Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2009

Predigt zu Lukas 15:1-10, verfasst von Erik Fonsbøl

Es war eine völlig neue Weltordnung, mit der Jesus kam - eine Weltordnung, die auf eine vollkommen neue Auffassung vom Menschen gegründet war.

             Man kann wohl, ohne zu übertreiben, sagen, dass Jesus wie kein Anderer in der Geschichte den einzelnen Menschen in dem Maße in den Mittelpunkt stellte, dass seine Zeit es nicht begriff - ja, dass selbst wir Heutigen es nur schwer verstehen.

             Zur Zeit Jesu hatte der einzelne Mensch fast überhaupt keine Bedeutung an sich. Man war, was man war, kraft der Gemeinschaft - kraft seines sozialen Status vielleicht, weil man etwas Besonderes war, aber als Individuum war man nichts. Und deshalb war man auch ohne weiteres entbehrlich - besonders, wenn man der Gesamtheit zur Last fiel - indem man entweder sich selbst überlassen oder geradezu ausgestoßen war.

             Und wenn man dann noch das menschliche Elend als Gottes gerechte Strafe für die Sünden auffasst, ja, dann gibt es nicht viel Hoffnung für die Menschen, die wir heute zu den marginalisierten Gruppen der Gesellschaft rechnen würden. Weder in der jüdischen, noch in der römischen Weltanschauung.

             In der Auffassung vom Menschen, mit der Jesus kommt, bedeutet der einzelne Mensch alles. Ungeachtet seines sozialen Status - ja, in jeglicher Hinsicht. Der einzelne Mensch hat an sich einen unverlierbaren Wert, der Jesus geradezu dazu veranlassen kann, das Verhältnis zu deinem Nächsten höher anzusetzen als die Gottesanbetung selbst - als die Religion überhaupt. Also, wenn du auf dem Weg in die Kirche bist und dir einfällt, dass es einen Menschen gibt, der dich nötig hat - dann kehr um und nimm dich deines Mitmenschen an - in die Kirche kannst du ja danach immer noch gehen.

             Und wir sollten doch, in unserem gut gemeinten Eifer, die Leute zum Kirchgang zu bewegen, sicher nicht Jesus widersprechen. Und vielleicht - vielleicht sollten wir als Kirche - als Pastoren und Kirchengemeinderat etwas mehr über den Aspekt des Gemeindelebens nachdenken, den wir den diakonalen Aspekt nennen - also genau dies, für Menschen zu sorgen, die Hilfe brauchen - anstatt alle unsere Ressourcen darauf zu verwenden, flotte Kirchen und spannende Gottesdienste zu schaffen. Wir können doch selbst sehen, wieviel von unserem Budget zu mitmenschlicher Hilfe verwandt wird.

             Für Jesus bedeutete jedenfalls der Tempel nicht viel. Er war doch eigentlich so etwas wie ein national-religiöses Statussymbol, das Herodes der Große mit vollem Einverständnis der Römer errichtet hatte. Und was hat er nicht gekostet! De facto hat Jesus den Tempel durch eine prophetische Symbolhandlung geschlossen, als er die Händler und Geldwechsler vertrieb - was dann viel dazu beigetragen hat, dass er hingerichtet wurde - wenn es denn nicht sogar die wichtigste Ursache war. Denn damit trieb Jesus einen Keil in den Nerv der Gesellschaft, der der Menschen- und Gesellschaftsauffassung, auf der das gesamte Reich aufbaute, einen Sinn verleihen sollte. Hier kamen Menschen - vor allem unterdrückte Menschen getreulich mit ihren teuer erkauften Opfergaben in der Hoffnung, die Priester hätten Recht, wenn sie behaupteten, dass diese Gaben für Gott ihnen ein besseres Leben verschaffen würden.

             Der Tempel war das Symbol für dieses "Leben aus zweiter Hand", kann man sagen, wo du ein groß angelegtes Schauspiel aufführst, das im Leben von Menschen eine Art von Sinn schaffen soll. Der Weg zu Gott - zum Sinn - zum Leben selbst geht durch den Tempel und seine Priester.

             Nein, sagt Jesus, das ist glatte Lüge. Der Weg zu Gott - zu Sinn - ja, zum Leben selbst geht durch deinen Mitmenschen. Das ist der direkte und einzige Weg zu Gott.

             Und deshalb kann man eigentlich gut die Dinge auf den Kopf stellen, wenn wir ein wenig provozieren wollen, was Jesus ja immer wollte - und sagen, dass die wahre Gottesanbetung nicht hier in der Kirche und am Sonntag stattfindet, sondern in unserer täglichen Begegnung mit unseren Mitmenschen. Der Alltag ist also der wirkliche Feiertag, an dem du von Angesicht zu Angesicht vor deinem Gott stehst.

             Sonntags ziehen wir uns ein wenig zurück, wenn wir es nötig haben - von unserem Mitmenschen - um neuen Mut und neue Energie zu schöpfen, um aus der Kirche zu kommen - um hinauszugehen und Gott durch unseren Nächsten anzubeten. Und ein solcher Gottesdienst macht einen guten Sinn, denn ich glaube, wir haben ein solches "Auftanken" oder eine solche Provokation nötig, damit wir an der Menschenauffassung festhalten, die meinen Mitmenschen zum eigentlichen Sinn und Zweck des Daseins macht. Jedenfalls ist es meine Erfahrung, dass es nicht einfach von selbst kommt - sicherlich, weil wir von unserer Gesellschaft dazu erzogen sind, vor allem für uns selbst und die Unsrigen zu sorgen und uns in der Rangordnung einen Weg nach oben zu erkämpfen in der Meinung, der tiefste Sinn des Lebens bestünde darin, etwas Großes zu werden. Oder wie Johannes Möllehave einmal gesagt hat: uns geht es nicht so sehr darum, einander zu dienen, wie mehr zu verdienen.

             Im heutigen Text finden wir zwei Bilder, die vom selben Thema handeln und die beide der Haltung zur Gesellschaft und dem Menschenbild widersprechen, dass es doch letzten Endes völlig gleichgültig sein kann, wie das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit ist. Es sind die beiden Gleichnisse vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen, in denen Jesus zwei Ereignisse schildert, die kaum in Wirklichkeit stattfinden - es sei denn, eine unwahrscheinliche Liebe steht auf dem Spiel.

             Es ist dumm und sehr sehr unvernünftig, die ganze Schafherde in der Wüste zurückzulassen und ihrem Schicksal und den wilden Tieren auszuliefern, um nach einem armseligen verirrten Schaf zu fahnden, das übrigens sicher selbst schuld war. Das ist nicht durchdacht!

             Und dasselbe gilt von dem armseligen Groschen - mein Gott! Die alltäglichen hausfraulichen Pflichen um einer Münze willen zu versäumen, die sicher gestohlen worden ist - es sei denn, es ist genau das kleine Schaf, das der Hirte unter keinen Umständen verlieren will - oder es ist genau die Münze, die eine ganz besondere Bedeutung hatte.

             Und die Pointe der beiden Gleichnisse ist wohl die, dass die Menschen, mit denen Jesus verkehrt - Zöllner und Sünder - die Ausgestoßenen - die Asylbewerber - die Krinimellen - diejenigen, die in den Augen der Gesellschaft und der Religion nichts waren - nichts als Belastung - dass ausgerechnet sie für Jesus auf besondere Weise unveräußerlich, unverlierbar waren - und ihm zufolge: für den wahren Gott. Ja, bei ihnen war der wahre Gott lebendig gegenwärtig - und nicht, wie sie glaubten - in vornehmen Tempeln und kaiserlichen Palästen.

             Eigentlich geht es in diesen Gleichnissen vom Verlorenen und Wiedergefundenen wohl um den wahren Gott - um den Gott, der nicht in hohen Himmelssälen oder in vornehmen Tempeln hinter den kunstfertig gewirkten Vorhängen der Priester thront, sondern der dort draußen ist bei unseren Nächsten - vor allem bei demjenigen oder derjenigen, die niemand leiden mag. Merkwürdigerweise.

             Es war kein Zufall, dass der Vorhang zum Allerheiligsten des Tempels mitten entzwei riss, als Jesus am Kreuz starb - denn mit seinem Tod und der unwahrscheinlichen Liebe zu jedem einzelnen kleinen und in den Augen der Welt so unbedeutenden und lästigen Menschenkind, das ihn ans Kreuz brachte, wurde der Weg direkt zu Gott geöffnet, und jeder Tempel wurde in seinen Grundfesten erschüttert.

             Und damit zeichnet sich ein Gegenbild ab zu allen möglichen allmächtigen Göttern - zu Göttern, die, wie es heißt, die Welt lenken sollen - zu Göttern, die die Welt erlösen oder richten sollen - und wir stehen in der Verkündigung Jesu, die eins mit seinem Leben war und die zur Ursache seine Todes wurde - mit einem ganz anders ohnmächtigen Gott, der dich und mich um Hilfe bittet. Uns darum bittet, unsere Aufmerksamkeit weg vom Sonntagschristentum, das den Gottesdienst zum Selbstzweck machen will, zu führen - und auf den Mitmenschen zu richten, zu dem der Gottesdienst uns jetzt gleich aussendet.

             Viele viele Menschen in der ganzen Welt warten auf das Eingreifen Gottes in ihr Leben, weil es fast nicht mehr auszuhalten ist - aus irgendeinem Grund. Und es ist kein Ende abzusehen für die Mittel, die angewandt werden, um mit Gott ins Gespräch zu kommen und ihn zum Eingreifen zu bewegen. Und oft ist man enttäuscht, weil Gott anscheinend schweigt - und das kann sicher so manchem den Glauben nehmen. Jedenfalls den Glauben an den Gott, der für mich sorgen soll als Gegenleistung für meinen Glauben und meinen Gehorsam und alle meine teuren Opfer.

             Aber vielleicht ist es auch umgekehrt. In Wirklichkeit wartet Gott vielleicht auf unser Eingreifen in den schiefen Gang der Welt und in das manchmal unerträgliche Leben unseres Nächsten. Und vielleicht ist es gerade dieses Eingreifen, zu dem wir von hieraus ausgesandt werden mit der Taufe und dem Abendmahl und ein paar sehr mahnenden Erzählungen im Herzen - alles dazu angetan, uns Mut zu machen und Lust, als das zu leben, was wir diesem provozierenden Jesus zufolge sind: innig geliebte und heilige Menschen - und den Sinn des Lebens dort zu suchen, wo er ist.

             Und wenn wir ihn dann dort finden, wo wir ihn nicht vermuteten, den Sinn des Lebens - ja, dann herrscht Freude - wirkliche Freude - im Himmel wie auf Erden. Amen



Propst Erik Fonsbøl
Nørre Åby (Dänemark)
E-Mail: ebf(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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