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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag nach Epiphanias, 01.02.2009

Predigt zu Matthäus 17:1-9, verfasst von Stefan Kläs

Hinweis: Die Predigt nimmt Bezug auf das Bild „Die Verklärung Christi" (1520) von Raphael, das in den Vatikanischen Museen in Rom zu sehen ist.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/51/Transfiguration_Raphael.jpg

 

Liebe Gemeinde!

Wann haben sie zum letzten Mal etwas erlebt, was so schön oder bewegend war, dass es ihnen buchstäblich den Atem verschlagen hat? Es gibt ja solche Erfahrungen, die über das Alltagsbewusstsein hinausreichen. Erfahrungen, die sich ins Gedächtnis brennen und vielleicht sogar ein Leben verändern können. „Gipfelerfahrungen" (Stanislav Grof) werden sie mitunter genannt. Und das kann man durchaus wörtlich verstehen. Ich werde nie den Morgen des 2. Januar 2009 vergessen. Mit Freunden war ich unterwegs zum Säntis. Noch bis hinter Urnäsch herrschte im Auto die Meinung vor: Das bringt heute nichts. Bei dem Nebel sieht man ja doch nichts. Erst auf der Schwägalp lichtete sich der Nebel etwas. Und als wir dann auf dem Gipfel standen: Nie werde ich die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht vergessen, trotz zehn Minusgraden. Absolut atemberaubend war der Blick. Noch in der Ferne gleissten die Gipfel ganz klar im hellen Sonnenlicht. Das war mit einem Mal ein ganz anderer Tag, ja eine ganz andere Welt, die sich da vor mir ausbreitete. Wie ein weit hinter mir liegender Alptraum schien mir die Nebelwelt der Ebene.

Eine „Gipfelerfahrung" machen auch Jesus und seine Jünger. Das Matthäusevangelium berichtet uns davon im 17. Kapitel. Dort wird erzählt:

1 Nach sechs Tagen nimmt Jesus den Petrus, den Jakobus und dessen Bruder Johannes mit und führt sie abseits auf einen hohen Berg. 2 Da wurde er vor ihren Augen verwandelt, und sein Angesicht strahlte wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiss wie das Licht. 3 Und siehe da: Es erschienen ihnen Mose und Elija, und sie redeten mit ihm. 4 Da ergriff Petrus das Wort und sagte zu Jesus: Herr, es ist schön, dass wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija.

5 Während er noch redete, da warf eine lichte Wolke ihren Schatten auf sie, und eine Stimme sprach aus der Wolke: Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Auf ihn sollt ihr hören! 6 Als die Jünger das hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr. 7 Da trat Jesus zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht! 8 Als sie wieder aufblickten, sahen sie niemanden mehr ausser Jesus. 9 Während sie vom Berg hinunterstiegen, gebot ihnen Jesus: Sagt niemandem, was ihr gesehen habt, bis der Menschensohn von den Toten auferweckt worden ist.

Jesus und die Jünger machen eine „Gipfelerfahrung", eine Erfahrung, die über das alltägliche Bewusstsein hinausreicht. Und auch diese Erfahrung hat mit einem Berg zu tun. Seit jeher hat sie die Künstler beschäftigt. So auch den Renaissancemaler Raphael. Auf der Vorderseite ihres Programms finden sie sein Bild „Die Verklärung Christi". In diesem Bild, seinem letzten Meisterwerk, das der Maler vor seinem frühen Tod im Jahr 1520 malte, versucht Raphael, eine Summe der christlichen Offenbarung darzustellen. Jesus geht mit seinen Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes auf einen hohen Berg. Die anderen neun Jünger bleiben am Fuss des Berges zurück. Sie sind unten auf der linken Bildhälfte zu erkennen. Davon, was sie dort unten machen, wird später noch zu reden sein. Derweil spielen sich oben auf dem Berg aussergewöhnliche Dinge ab. Jesus wird vor ihren Augen verwandelt. Sein Gesicht strahlt hell wie die Sonne, und seine Kleider werden weiss wie das Licht. Raphael steigert das Ereignis noch. Er lässt Jesus schweben. Jesus hebt buchstäblich ab, verliert sozusagen den Boden unter den Füssen. Und neben ihm erscheinen die beiden vielleicht wichtigsten Figuren der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel: Links Mose mit den beiden Gesetzestafeln in seinen Armen und rechts Elija mit seinem Prophetenbuch. Auch sie schweben über dem Boden. Wie Jesus sind sie nicht mehr an die Erde gefesselt, sind dem Himmel näher als die anderen Menschen. Elija, der Kämpfer für die Verehrung des einen Gottes, neben dem es keine anderen Götter gibt, und Mose, der den Willen dieses einen Gottes empfangen und in Stein gehauen hat. Hier findet ein Gipfeltreffen der wichtigsten Gestalten der Gottesgeschichte statt. Und was machen die Jünger, was machen Petrus, Jakobus und Johannes? Sie sind auf dem Gipfel des Berges unterhalb der drei schwebenden Gestalten zu sehen: Jakobus, auf der linken Seite, beugt sich vornüber und sucht offensichtlich Schutz hinter dem Rücken von Petrus, beide Hände hat er vors Gesicht geschlagen, vielleicht vor Angst. Und auch Johannes, auf der rechten Seite, mag seinen Blick nicht heben. Möglicherweise scheut er sich, wirklich hinzuschauen, und das Erlebnis voll auf sich wirken zu lassen. Einzig und allein Petrus, der ja immer wieder durch eine gewisse Kühnheit im Evangelium auf sich aufmerksam macht, schaut hin und sagt einen Satz, den ich in seiner ganzen Schlichtheit überwältigend finde: „Herr, es ist schön, dass wir hier sind." - „Herr, es ist schön, dass wir hier sind", das heisst zunächst einmal: Schön, hier gefällt es mir. Diese Welt hier oben auf dem Berg, eine Welt voller Licht und Wärme, zusammen mit den wichtigsten Menschen meines Lebens, da fühle ich mich gut. Hier möchte ich bleiben. Petrus geniesst das Leben auf dem Gipfel in vollen Zügen. Er kann sich dieser Erfahrung ganz öffnen. Und so möchte er verständlicherweise auch dableiben und macht Jesus einen Vorschlag: „Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija."

Petrus möchte auf dem Gipfel bleiben. Er geniesst diesen Moment: „O Augenblick verweile, denn du bist so schön" (Goethe: Faust). Er möchte, dass dieser Augenblick niemals zu Ende geht. Ich kann ihn verstehen. Wer möchte das nicht, die Momente des Glücks und der Lust, das Gute und Schöne festhalten? Doch immer auf dem Gipfel bleiben, das geht nicht. Es ist eine alte Erfahrung der Berggänger: Die Wanderung hat auf dem Gipfel ihren Höhepunkt, aber nicht ihr Ende. Man muss auch wieder heil ins Tal kommen, sonst wird man irgendwann von Kälte und Dunkelheit überrascht. Diesen Abstieg ins Tal fürchtet nicht nur Petrus. Auch viele Menschen heute wollen am liebsten für immer auf dem Gipfel bleiben. Droht doch beim Abstieg oft auch der Absturz. Der Absturz in eine Welt, die immer mehr zu einem stahlharten Gehäuse von Zwecken und Aufgaben geworden ist (Max Weber). Menschliches Leben ist heute in einem nie gekannten Ausmass der Kalkulation von Kosten und Nutzen unterworfen. „Leistung muss sich wieder lohnen", die Kehrseite dieses Satzes heisst doch auch: Wer nichts leistet, der lohnt sich nicht für eine Gesellschaft, die besser als andere das Rechnen gelernt hat. Zweckfreies und spielerisches Dasein wird auf den Privatbereich beschränkt, der schon alleine zeitlich immer mehr eingeschränkt wird. Kein Wunder, dass die Jagd nach „Gipfelerfahrungen" im Leben von Menschen einen grossen Raum einnimmt. Wer kann und will schon nur nützlich sein oder nur Nützliches tun? Wir brauchen auch Orte und Zeiten, an denen wir den Alltag hinter uns lassen und das Staunen über das Wunder des Lebens neu lernen können. „Es ist schön, dass wir hier sind." Spätestens wenn uns zu diesem Satz keine eigene Erfahrung mehr einfällt, wenn wir uns an nichts mehr erinnern können, was diesen Satz in uns auslösen würde, dann ist es höchste Zeit wieder auf die Suche zu gehen nach neuen „Gipfelerfahrungen". Und dann ist es gut, wenn wir Zugang zu solchen Erfahrungen haben, ohne uns oder andere dabei zu schädigen. Dass immer mehr Jugendliche ihren tristen Alltag nur noch vergessen können, indem sie sich regelmässig bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, sagt mehr über unsere Gesellschaft als Ganze aus als über die Jugendlichen, die so handeln. Unter der Woche funktionieren und sich am Wochenende betäuben, darin liegt viel Hilflosigkeit im Umgang mit dem eigenen Leben. Offensichtlich gelingt es uns immer weniger, Menschen, speziell jungen Menschen, Entlastung von bedrückenden Alltagserfahrungen zu geben, und zwar in Formen, die die Persönlichkeit des einzelnen fördern und zugleich gemeinschaftsbildend sind. Gibt es zum Beispiel hier in Bürglen oder Istighofen Orte, wo Jugendliche sinnvoll ihre Freizeit verbringen können, selbst verantwortet und kreativ? Und werden diese Orte angemessen gefördert? Auch das sind Fragen, die sich für mich mit der Suche nach „Gipfelerfahrungen" verbinden.

Die Wanderung hat auf dem Gipfel ihren Höhepunkt, aber nicht ihr Ende, das muss auch Petrus erfahren. Die Erscheinung auf dem Berg hat ein abruptes Ende, und die Stimme Gottes aus dem Himmel weist Petrus und die anderen Jünger auf das hin, was jetzt zu tun ist: Auf Jesus sollt ihr hören, ihm sollt ihr nachfolgen, seinem Beispiel im Alltag, in der Ebene nacheifern. Wir brauchen den Gipfel, die aussergewöhnlichen Erfahrungen, und wir brauchen die Ebene, die Bewährung und das verantwortliche Leben im Alltag. Beide Dimensionen des Lebens gehören zusammen. Halbiert man das Leben, dann wird es entweder illusionär oder freud- und kraftlos. Sich nur auf den Gipfeln des Lebens bewegen zu wollen, von einem Kick zum nächsten, von einem Event zum nächsten, das ist illusionär. Doch die Mühen der Ebene werden wir ohne echte „Gipfelerfahrungen" kaum bewältigen können. Die neun Jünger, die am Fuss des Berges bleiben mussten, erleben das auf dramatische Weise. Werfen sie noch einmal einen Blick auf die untere Hälfte des Bildes von Raphael. Rechts sehen sie eine Familie, die einen besessenen Knaben zu den Jüngern bringt. Sie bitten die Jünger um Hilfe, sie wollen, dass ihr Junge geheilt wird. Doch die Jünger vermögen nicht zu helfen. Ihnen fehlt dafür eine Voraussetzung. Ihnen fehlt der Kontakt mit der schöpferischen Kraft Gottes, ihnen fehlt der Glaube an Gottes heilsames Wirken in der Welt, und darum sind auch sie „hilflose Helfer" (Schmidbauer).

Wenn es also stimmt, liebe Gemeinde, dass beide Dimensionen zum Leben dazugehören, die „Gipfelerfahrungen" und die „Mühen der Ebene", was bedeutet das für unsere Gemeinschaft als Kirchgemeinde? Ich höre in dieser Geschichte den Auftrag, unsere Gottesdienste so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen sagen können: „Herr, es ist schön, dass wir hier sind." Und in diesem kurzen Satz hängt alles an dieser Anrede „Herr" für Jesus Christus. Es reicht nicht, wenn wir einfach versuchen, es uns irgendwie miteinander nett zu machen. Das wird uns auch gar nicht gelingen, so unterschiedlich wie wir alle sind. Es kommt vielmehr darauf an, Kontakt mit Gott zu erfahren im gemeinsamen Feiern, im Hören und Reden, im Singen und Beten. Das ist der Gipfel, auf den wir bei jedem Gottesdienst hier miteinander gehen dürfen. Und die Wege dorthin können wir nur gemeinsam erkunden. Und das andere sind die Mühen der Ebene, für die wir auf dem Gipfel Kraft tanken. Kraft für ein Leben in der Nachfolge, Kraft für den Dienst an den Menschen.

Amen.



Pfarrer Stefan Kläs
Bürglen (Schweiz)
E-Mail: stefan.klaes@ev-kirche-buerglen.ch

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