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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2009

Predigt zu Lukas 15:1-7, verfasst von Claudia Krüger

„Im Himmel herrscht Freude"
Es nahten sich Jesus allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören.
Und die Paharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er´s findet?
Und wenn er´s gefunden hat, so legt er sich´s auf die Schultern voller Freude.
Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen. Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.
Ich sage euch: so wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Liebe Gemeinde,
Gott ist faszinierend anders.
Mit seinem Verhalten sprengt er die engen Ketten der Gewohnheit, des Wohlanständigen, des Üblichen.
Und das provoziert bis heute. Da regt sich auch sofort der Widerspruch derer, die genau wissen, was Recht und was Unrecht ist, mit wem man sich abgibt und mit wem man nichts zu tun haben möchte.
Dabei könnten damals wie heute Nebelschwaden der Gewohnheit verfliegen und erstaunlich neue Perspektiven sich auftun, würde wenn man sich vorbehaltlos offen dem göttlichen Willen aussetzen wie dem Wehen eines frischen Windes!

Zöllner und Sünder nahten sich Jesus, wahrscheinlich schlichen sie möglichst unbemerkt heran, um als gesellschaftlich Ungeliebte, ja Verachtete, nicht sofort des Platzes verwiesen zu werden. Manch einer rückte wohl sogleich mit verächtlichem Seitenblick von ihnen ab.

Sie aber wollten Jesus hören unter allen Umständen, selbst wenn man dazu, wie Zachäus, eigens auf einen Baum steigen musste. Vermutlich hatten die Zöllner und Sünder ein feines Gespür dafür, dass da einer faszinierend anders den Menschen begegnete. Vielleicht könnte doch auch ihr Leben, in dem schon einiges, meist durch eigene Schuld, schief gegangen war, durch ihn noch einmal eine andere Wendung nehmen. Hin zum Besseren, hin auch zu dem, was sie sich in der Tiefe ihres Herzen am meisten ersehnten: angenommen sein und wieder wert geschätzt werden.

Der Einspruch erhob sich sofort: von Pharisäern und Schriftgelehrten, die in der Tat viel von Gerechtigkeit und Religion verstanden und die Schrift gewissenhaft studierten, aber immer auch schon zu genau wussten, was religiös und moralisch recht und gerecht, was anständig oder verachtenswert ist.
Ein Skandal also: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen".
Wie viel Empörung in wenigen Worten!
Gänzlich inakzeptabel ist solches Verhalten - das muss so klar gewesen sein in der damaligen Zeit, dass man gar nichts weiter dazu zu sagen brauchte.

Jesus antwortet nicht direkt und argumentativ, sondern in einem Gleichnis und packt so die Murrenden bei ihrer menschlichen Erfahrung.
„Wer von euch würde nicht..."
Eine Frage, die man nur bejahen kann - ja, wer würde nicht seinem verlorenen Schaf  nachgehen, so lange, bis er es findet. Wer von euch würde es dann, wenn er es endlich gefunden hat, nicht voller Freude auf die Schultern nehmen und zu Hause ein Fest feiern, weil er dieses einzige verlorene blökende Schaf wieder gefunden hat!
Suchende sind wir Menschen.
Wer kennt nicht die Erfahrung, wie sehr es einen umtreiben kann, wenn man etwas verloren hat.
So dass man so lange an nichts anderes denken und nichts wirklich Sinnvolles tun kann, bis man es endlich wieder gefunden hat.
Menschliche Erfahrungswelt: verlieren, suchen, finden, gesucht werden, manchmal den Boden unter den Füßen verlieren, sich gar selbst verlieren, mühsam seinen Platz in der Gesellschaft und in der Familie suchen, den Fortschritt suchen, Arbeit suchen, den Erfolg auch, Sinn suchen. Auch Gott suchen.
Eine Frau erzählte mir, wie lange sie ihn gesucht hatte. Dort bei den alten religiösen Traditionen und den überkommenen Verhaltensweisen hatte sie ihn verloren, weit weg war er ihr gerückt.
Erst als ihr Blick sich weitete und sie neue befreiende Erfahrungen gemacht hatte mit einem faszinierend anderen Gott, der sich eben nicht in unsere menschlichen religiösen oder moralischen Vorstellungen zwängen lässt, da konnte sie wieder glauben - und sich von Herzen freuen!
Hatte sie ihn gefunden, den ganz anderen Gott, oder hatte nicht vielmehr er sie gefunden?
Wie in unserem Gleichnis. Wer sind wir - die Suchenden, die Verlorenen, die Gefundenen? Offenbar  immer wieder die einen und dann wieder die anderen.
Verlorene sind wir Menschen.
Mir scheint, es werden in unserer Gesellschaft immer mehr davon.
Nichts aber ist trostloser als Verlorenheit!
Ich habe keinen Menschen". (Joh.5,7)
Welch eine trostlose Feststellung.
Heute heißt das anders:
MOF. Es ist noch nicht lange her, dass ich diesen Begriff zum ersten Mal gehört habe, aus dem Mund meiner Tochter.
„Wenn ich das anziehe und dann noch die alte Brille aufsetzen soll, dann gehöre ich zu den Mofs."
Dem war kein weiteres Argument meinerseits gewachsen.
„Was um alles in der Welt sind Mofs?"
 „Weißt du das nicht - eben: „Mensch ohne Freunde".
Es traf mich wie Schlag in den Magen. Das sollte es um Gottes Willen niemals geben. MOF.
Sie erläuterte mir: „das sind die, die immer allein auf dem Pausenhof herum stehen. Die sehen manchmal unmöglich aus. Können oft auch nicht viel in der Schule. Strengen sich aber erst gar nicht an. Wenn ich sie anspreche, bekomme ich eine blöde Antwort. Also lass ich es bleiben. Die sind selbst Schuld. MOF."

Und solche Menschen gibt es ja immer mehr - nicht nur in der Schule, wo manche gnadenlos durch das Leistungsraster fallen und sich verzweifelt fragen:
„Was bin ich noch wert?  Wer braucht mich oder meine Begabungen, habe ich überhaupt welche, die in dieser Welt der Topmodels und der Superstars gefragt sind?"
Verloren. Mittelmäßig. Wie übrigens nach menschlichen Maßstäben sehr viele.
Selbst Schuld womöglich.
Aber die selbstgerechten vorschnellen Stimmen in unserer Gesellschaft sind kleinlauter geworden, seit die Wirtschaftskrise auch stabile gediegene Sessel ins Wanken gebracht hat.
Verloren gehen manche in Verzweiflung und Ohnmacht, verloren gehen Menschen im Atlantik und lassen die Angehörigen und uns alle zurück, auch im Zweifel an Gott.
Wer bin ich - im Getriebe und in den Ozeanen dieser Welt?
„Wen juckt es, wenn ich verreck, ich habe keinen, der mich mag."  So die lapidare Antwort eines ehemaligen Konfirmanden, auf meine Frage, ob er nicht das Rauchen einschränken wolle, seiner Gesundheit und Zukunft zuliebe.
Verloren.
Ich fürchte, viele von uns würden schlicht in der Belanglosigkeit versinken, gäbe es da neben dem gnadenlos taxierenden Blick nicht auch den leidenschaftlich suchenden Blick. Den Blick, der mit aller Hartnäckigkeit, die wahrer Liebe wesenhaft innewohnt, unermüdlich die Gaben eines Menschen zu entdecken sucht. Ein Blick, der auch das noch so Unscheinbare hervorzulieben vermag, bis es wachsen und sich in Schönheit entfalten kann. Ja, bis es sich seiner Würde wieder bewusst wird, die Gott von Anbeginn der Schöpfung jedem Menschen zugedacht hat.
Schauen wir zurück in unsere Geschichte, dann finden wir dort  einen Menschen mit eben diesem Blick. Einen, der nicht aufgibt, niemals, sondern dem Verlorenen nachgeht mit aller Leidenschaft, der so lange und so intensiv sucht, als gäbe es in diesem Moment nichts auf der Welt, aber auch gar nichts, das wichtiger wäre, als das Verlorene zu finden!
Und wer wünschte sich das nicht in der Tiefe seines Herzens, dass er es wert ist, dass man alles stehen und liegen lässt, damit man ja nicht verloren geht und erst recht sich ja niemand je verloren gibt.
Sehnsucht jedes Menschen - so behaupte ich, solchermaßen bedingungslos geliebt und wert zu sein. Ohne Wenn und Aber, ohne lupenrein gerechtes Verhalten als Voraussetzung der Liebe. Sondern so, dass umgekehrt die Liebe allem vorausgeht und daraus dann überraschend Neues, auch verändertes Handeln, hervor gehen kann.
Gesuchte sind wir Menschen.
Gott ist faszinierend provozierend anders: anstößig und anregend zugleich.
Sie merken es: es geht um Gottes Verhalten, auch wenn bisher von ihm in unserem Text nicht die Rede war.
Simon Weil hat einmal gesagt:
„Dass Gott den Menschen sucht, ist ein Gedanke von unergründlichem Glanz und Tiefsinn. Das sind Verfallszeiten, wo der Gedanke, dass der Mensch Gott sucht, an seine Stelle tritt." (Zitat: Werkstatt für Liturgie und Predigt 4, 2009, „Kontexte" S. 182)
Er sucht unermüdlich, er findet sich niemals ab,
„...dass ihm auch nicht eines fehlet".
Er horcht, späht, geht den Weg zurück, den sie gegangen sind, sucht auch abseits der Wege, horcht wieder, ob er es irgendwo blöken hört. Und endlich findet er es. Es hätte keine Chance gehabt allein in der Steppe, wäre kläglich verdurstet oder den wilden Tieren ausgeliefert geblieben.
Dieses eine, das sich so hoffnungslos verlaufen hat - warum auch immer, dieses eine, das vermutlich völlig verängstigt und zitternd da steht, es ist gefunden. Erschöpft, aber überglücklich: der Finder!
Behutsam nimmt er es auf seine starken Schultern und trägt es nach Hause - voller Freude!
So, wie er zuvor ganz vom Suchen erfüllt war, so ist er jetzt ganz und gar von Freude erfüllt.
Von wahrhaft himmlischer Freude!
Eine wunderbare wiederum erstaunliche Entdeckung, dass Gott sich freuen kann - und wie!
Die Freude über einen verlorenen Zöllner, über einen schuldhaft oder schuldlos verlorenen Menschen, der gefunden wird und in den Armen des liebenden Vaters Geborgenheit findet, ist eine unbeschreibliche, eben göttliche Freude. Das ist faszinierend anders - und das bleibt provozierend anders als unsere ganze Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten.
Gott sei Dank!
Gefundene sind wir Menschen.
Uns
aber bleibt nichts Wichtigeres und Schöneres, als uns einfach von Herzen mitzufreuen. Wie die Nachbarn und Freunde, die er dann zu Hause ruft, damit sie mit ihm feiern und sich mit ihm freuen!
So, wie das ganze Haus sich mitfreuen soll, als der verloren geglaubte Sohn in der darauf folgenden Geschichte sich wieder in den Armen seines Vaters findet. Schwer tut sich der ältere Bruder mit der Freude, zögerlich nur würden vielleicht auch wir uns mitfreuen, sofern wir vergessen, dass er uns genauso liebevoll und unermüdlich suchen und in die Arme schließen würde.
Sich von Herzen mitzufreuen bedeutet nun aber auch, der göttlichen Liebe Recht zu geben, die allemal größer und unbegreiflicher ist, als unser menschliches Gerechtigkeitsempfinden es manchmal verträgt.
Wir können uns aber auch deshalb von Herzen mitfreuen, weil Gott sein Wesen und seinen Willen im unermüdlich liebevoll Suchenden ganz und gar offenkundig macht - eine Geschichte, die wir auch all dem entgegen halten können, was uns an Gott, mitunter so unerträglich geheimnisvoll und verborgen scheint. Auch im der Tiefe des Atlantiks und auch an den noch so entlegenen Orten wird Gott der uns Findende sein.
Sich mitzufreuen bedeutet schließlich, der faszinierenden Andersartigkeit Gottes Raum geben und zu erfahren, dass da und dort der Himmel sich auftut und die Welt sich geistvoll verändert.
Vielleicht kann das Suchen und Finden derer, die in unserer Gesellschaft verloren zu gehen drohen, uns wieder zu einer Solidargemeinschaft machen nach Maßgabe der Liebe und der Gerechtigkeit.
Wo der Himmel sich freut, sollten wir nicht murren - und wo Gott sucht, sollten wir nicht verloren geben, sondern unermüdlich Mit-Suchende werden, die Augen offen halten, uns niemals abfinden, sondern alles daran setzen, dass um uns herum keines je verloren geht.
Dann herrscht Freude im Himmel - und auf Erden auch.
Amen.



Pfarrerin Claudia Krüger
Pfarrerin im Distrikt Stuttgart - Ost
und im Karl-Olga-Krankenhaus, Stuttgart
E-Mail: clau.krueger@t-online.de

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