I
Nun komm, laß uns gehen ! Du hast das Fürchten gelernt , nun lerne den Glauben. Du hast nichts zu sagen ... nun komm : aus der Stummheit wird Schweigen , Schweigen , das IHM Raum gibt : ‚Er ist auferstanden. Er ist nicht hier'.
II
Warum ? so fragte , liebe Gemeinde, ein ganzes Land nach dem Amoklauf von Winnenden. Während die Betroffenen , Eltern , Freunde und Mitschüler der Opfer , sich vor den Fragen und Nachstellungen der Medien schützen mussten, stürzten sich die großen Erklärer auf das furchtbare Ereignis. ‚Warum?' - ‚Darum!'. Nein ! In einer Fernsehsendung* sprach der Leiter der Nachbarschule der Albertville-Realschule es aus : Unser ‚Warum' hat kein Fragezeichen , sondern gleichsam als Schutz ein Ausrufezeichen : Warum! Es gibt Fragen , auf die darf es keine Antworten geben. Sie wären eine Beleidigung der Opfer. ‚Warum!' - Der Tod dieser Kinder, der Freunde, der Mitschüler wird eine offene Wunde bleiben.
III
‚Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich'. Dies, liebe Gemeinde, ist der letzte Satz des markinischen Osterevangeliums , und Sie werden vielleicht eine ähnliche Frage haben wie ich : Wird hier unsere Ostererwartung nicht gründlich enttäuscht? . Er ist auferstanden. Er ist nicht hier' : Sollte diese Botschaft des Engels nicht ein freudiges Halleluja oder zumindest eine stille, aber doch gehaltene Freude zur Folge haben? Die Frauen waren gekommen , den Leib Jesu zu salben , ganz in der Ordnung ihrer Trauer , und es ist , als sei diese Trauerordnung , das Gerüst der Schmerzen, wie mit einem weiteren unbarmherzigen Schlag umgestoßen worden : ‚Er ist nicht hier.' Der lebendige Jesus war ihnen genommen , und nun war ihnen soz. auch der Leichnam entzogen : ortlose Trauer.
IV
Man hat sich immer wieder gefragt , warum das älteste Evangelium seinen Osterbericht und darin das ganze Buch auf diese Weise beschließt : Entsetzte, sprachlose , gehemmte Zeuginnen des leeren Grabes. Auch Markus hätte wohl mehr von Ostern zu erzählen gehabt , und spätere Zeiten ergänzten sein Buch um andere Berichte . Das kann man verstehen : Wir als Leser , die wir die Passionserzählung durchschritten haben, freuen uns auf die Ostereignisse, auf den Sieg des Gekreuzigten , auf die ‚Lösung' ;aber diese kommt gleichsam als ‚Leerstelle', als Sprachlosigkeit zu uns, und der Neunmalkluge denkt : Ja, wenn die Frauen niemandem etwas sagten, wie ist dann die Osterbotschaft überhaupt in die Welt gekommen ?
Ich denke, man muß zunächst dem Markus folgen , diese Leere aushalten und ebenso mit einem Ausrufezeichen , einem Schutzzeichen, versehen : Ostern ist kein demonstrierbares Mirakel, das die einen vehement verteidigen und die anderen bestreiten könnten. Es ist und bleibt ein unverrechenbares , schockierendes , ja: verwundendes Geheimnis , was Gott an dem Gekreuzigten getan hat. Es ist das Geheimnis seiner Schöpferkraft , die Macht der Liebe des Vaters zum Sohne , die vor uns und unabhängig von uns da ist :'. Er ist auferstanden.Er ist nicht hier'. Dieser Engelssatz formuliert eine gewaltige , furchtbare Trennung . Er läßt etwas zerspringen , um doch im gleichen Augenblick eine große Hoffnung freizugeben.
Aber das verstehe einer .
V
‚Nein !' mitten in der Fernsehsendung sprach der Schulleiter es aus : Unser ‚Warum' hat ein Ausrufezeichen. Es gibt Fragen , auf die gibt es nicht nur keine Antwort , auf die darf es keine Antworten geben. Gewiß , liebe Gemeinde , der Verstand will sein Recht und Distanz gewinnen; er fragt, sucht Gründe , will zu - und einordnen :'Darum ist das so' . Die Trauernden von Winnenden tragen miteinander ein anderes ‚Warum' aus . Jenes nach Scgutz suchende Warum , in dem der ganzen Sinnlosigkeit , ja : widergöttlichen Dämonie dessen, was geschehen ist , Raum gegeben werden kann. ‚Es ist nichts mehr so ,wie es einmal war', wie der Bundespräsident anlässlich der Trauerfeier sagte . Wir Außenstehenden haben mit dem Fernsehen , mit öffentlichen Reden und Gebeten sozusagen konventionell, betroffen und ratlos, solidarisch, Abschied genommen. Für die aber , die wirklich betroffen sind, wird jetzt die Trauer erst richtig kommen. ‚Er ist nicht hier', sagt der Engel. ‚Ich will , dass du anrufst und sagst : Hallo, mir geht es gut. Aber das wird nicht mehr sein', so hieß es in einer der geschriebenen Botschaften vor der Albertville -Schule . ‚Aber das wird nicht mehr sein' - ‚nicht', ‚nicht mehr' - wer kann den Raum dieser Worte durchschreiten?
VI
Nun komm, laß uns gehen... du hast das Fürchten gelernt , das echte, das furchtbare Fürchten , du hast auf den ‚Grund des Todes'** gesehen - nun lerne den Glauben. Aus der Stummheit wird Schweigen. Schweigen, das IHM Raum gibt , das IHN ankommen , ja: wiederkommen lässt.
VII
‚Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich'. Der Evangelist mutet uns als seinen Lesern , uns , die wir doch auf der Suche nach unserem Halleluja sind, es zu : den Raum dieser Furcht wenigstens aus der Ferne mit zu durchschreiten und darin etwas zu lernen , was zum Glauben dazu gehört : Das Osterereignis ,Gottes Handeln an dem Gekreuzigten, die Tat seiner Liebe, gibt uns Jesus nicht einfach zurück und machte damit die Trauer überflüssig. Es nimmt ihn uns gleichsam ein zweites Mal und das Ent-setzende dieses Gotteshandelns , dieses Zerspringen unserer Erwartungen und Wünsche , stellt uns erst vor die Frage , die wohl jeder Trauernde kennt : Wird aus meiner Stummheit ein Schweigen , in dem ich hören und im Hören wieder sprechen lerne? Es gibt Menschen , die haben das Gefühl, es niemals zu schaffen, deren Trauer tief und tiefer wird, und die sich selbst den Tod wünschen .Und dann gibt es solche , deren Leben jetzt , da alles verloren ist, doch einer neuen Hoffnung inne wird ; Menschen, deren Verwundung und Erstarrung verwandelt wird zu einem neuen Aufbruch : Im Trennenden zeigt sich zugleich ein Verbindendes.
Auch das gehört ja zur Nachricht des Engels : ‚Er wird vor euch hingehen nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen'. Das österliche Halleluja kommt verzögert oder nachträglich, ‚wie ein Fest nach langer Trauer', ‚wie eine Klage, die in einen Reigen verwandelt wurde'. Darf ich sagen : Wer sich in der Trauer um den Gekreuzigten ein zweites Mal entsetzen lässt, wer diesen Entzug des Christusleibes annimmt, dem schenkt Gott einen Weg , der zum Anfang zurückführt , zu einem wirklichen Anfang ? ‚Galiläa' wäre gleichsam der geographische Name für jenes Wunder , jenes Ausrufe- oder Schutzzeichen : Im Zerspringen entsteht etwas Neues. Geht zurück an den Anfang , dorthin, wo ER einst begann. Geht in die Dörfer und Städte , geht zu den Menschen am See, sucht die Einsamkeit ; brecht das Brot , heilt die Kranken und die Sprachlosen. In der Bewegung wird die Osterangst abgelaufen oder besser gesagt : SEINE Stimme wird für dich hörbar, und dann ist aus deiner Sprachlosigkeit - Glauben geworden.
IX
Warum! Es gibt Fragen , auf die darf es keine Antworten geben. ER selbst , Christus Jesus, wäre , nein : ist die Antwort. Halleluja. ‚Er ist nicht hier. Er ist auferstanden.' Halleluja.
* ‚Anne Will'(ARD) , Sendung vom 15.März O9
** Lothar Steiger , Erzählter Glaube. Die Evangelien, 1978 , S. 59