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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach dem Christfest, 04.01.2009

Predigt zu Lukas 2:41-52, verfasst von Klaus Bäumlin

 „Und seine Eltern zogen jedes Jahr zum Passafest nach Jerusalem. Auch als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf, wie es an diesem Fest der Brauch war, und verbrachten die Tage dort. Als sie heimkehrten, da blieb der junge Jesus in Jerusalem zurück, und seine Eltern merkten es nicht. Da sie meinten, er befinde sich unter den Reisenden, gingen sie eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück, um ihn zu suchen. Und es geschah nach drei Tagen, dass sie ihn fanden, wie er im Tempel mitten unter den Lehrern sass und ihnen zuhörte und Fragen stellte. Alle aber, die ihn hörten, waren verblüfft über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, waren sie bestürzt, und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sagte zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss? Doch sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er zog mit ihnen hinab, zurück nach Nazaret, und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen."

*

Liebe Gemeinde! Weihnachten liegt hinter uns. Wir haben „die Geschichte, die da geschehen ist", gehört, im Gottesdienst, in Bachs Weihnachtsoratorium vielleicht. Wir haben gehört die Geschichte von der Geburt Jesu, von den Hirten und den Weisen aus dem Morgenland. Nun sind die Hirten wieder bei ihren Schafen und Ziegen, die Weisen auf der Heimreise. Nach dem Lukasevangelium wird das Jesuskind von den Eltern in den Tempel gebracht, um es dem Herrn zu weihen, und der greise Simeon erkennt in dem Kind den Heiland der Welt. Matthäus berichtet, wie Josef und Maria mit dem Kind nach Ägypten fliehen mussten, weil König Herodes dem Kind nach dem Leben trachtete, und wie die Familie nach dem Tod des Herodes ins Land Israel zurückkehrte und sich schliesslich in Nazaret niederliess, wo Josef sich als Bauhandwerker etablierte.

Und dann? Man ist doch gespannt, wie die Geschichte weitergeht! Aber die Evangelien nehmen - mit einer Ausnahme - den Faden erst wieder auf, als der etwa dreissigjährige Jesus zum Jordan kommt, um sich von Johannes taufen zu lassen, um dann mit seinen Jüngern als Wanderprediger in Galiläa und darüber hinaus herumzuziehen, das Reich Gottes zu verkünden, Kranke zu heilen, Niedergedrückte aufzurichten, Hungernde satt zu machen und die Menschen den Weg zum Leben im Einklang mit dem Willen Gottes zu lehren.

Und die Zeit dazwischen, zwischen der Heimkehr der Familie aus Ägypten und dem Auftreten des erwachsenen Jesus? Was für ein Kind war Jesus? Hat er gespielt wie andere Kinder? Wie hielt er es mit seinen Eltern? War er ihnen gehorsam? Hat er dem Vater Josef bei der Arbeit geholfen? Hat er einen Beruf erlernt? Solche Fragen haben die Christen der ersten Jahrhunderte beschäftigt. Und so kamen allerlei Legenden in Umlauf, die dann im 2. Jahrhundert zu Sammlungen zusammengestellt wurden. Es sind seltsame Episoden, die da von dem Kind Jesus erzählt werden. Der Kleine verflucht andere Kinder, die ihn ärgern, so dass sie tot umfallen. Andererseits weckt er Tote zum Leben auf und bewirkt sensationelle Wunder, lässt aus Lehm geformte Vögel lebendig werden und davonfliegen oder verzaubert ein zu kurz geratenes Holzbrett auf die erforderliche Länge, und dergleichen Mirakel mehr. Ausserdem beschämt er seine Lehrer durch seine überlegende Weisheit und sein stupendes Wissen.

Der Evangelist Lukas füllt die Lücke mit der einzigen kurzen Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Und die ist von ganz anderem Zuschnitt als die späteren Wunderlegenden. In ihr geht es nicht um spektakuläre Wundertaten; sie stellt Jesus nicht dar als frühreifes Wunderkind, als sozusagen theologisches Wunderkind. Sie will etwas darüber aussagen, wer Jesus ist und von wo er kommt.

Als erstes betont die Geschichte: Jesus ist das Kind jüdischer Eltern. Sie wallfahrten wie alle gottesfürchtigen Juden zum Passafest nach Jerusalem, und sie nehmen, vielleicht zum ersten Mal, den Zwölfjährigen mit auf die Reise. Von da an, so darf man voraussetzen, wird Jesus jedes Jahr zum Passa nach Jerusalem gehen. Er sieht sich als Glied seiner jüdischen Glaubensgemeinschaft. Er nimmt teil an ihrem Gottesdienst; ihr Glaubensbekenntnis ist auch das seine. Ungefähr 20 Jahre später wird er wieder am Passafest in Jerusalem sein und im Tempel lehren. Dort wird sich sein Geschick erfüllen.

Als die Eltern zur Heimreise aufbrechen, bleibt der Zwölfjährige im Tempel zurück, ohne dass die Eltern es zunächst bemerken. Man reist ja in einer grossen Gruppe von Freunden und Bekannten nach Galiläa heim;  Josef und Maria haben wohl ihr Kind in Gesellschaft von Gleichaltrigen vermutet. Erst als sie es unter den Mitreisenden nicht finden, kehren sie nach Jerusalem zurück, um es zu suchen. Nach drei Tagen finden sie Jesus, „wie er im Tempel mitten unter den Lehrern sass und ihnen zuhörte und Fragen stellte. Alle aber, die ihn hörten, waren verblüfft über seinen Verstand und seine Antworten".

Woher hat der Zwölfjährige diesen Verstand? Weshalb kann er den Schriftgelehrten Fragen stellen und Antworten geben, die alle verblüffen? Hat er denn schon so viel gelernt? Ich denke, Lukas will etwas anderes sagen, dasselbe, was auch Johannes am Anfang seines Evangeliums schreibt: „Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, wie sie der Einziggeborene vom Vater hat, voller Gnade und Wahrheit." In Jesus ist das schöpferische Wort Gottes, das Wort, das im Anfang war, das Wort, durch das alles erschaffen ist und lebt, Fleisch, Mensch geworden - „mitten unter uns". So hören die, die zuhören, in der Stimme des Kindes, in seinen Fragen und Antworten, die Stimme Gottes, das authentische Wort Gottes. Der Sohn, der vom Vater im Himmel her kommt, legt die Heilige Schrift so aus, wie der Vater sie versteht. Am Schluss der sogenannten Bergpredigt heisst es, die Leute seien überwältigt gewesen von der Lehre Jesu, „denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten" (Mt 7,28). Etwas Ähnliches müssen die Leute gespürt haben, die dem Zwölfjährigen im Tempel zuhörten.

Dabei will ich gar nicht in Abrede stellen, dass die von Lukas geschilderte Szene auch eine menschlich tief berührende Seite hat. Ich stelle mir vor, dass auf dem Gesicht des Kindes, das schon kein Kind mehr war, ein Glanz von Wahrheit und Gnade leuchtete, die Freundlichkeit Gottes aufstrahlte, „lieblich, freundlich, schön und prächtig, gross und mächtig, reich an Gaben, hoch und wunderbar erhaben", wie es in dem Lied „Wie schön leucht' uns der Morgenstern" heisst.

Ob Maria und Josef etwas von diesem Glanz gesehen haben? Vielleicht waren die ausgestandene Angst um ihr verloren geglaubtes Kind und der Ärger über sein Verhalten zu gross: „Kind, warum hast du uns das angetan? Dein Vater und deine Mutter haben dich mit Schmerzen gesucht." Maria wird auch später den Weg, den ihr Sohn gehen wird, nicht verstehen, und sie wird seinetwegen noch viel grössere Schmerzen und Trauer erleiden.

„Und er sagte zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?" Es ist das allererste Mal im Lukasevangelium, wo wir Jesus in direkter Rede sprechen hören. Und dieses erste Wort gilt dem Vater - nicht dem Josef, sondern dem Vater im Himmel. Von ihm kommt Jesus, zu ihm gehört er, seinen Willen zu erfüllen, ist er in die Welt gekommen. Das Haus des Vaters ist auch sein Zuhause. Doch die Eltern verstehen nicht, was Jesus meint. Dabei sind es doch gerade sie, die ihn nach Jerusalem und in den Tempel mitgenommen, ihn dorthin  geführt haben, wo er hingehört. Nun ist es ja nicht so, dass Jesus sein ganzes weiteres Leben im Tempel zugebracht hätte; er ist ja schliesslich nicht Priester geworden. „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, das meinem Vater gehört?" Es geht um mehr als um den Tempel. Etwa zwanzig Jahre später wird Jesus wieder in diesem Haus, im Tempel, sein, und wird die Händler und Geldwechsler hinausjagen. „Mein Haus soll ein Haus des Gebets sein, ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht", wird er ihnen sagen. Und er hat voraus gesehen, dass der Tempel in Jerusalem eines Tages nicht mehr stehen wird. „Ich muss im Haus meines Vaters sein" - das meint: Jesus muss dort sein, wo sein Vater ihn haben will. Das ist sein Müssen; und dieses Müssen bestimmt seinen ganzen Lebensweg. Es ist der Weg zu den Kleinen, Kranken, Verachteten, zu den Sündern, weil der Vater im Himmel dort sein Haus hat; es ist der Weg, der ihn in den Konflikt führt mit den Machthabern seiner Zeit; der Weg, der ihn ins Leiden und an das Kreuz führt. Ich denke, der Zwölfjährige sieht diesen Weg vor sich. Dass die Eltern das nicht verstehen können, ist begreiflich. Aber es ehrt die Mutter, dass sie seine Worte, obwohl sie sie noch nicht verstehen kann, in ihrem Herzen behält und ihnen nachsinnt, dass die Worte Jesu von seinem Müssen ihr nicht mehr aus dem Herzen und den Sinnen gehen.

Doch die Zeit, wo Jesus seinen Weg gehen muss und gehen wird, ist noch nicht da.

Jetzt kehrt er vorerst heim ins Elternhaus. „Und er zog mit ihnen hinab, zurück nach Nazaret, und war ihnen gehorsam." Das vornehmste Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft", es steht für ihn nicht im Widerspruch zum fünften Gebot: „Ehre Vater und Mutter". Aber die Zeit wird kommen, wo Jesus seinen Weg gehen wird; er wird ihn aus dem Elternhaus und aus Nazaret hinausführen, aus der kleinen Familie zur grossen Menschenfamilie, der Gottes Erbarmen gilt.

Liebe Gemeinde! Der zwölfjährige Jesus - ein frühreifes Wunderkind? Nein, wohl aber das Wunder von Gottes Zuwendung zu den Menschen, von seiner Gegenwart in einem Menschenkind: „Wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, wie sie der Einziggeborene vom Vater hat, voller Gnade und Wahrheit."

Amen.



Pfarrer Klaus Bäumlin

E-Mail: klaus.baeumlin@bluewin.ch

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