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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Kantate, 10.05.2009

Predigt zu Matthäus 11:25-30, verfasst von Hans Joachim Schliep

25In jenen Tagen ergriff Jesus das Wort und sprach: »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, es Einfältigen aber offenbart hast. 26Ja, Vater, so hat es dir gefallen.
27Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn außer der Vater, und niemand kennt den Vater außer der Sohn und der, dem der Sohn es offenbaren will.
28Kommt zu mir, all ihr Geplagten und Beladenen: Ich will euch erquicken. 29Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin sanft und demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. 30Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht.« [Mt 11,25-30 - Zürcher 2007]

Liebe Gemeinde!
  
Der erste Morgen nach der Operation. Die Schmerzen, die mich in der Nacht noch quälten, haben nachgelassen. Die Sonne leuchtet mir ins Gesicht. Die Krankenschwester hat, von mir unbemerkt, die Vorhänge weggezogen: „Guten Morgen!" Spontan antworte ich: „All Morgen ist ganz frisch und neu / des Herren Gnad und große Treu; / sie hat kein End den langen Tag, / drauf jeder sich verlassen mag." (EG 440,1) Die Krankenschwester stutzt, mein Zimmernachbar blickt erstaunt zu mir herüber. Er geht ins Bad, die Schwester misst meinen Blutdruck und meinen Puls. Das Übliche im Krankenhaus.
  
Am nächsten Morgen wiederholt sich das Geschehen. Fast. Denn ich antworte nur mit „Guten Morgen!" Da erzählt mir die Krankenschwester, seit ihrer Jugendzeit spiele sie in einem kirchlichen Posaunenchor. Den Chorleiter kenne ich sogar; sie will ihn grüßen. Beim Frühstück vertraut mein Zimmernachbar, sehr viel schwerer erkrankt als ich, mir an, sein Sohn werde am 10. Mai konfirmiert. Dann wolle er auf jeden Fall „wieder ganz auf den Beinen sein". Er gehe zwar selten zur Kirche, freue sich aber auf die Musik. Er spiele Flügelhorn in der Feuerwehrkapelle. Im letzten Jahr haben sie sogar in einem Gottesdienst in der Dorfkirche mitgewirkt. „Konfirmation am 10. Mai? Das ist ja am Sonntag Kantate!", bemerke ich.
  
„All Morgen ist ganz frisch und neu...". In einem Krankenzimmer kommen drei Menschen, die sich weder vorher gesehen haben noch später einmal wiedersehen werden, über die Musik, die Kirchenmusik ins Gespräch. Ihr gemeinsamer christlicher Lebenshintergrund wird erkennbar. Sie entdecken Verbindendes. Auch darin drückt sich für mich etwas „Einfältiges" aus, etwas Einfaches, Unvorhersehbares, weder herstellbar noch steuerbar, wirksam aus sich selbst heraus. Als ich - es wird nun mit Macht und endlich Frühling - darüber nachdenke, fällt mir die Strophe von Josef von Eichendorff ein: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / die da träumen fort und fort, / und die Welt hebt an zu singen, / triffst du nur das Zauberwort."
  
Es ist mir viel zu unterkühlt ausgedrückt, wenn unser Predigttext zum Sonntag Kantate 2009 mit den Worten beginnt:
In jenen Tagen ergriff Jesus das Wort und sprach... Jesus wird laut gejubelt haben. Mit einer Leidenschaft, der man abspürt, wie sein Herz seine Stimme zum Schwingen bringt. Jesus wird selbst gesungen, gejauchzt haben wie die Einfältigen. Wie die, die sonst keinen Ton herausbringen und keinen Text kennen, auf einmal aber die Stimme erheben. Wie die - nach Luther - Unmündigen: deren Sprache noch das unverständliche Lallen und Stammeln ist, die einfach Freude an Tönen und Klängen haben, jenseits aller Harmonielehre. Wie die auch, die man entmündigt oder denen man den Mund verboten hat, die nun aber das Maul aufreißen. Auch wie die, die den Verstand verloren haben und die niemand mehr hören will.
  
Gerade mit denen, gerade für die erhebt Jesus seine Stimme - singt sein Lied nach Psalm 8 Vers 3:
Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge hast du ein Bollwerk errichtet deiner Widersacher wegen, um ein Ende zu bereiten dem Feind und dem Rachgierigen. Das ist dann, als Protestlied gegen die, die alle Macht und Mittel an sich reißen, doch noch etwas anderes als das Eichendorffsche „Lied", das „schläft in allen Dingen", so sehr es auch diesem sein Recht lässt. Also ist im Lobpreis Jesu mein kleines Danklied im Krankenzimmer gut aufgehoben, aber sein Jubelruf ist mehr, viel mehr.
  
Warum gibt es heute kaum noch Protestlieder? Sollte etwa die Welt gerechter geworden sein? Machen wir uns bitte nichts vor: Diejenigen Banker, die sich als „The Masters of the Universe" aufgespielt und Billionenwerte verspielt, verzockt haben, haben uns in eine globale Krise gestürzt, deren Ausmaße noch gar nicht erkannt ist. Was wird am Ende noch sein wie vorher? Dürften wir überhaupt weitermachen wie bisher?
  
Schon jetzt legen sich noch längere Schatten auf die Menschen, denen wir in der Welt der Reichen ohnehin keinen Platz an der Sonne zugebilligt haben. Nahezu 900 Millionen haben bereits hungern müssen, 90 Millionen sind jetzt hinzugekommen. Die
Einfältigen - das sind auch die Abgehängten, die Deklassierten.
  
Martin Luther hat in seiner letzter Predigt am 15. Februar 1546, wenige Tage vor seinem Tod - früher war ja unser Kantate- ein Epiphaniastext - in scharfer, mich an zornige alte Männer erinnernder Weise den Übermut aller, die sich klug und weise dünken, die sich als große Herren aufspielen, ja, man muss schon sagen: gebrandmarkt.
  
Er beschreibt sie - und nimmt keinen Menschen davon aus - als Leute, die alles, was Gott tut oder macht, meinen verbessern zu müssen und zu können. Statt in die Schule Gottes zu gehen, wollen sie Gott zu ihrem Schüler machen: „Dass also kein ärmer, geringer, verächtlicher Discipel nicht ist auf Erden als Gott, er muss aller Jünger sein, jedermann will sein Schulmeister und Praeceptor sein" (WA 51,188).
  
Jesus singt ein anderes, ein neues, ein besseres Lied.
In jenen Tagen nimmt den Beginn des 11. Kapitels des Matthäusevangeliums auf. Dort fragt Johannes der Täufer aus dem Gefängnis heraus, ob denn in dem Zimmermannssohn aus Nazareth nun der Messias gekommen sei. Jesus antwortet mit dem, was zu hören und sehen ist: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören und Tote werden auferweckt, und Armen wird das Evangelium verkündigt; und selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt. (Mt 11,4-6)
  
Also ist Jesu Jubelruf ein messianisches Lied. Ein Lied von einer Welt, die anders sein kann. Er selbst hört schon die Musik aus dem Festsaal, dem Festsaal des Gottesreichs, in dem Friede und Gerechtigkeit die Welt regieren - und singt und spielt auf zum Tanz! Er kann aber auch plötzlich sein Spiel unterbrechen, wie die Weherufe in Matthäus 11 zeigen. Doch jetzt nimmt er es wieder auf, spielt er weiter:
Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde...
  
Im Singen aber scheint Jesus noch einmal die Tonart zu wechseln, eine ganz andere Melodie und einen anderen Text anzustimmen:
Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn außer der Vater, und niemand kennt den Vater außer der Sohn und der, dem der Sohn es offenbaren will. Dieses gegenseitige Sich-Mitteilen, Kennen, ja, Lieben, ist es, das den Weisen und Klugen verborgen bleibt, den Einfältigen aber offenbart ist. Die Einheit von Jesus und Gott, Gott und Jesus wird also schon bei Matthäus, nicht erst im Johannesevangelium bezeugt; sie gehört wohl bereits in der frühen Christenheit zum Glaubenskern. Von Anfang an haben Christen das Unglaubliche geglaubt: Gott in einem Menschen, der die Lasten aller Menschen trägt! Gott ganz unten, wo die schweren Ruder gehen. Gott im Dreck der Welt, im Geschrei der Unmündigen und Verrückten!
  
Darum darf, darum muss auch an einem Sonntag Kantate an eine Frage von Johann Baptist Metz erinnert werden: „Ist womöglich zuviel Gesang und zu wenig Geschrei in unserem Christentum? Zu viel Jubel und zu wenig Trauer, zu viel Zustimmung und zu wenig Vermissen, zu viel Trost und zu wenig Tröstungshunger? Steht die Kirche nicht zu sehr auf der Seite der Freunde Hiobs selbst, der dem Glauben auch Rückfragen an Gott zugetraut hat?"[1]
  
Wer einmal nur das messianische Lied von Ferne vernommen, vielleicht sogar inmitten der Gemeinde selbst angestimmt hat, den schmerzt die Differenz zwischen dem, was schon verheißen, und dem, was jetzt noch ist. Der wird loben. Und der wird klagen. Auf jeden Fall wird er die Stimmen derjenigen ernstnehmen, in deren Herz der metaphysische Schrecken sich eingebrannt hat. Ich denke an Hiob in der Hebräischen Bibel, an Attar in der islamischen Mystik, an Camus' Romangestalten. Sie fühlen sich von Gott selbst zum Narren gehalten, gequält, zuschanden gerichtet. Sie bieten Gott gegen Gott auf, alle Ungerechtigkeit der Welt gegen Gottes Gerechtigkeitsversprechen, Willkür gegen Erbarmen. Weder mit noch ohne Gott können sie das Leben ertragen. Auch das Sterben, das persönliche und das massenhafte, können sie weder mit noch ohne Gott verstehen und aushalten. Sie verfluchen den Tag, an denen Gott ihnen ihr Leben geschenkt hat, und diesen Fluch schleudern sie gegen Gott selbst. Indem sie Gott alles Widersinnige und Unerträgliche der Welt vorwerfen, halten sie an Gott fest.
  
Heinrich Heine in seiner
«Matratzengruft». Zwölf Jahre gekrümmt und gefangen. Nur Haut und Knochen. Im Nacken eine offene Wunde, in die immer höhere Mengen Morphiumpulver gegen die unerträglichen Schmerzen hineingestreut wird. Sein großes «Miserere», die Form schlicht und schön, der Inhalt bitter und bestürzend:
  
Die Söhne des Glückes beneid ich nicht / Ob ihrem Leben, beneiden / Will ich sie nur ob ihrem Tod, / Dem schmerzlos raschen Verscheiden.
  
Im Prachtgewand, das Haupt bekränzt / Und Lachen auf der Lippe, / Sitzen sie froh beim Lebensbankett - / Da trifft sie jählings die Hippe.
  
Im Festkleid und mit Rosen geschmückt, / Die noch wie lebend blühten, / Gelangen in das Schattenreich / Fortunas Favoriten.
  
Nie hatte Siechtum sie entstellt, / sind Tote von guter Miene, / Und huldreich empfängt sie an ihrem Hof / Zarewna Proserpine.
  
Wie sehr muss ich beneiden ihr Los! / Schon sieben Jahre mit herben / Qualvollen Gebresten wälzt ich mich / Am Boden und kann nicht sterben!
  
O Gott, verkürze meine Qual, / Damit man mich bald begrabe; / Du weisst ja, dass ich kein Talent / Zum Martyrertume habe.
  
Ob deiner Inkonsequenz, o Herr, / Erlaube, dass ich staune: / Du schufst den fröhlichsten Dichter, und raubst / ihm jetzt seine gute Laune.
  
Der Schmerz verdampft den heitern Sinn / Und macht mich melancholisch; / Nimmt nicht der traurige Spaß ein End, / So werd ich am Ende katholisch.
  
Ich heule dir dann die Ohren voll, / Wie andre gute Christen - /  O Miserere! Verloren geht / Der beste der Humoristen!
  
Der begnadete Lyriker und Liederdichter Heinrich Heine bleibt der Lebemann und Lästerer, der er immer war, selbst in der
«Matratzengruft». Dort jedoch sieht er sich einzig noch vor Gott. Aber es ist ein ganz eigener Gottesglaube, ein tief empfundener, aber einer, der Gott braucht als das Gegenüber, dem er alle Schrecknisse vorwerfen kann:
  
Lass die heilgen Parabolen, / Lass die frommen Hypothesen - / Suche die verdammten Fragen / Ohne Umschweif uns zu lösen.
  
Warum schleppt sich blutend, elend, / unter Kreuzlast der Gerechte, / Während glücklich als ein Sieger / Trabt auf hohem Ross der Schlechte?
  
Woran liegt die Schuld? Ist etwa / Unser Herr nicht ganz allmächtig? / Oder treibt er selbst den Unfug? / Ach, das wäre niederträchtig.
  
Also fragen wir beständig, / Bis man uns mit einer Handvoll / Erde endlich stopft die Mäuler - / Aber ist das eine Antwort?
  
Sind auch solche Lieder noch gedeckt durch Jesu messianisches Lied? Bitte urteilen Sie selbst. Ich empfinde und verstehe Lieder und Gedichte wie die von Heinrich Heine zumindest als eine ungeheure Provokation an der äußersten Grenze des Glaubens. Eine solche äußerste Grenze des Glaubens sehe ich gerade in dem, was Jesus von seiner Einheit mit Gott sagt. Auf Gott hin gedacht, bedeutet dieser letzte Grenzgang, dass Gott sich auf den Schmerzensmann Jesus einlässt und dem Recht und Würde gibt, dem andere, indem sie ihn ans Kreuz nagelten, Recht und Würde rauben wollten. Auf Jesus hin gedacht, bedeutet sie, dass in Jesu Lebenshingabe Gott ganz gegenwärtig ist, auch im Schmerz, auch im Tod. Von beiden Richtungen her lässt sich dann sagen: Gott ist in Jesus Christus zusammen mit dem Menschen, der Mensch ist durch Jesus Christus zusammen mit Gott. Wie sollte da nicht jedes «Miserere», nach Art Heines oder Hiobs, mit herausgesungen sein in dem messianischen Lied Jesu?!
  
Jesu Lied auf ein Leben zu, das anders ist und in dem wir andere sein werden, verheißt
Ruhe. Damit stimmt er ein in das große Lied von Gottes Schöpfung, die auf die Ruhe zuläuft. Nicht der Mensch, die Ruhe ist ihr Ziel: der Siebte Tag, der Sabbat. Erst die Ruhe macht alles vollständig. In der Bibel beginnt erst mit dem Sabbat das volle Leben! Im Christentum fängt mit dem Sonntag die Woche an! Dass wir uns, statt ruhelos und damit ziellos zu leben, in diese Ruhe hineinziehen lassen, das will Jesus mit seinem Lied bewirken. Es geht ganz um uns selbst. Denn die Seele, das sind ganz wir selbst, im Kern unseres Selbst, im Gewissen befreit, weil uns unsere Schuld vergeben ist und wir den Blick von der Sorge um unser eigenes Heil weg auf das Wohl des Nächsten richten können.    
  
Dann aber ist die
Ruhe, die wir durch Jesus Christus finden für unsere Seelen, mehr als „Seelenruhe". Sie ist auf keinen Fall die „Ruhe", die der bekannte Preußenkönig in den Märzunruhen 1848 als „erste Bürgerpflicht" gerne verordnet hätte. Zur Sabbatruhe gehört auch, dass sie an eine ursprüngliche Gleichheit aller Geschöpfe erinnert. Dann lässt, wer diese Ruhe kennengelernt hat, sich zutiefst beunruhigen davon, dass so vielen Menschen die Ruhe genommen ist, dass sie nicht zur Ruhe kommen können, weil ihnen das Joch der Armut, der Hungers, der mangelnden Bildungschancen, der Krankheit auferlegt ist. Wie könnte ich denn auch Ruhe finden, fände ich mich ab mit dem, was ist?! Wie könnte ich denn auch zur Ruhe kommen, weiß ich doch im Blick auf die Ruhe Gottes, dass das, was ist, niemals alles ist?!   
  
Jesu Ruhen in Gott jedenfalls hat ihn in den offenen Raum des Menschlichen gestellt. Seine Sensibilität für Gott trieb ihn in die Solidarität mit allen Beladenen und Belasteten. Aus dieser Kraft heraus hat er die Bedrückten wieder aufgerichtet, die sozial Deklassierten wieder in die Gemeinschaft zurückgeholt und denen neues Leben gebracht, die schon an den Tod verloren schienen. Gleicherweise lädt er alle
Geplagten und Beladenen mit seinem „Heilandsruf" zu sich, um mit ihnen ihre Lasten zu teilen und zu tragen. So können sie „aufatmen und frei sein", wie Jörg Zink erquicken treffend übersetzt. Aufatmen und frei sein - das heißt, die in der Lunge gestaute, verbrauchte Luft endlich herauslassen zu können! Aufatmen und frei sein - so verstanden bedeutet Ruhe ... für eure Seele, die Wachheit des Geistes wiederzuerlangen, eine neue Achtsamkeit und Wachsamkeit, besonders für die, denen Lasten auferlegt sind.   
  
Ein Joch, das nicht drückt, ist kein Joch mehr, erst recht keins, das unter-drückt. Eine Last, die nicht belastet, bedeutet Freiheit. Auch hier hat Jörg Zink den Sinn treffend erfasst: „Ich herrsche nicht über euch, sondern gehe mit euch den unteren Weg. Ihr werdet den Frieden finden."

Sanft, demütig, leicht - diese Worte nehmen noch einmal die „Seligpreisungen" vom Anfang der Bergpredigt auf (Mt 5,3-12). Mit ihnen hat Jesus gerade denjenigen das Gottesreich eröffnet und diejenigen für Gottes Reich geöffnet, die das am wenigsten erwartet haben: die Verarmten, Verlachten, Verachteten, die vor Trauer Stummen, die Friedensbewegten und die Sanftmütigen. Aber eben sie, die Sanftmütigen, wie Luther übersetzt, denen keiner das zutraut, die immer die Lasten anderer schultern müssen, sie werden das Erdreich besitzen. Das heißt - reden wir nicht drum herum -, aus der Sicht des Sohnes, der den innersten Willen des Vaters kennt, gehört die Welt nicht der kleinen Schicht derer, die sich auf den Finanzmärkten für ihre gewieften «shareholder» halten, sondern denen, die nicht wissen, woher ihr Brot für morgen kommen soll. 

Darin begegnen wir, wenn ich das einmal so ausdrücken darf, Jesu Spiritualität: ein innerstes Ruhen in Gott, dass die Außenwelt verändert. Ein wahrhaft sabbatliches Leben. Eine
Ruhe, noch einmal sei's gesagt, die keine Ruhe gibt angesichts so beunruhigender Zustände, von denen ich jetzt nur wenige Beispiele, die mich persönlich sehr bedrängen, nenne: Noch immer haben wir kein Endlager für hochradioaktiven Atommüll! Noch immer wurde kein für alle verbindlicher Weg zu Klimaschutz und Energieeinsparung vereinbart! Noch immer sind wir weit entfernt von fairen Welthandelsbedingungen! Noch immer mangelt es - nicht nur, aber vor allem in der Finanzwelt - an der Einsicht, dass die aktuelle Krise ein Umsteuern auf eine wirklich nachhaltige Entwicklung mit neuen Regeln verlangt! Noch immer ist unsere Wirtschaftsweise von einem wirklich effektiven, einem vernünftigen und verträglichen Umgang mit der Gabe und den Gaben des Lebens ziemlich weit entfernt!

Jesu messianisches Lied richtet sich an alle, denen Lasten auferlegt sind, und an alle, die anderen Lasten auferlegen. Die eine wie die andere Last, die Last der Ohnmacht und die Last der Übermacht - in Jesus Christus sind sie hinweggenommen. Kein „Eiapopeia vom Himmel", sondern ein Lied für alles, was lebt, und in das alles, was lebt mit einstimmen kann - und so zu gleichem Recht und gleicher Würde kommt.


Und wenn dennoch unsere Stimmen versagen? Wenn wir am Ende des Liedes angelangt sind? Ein Lied bleibt. Das Lied Jesu. Ein wahrhaft neues Lied, dessen Melodie und Text uns Jesus vorgibt und mit dem er uns von Lasten befreit. Ein cantus novus, in dem er für uns Gott anruft. Damit auch wir nach den Ängsten der Nacht den rechten Ton wiederfinden: „All Morgen ist ganz frisch und neu / des Herren Gnad und große Treu; / sie hat kein End den langen Tag, / drauf jeder sich verlassen mag." Amen.



[1] Zitiert nach: Navid Kermani, Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2008, S. 165. Dort auch der Hinweis auf Heinrich Heine. In der Predigt verwendete Heine-Zitate aus: Heinrich Heine, Und grüß mich nicht unter den Linden. Heine-Gedichte kommentiert von Elke Schmitter, München/Wien 1997, S. 166-184.



Pastor Hans Joachim Schliep
Hannover
E-Mail: Hans-Joachim-Schliep@t-online.de

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