Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Trinitatis, 14.06.2009

Predigt zu Lukas 16:19-31, verfasst von Morten Fester Thaysen

Das war eine merkwürdige Erzählung.

             Die einzigen, die sich hier anständig benehmen, sind die Hunde. Und das ist ja eigentlich traurig. Es ist traurig, dass Lazarus buchstäblich vor die Hunde geht. Es ist traurig, dass es nur die Hunde sind, die sich seiner annehmen - und ihm die Wunden lecken. Es ist traurig, dass das nicht ein Mensch getan hat.

             Und wir sollen auch daran denken, dass die Hunde ja zur Zeit Jesu in den Augen der Juden unreine Tiere waren. Sie waren Geschöpfe des Teufels - von ihnen ging die Ansteckungsgefahr von allem Bösen aus. Einen Hund konnte man natürlich auch nicht in seinem Hause haben - ja, einen Hund konnte man nicht einmal berühren.

             Man betrachtete daher Hunde etwa so, wie wir Ratten betrachten - große, unappetitliche, ansteckende Ratten in Kloaken.

             Mit Tieren solcher Art musste Lazarus also vorliebnehmen. Und wenn Jesus auch diesen Sachverhalt erwähnt, so tut er es, um ganz deutlich zu machen, dass die Einsamkeit des Lazarus so furchtbar und so offensichtlich war, dass doch kein Mensch auf der Welt einfach an ihm vorbeigehen und so tun konnte, als berührte ihn das überhaupt nicht, und schon gar nicht der reiche Mann, vor dessen Tür er lag...

             Aber niemand - auch nicht der reiche Mann - würdigte Lazarus auch nur eines Blickes. Im Zweiten Weltkrieg trat ein witziger Kopf auf, der mit großen Buchstaben auf einen Zaun die Worte gemalt hatte: Der Teufel soll Hitler holen. Ein noch witzigerer Kopf hatte am nächsten Morgen daruntergeschrieben: "Ich will ihn auch nicht. Hochachtungsvoll: der Teufel."

             Das war so etwa die Lage, in der Lazarus sich befand. So hat er es selbst empfunden... und so haben es die Menschen, die vorbeikamen, empfunden..., dass weder Gott noch der Teufel diesen Lazarus mit seinen offenen Wunden haben wollte. Die Hunde mussten deshalb tun, was eigentlich Menschen hätten tun sollen.

             Und wozu sollen wir nun diese Geschichte gebrauchen?

             Ja, es gibt heute ja niemanden mehr, der wie Lazarus auf der Straße liegt. Wir haben unseren Rettungsdienst, und wir lassen unsere liebe mit Steuergeldern bezahlte Wohlfahrtsgesellschaft dafür sorgen, dass so etwas nicht vorkommt - und das ist wirklich gut so, und es hat einfach zu funktionieren.

             Also, wozu dann Lazarus?

             Er ist nötig, weil es ihn auf andere Weise gibt. Unter uns gibt es unzählige Menschen, die das Gefühl haben, sie wären zu nichts mehr nütze. Man ist einsam. Man wurschtelt sich durch die Tage - und es vergeht kein Tag, an dem nicht neue Niederlagen dazukommen - neue Missverständnisse - neue zerrissene Gefühle - neue Schuld. Aber man wurschtelt trotzdem einfach weiter, aus einem einzigen Grund: weil man ja nun einmal heute morgen aufgewacht ist und lebt.

             Kingo hat in einem kurzen Vers unsere innerlichste Sehnsucht formuliert: "Wenn ich, oh Jesus, auch verlassen und verhasst dastehe unter dem Kreuz, ja, ohne Freund in Raub und Diebstahl, dann schick ein Kind Gottes, das mich annimmt."

             "Schick ein Kind Gottes, das mich annimmt." Schicke also einen Menschen wie mich, der mit mir Mensch sein will - und der mich nicht nur mit mechanischer Freundlichkeit und gekünsteltem Lachen beiseite schiebt, sondern der mich ernst nimmt und der mich annehmen will, so wie ich bin - und so, wie ich eben jetzt bin. Einen Menschen, der seine Augen auf mich richten will.

             "Schick ein Kind Gottes, das mich annimmt."

             Das war das Gebet des Lazarus. Aber es kam niemand. Und bis auf den heutigen Tag haben allzu viele Menschen wie er sagen müssen: Ich habe keinen Menschen.

             Es ist kein Zufall, dass einer der gewöhnlichsten Gründe dafür, dass Menschen sich das Leben nehmen, Verzweiflung ist- wie es immer wieder in den Abschiedsbriefen zu lesen steht: "Ich fühle mich überflüssig. Niemand braucht mich noch."

             "Schick ein Kind Gottes, das mich annimmt."

             Ja, denn wenn der Mensch nicht kommt, dann ist man genauso einsam wie Lazarus, dem die Gesellschaft der Hunde genügen musste.

             Wir wissen doch, dass es so ist - genau wie der reiche Mann es wusste, indem er Mose und die Propheten las - ja, genau wie wir es wissen, wenn wir nur unsere gesunde Vernunft gebrauchen: dass kein Mensch ohne einen anderen Menschen leben kann.

             Aber was tat der reiche Mann - und was tun wir?

             Der reiche Mann - Kennst du ihn? Nicht dass er besonders unsympathisch wäre. Nicht dass er boshaft oder geldgierig wäre. Er ist eigentlich wie alle anderen - völlig normal - auch wenn er sich in seinem Glück nicht dadurch stören lassen will, dass ein Lazaraus inmitten von dreckigen Kötern vor seiner Tür liegt.

             Der reiche Mann bekreuzigt sich sicher und vermeidet seine Nähe. Der reiche Mann hat doch genau wie wir alle ehrlich seine Steuern bezahlt, damit sich Andere um derlei kümmern können. Es handelt sich doch um eine Aufgabe der Gesellschaft, dass da Leute herumliegen und verkommen. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, dass das Einzige, was Lazarus nötig hat, ein Mitmensch ist und nicht Hilfe durch irgendeine Wohltätigkeitseinrichtung. Er begreift nicht, dass es allein darum zu tun ist, dass ein Kind Gottes kommt und sich seiner annimmt.

             Und doch, der reiche Mann kann sich sehr wohl trotzdem der Wohltätigkeit hingeben und Geld für die Armen spenden - am liebsten so weit weg wie möglich. Er liebt doch den Nächsten - d.h. den Nächsten. Man soll ja nicht zu viel versprechen. Aber er kann entrüstete Leserbriefe schreiben, dass es unerhört ist, dass der Wohlfahrtsstaat sich wieder einmal als untauglich erwiesen hat und dass wir deshalb eine neue Regierung brauchen. Warum sollte er auch nicht, der Reiche - kämpfen für die Schwachen und die Unterdrückten draußen in der Welt? Er kann auch ein Rotarier oder Lion sein - und die Leute können ihn mitmenschlich und einen großen Humanisten nennen.

             Das ist alles sehr schön - solange sich der reiche Mann nicht höchstpersönlich an Lazarus und seinen Promenadenmischungen von verdreckten Kötern die Finger schmutzig machen muss. Aber Lazarus stellt eine Forderung an ihn. Er stellt eine Forderung mit seinem lautlosen Ruf um Hilfe. Und mit seinem lautlosen Ruf, dass ein Kind Gottes zu ihm kommen soll - enthüllt er die Wahrheit über den reichen Mann. Und die Wahrheit liegt im Namen des Lazarus. Er bedeutet nämlich "Gottes Hilfe". Und daran zu denken ist doch sehr fromm Gedanke, wenn man schnell an ihm vorbei in sein Haus geht, und denkt, dass Gott dem Mann gewiss helfen wird. Weniger fromm ist es, daran zu denken, wozu man auf diese Weise Gott gebraucht. Denn dann gebraucht man Gott, um darum herumzukommen, die schmutzige Arbeit selbst zu tun - und mit so wenig Kratzern wie möglich durch's Leben zu kommen. Na, man mag denken, wo gehobelt wird, fliegen die Späne, und für den Rest sorgt Gott...

             Und dennoch liegt Lazaraus noch immer dort mit seiner lautlosen Bitte, dass ein Kind Gottes kommen möge. Es ist peinlich - denn was haben wir für Lazarus getan, der vor unserer Tür liegt? Er verlangt keine finanzielle Unterstützung - er fordert uns persönlich. Hören wir nicht: Schick ein Kind Gottes, das mich annimmt? Ja, um uns selbst geht es, nicht um unser Geld.

             Der Lazarus in deinem und in meinem Leben. Vielleicht ist es ein Mensch, der uns nahesteht. Unser Ehepartner, unsere Kinder - ein Freund, ein Nachbar - oder nur jemand, der bei uns anklopft.

             Wo ist der Lazaraus in deinem Leben - und was hast du für ihn getan, fragt das Gleichnis. Ja, was hast du für ihn getan? Der reiche Mann vergeudete sein Leben in Unliebe. Er ging seinen eigenen Weg bis ans Ende. Und da endet die Geschichte - und zwar auch für uns, die seinen Spuren folgen.

             Und da die Geschichte aus ist, steht er da, der sie erzählt, Jesus selbst.

             Jesus ist selbst ein Lazarus unter uns. Verhöhnt, mit Füßen getreten - übersehen. Sein Umgang bestand aus Huren und Kriminellen, Geisteskranken und Aussätzigen - aus Menschen, die alle anständigen Menschen damals mit dreckigen Kötern verglichen.

             Das ist Jesu Schicksal. Damit fand er sich ab - um gegen alle Vernunft die Bitte des reichen Mannes dennoch zu erfüllen - die Menschen noch einmal aufzurufen von Gott - und ihnen zu zeigen, wie gefährlich ihre Unliebe im Grunde ist. Er meinte nämlich nicht, wie Vater Abraham, dass Menschen sich dennoch nicht ändern, auch wenn einer von den Toten zu ihnen kam. Deshalb erhob er sich vom Schoß Abrahams und kam zu uns über den tiefen Abgrund, der Tod und Leben trennt.

             Er kam, um uns das Leben zu geben - und müsste es uns aus unserer Bequemlichkeit und Wohlstandsverfallenheit aufrütteln. Denn jetzt liegt er vor dir - Jesus - wie ein Lazaruns - verwundet, und geschlagen und gepeinigt - und fordert die Wahrheit des Lebens von uns. Unsere Antwort muss dann sein, dass wir uns über ihn beugen. Und Jesus sagt - was ihr einem unter diesen meinen geringsten Brüdern tut, das tut ihr an mir. Ich werde dadurch angebetet und mir wird dadurch gedient, dass ihr eurem Mitmenschen dient, sagt er. Ich will dadurch angebetet werden, dass ihr als die Kinder Gottes zu eurem Mitmenschen kommt. Selbst macht er sich gemein mit den Leidenden, den Verzweifelten - den im Leben Gescheiterten - um all unsere Gottesanbetung - all unsere Religiosität - all unser Christentum - wegzulenken von der Sonnenseite, der Jagd nach Erfolg, Wohlstand und Glück - und hinüber in die Schattenseite, wo man bettelt: "Schick ein Kind Gottes, das mich annimmt."

             Und dann dürfen wir übrigens auch wissen: wenn wir selbst Niederlagen erlitten haben und wie Lazarus daliegen und vor die Hunde gegangen und fertig sind, zerrüttet durch das Leben und den Tod - dann ist Jesus uns näher denn je - so nahe, dass wir ihn anrufen können: schick ein Kind Gottes, das mich annimmt - dann kommt er, als der, der von den Toten auferstanden ist.

             Er kommt, um uns eine frohe Auferstehung von den Toten zu geben - und um für uns einen neuen Morgen beginnen zu lassen mit Freude, Wärme und nicht zuletzt Freimütigkeit - um uns aus der Verzweiflung oder dem Hochmut oder der Bequemlichkeit zu erwecken - hin zu den Lazarusen des Lebens, denn dort sollen wir sein...

             Und zum Schluss.

             Wir haben heute den ersten Sonntag nach Trinitatis... wir befinden uns also in dem Abschnitt des Kirchenjahres, in dem sich unser Verhältnis zu dem dreieinigen Gott entfaltet. Heute wird mit aller Deutlichkeit festgestellt: dein Nächster liegt vor der Tür, wie ein Lazarus. Dort findest du Gott, und dort will Gott deinen Dienst. Und jeder Versuch, an ihm vorbeizugehen, ist Verleugnung Gottes. Die Liebe ist konkret. Sie hat einen Leib ..., einen Leib, der voller Wunden sein kann.

             Das mag Trost und Erinnerung sein an einem Sommertag. Amen.

 

 



Pastor Morten Fester Thaysen
Varde (Dänemark)
E-Mail: mht(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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