Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 05.07.2009

Predigt zu Lukas 6:36, verfasst von Dieter Koch

Liebe Gemeinde, der Ruf der Barmherzigkeit gilt uns: Seid barmherzig, werdet barmherzig. So ihr die Barmherzigkeit tut, öffnen sich euch die Tore in das Land der Güte. Nicht nur wird euch der Dank der Anderen zur Freude werden, ihr werdet auch allem Dank voraus in euch selber den Einklang wieder finden mit Gott. Im Tun der Barmherzigkeit spiegelt sich die göttliche Barmherzigkeit. Wir sind zur Barmherzigkeit bestimmt.

Man kann das Leben auch anders deuten. Man kann sein Leben auch anders vollziehen - rachsüchtig, habgierig, mitleidlos, an sich selber verloren. Doch wollen wir das, die wir vom Geist Jesu berührt wurden? Können wir ernsthaft noch die Schule des Hasses der Übung der Liebe vorziehen? Mit der Stimme Jesu ist der Ruf der Barmherzigkeit, diese biblische Grundintention tief in unser aller Gewissen eingegraben. Werdet barmherzig! Ja, wir wollen der Barmherzigkeit folgen! Aber wie, wie können wir Jünger der Humanität werden?  Barmherzigkeit heißt nichts anderes als dem Menschen ein Mitmensch werden, ein Herz für die Menschen haben, die uns brauchen. Ein schlichter Satz, der doch unser ganzes Leben braucht, damit wir ihn verstehen und danach tun. Barmherzigkeit - das Wort selber ist ein Sprachwunder. Als das Wort Jesu in die germanische Welt vordrang, gab es kein altdeutsches Wort, um zu sagen, was wohlwollende Güte meint.

Das deutsche Wort Barmherzigkeit war ein bemühter Versuch, in die Sprachlosigkeit einer Welt hinein, die statt auf Güte auf Hass getrimmt war, statt auf Wohlwollen auf Härte, ein Wort zu finden, das dem biblischen Gehalt Laut und Stimme geben kann. Man übersetzte wörtlich aus dem Lateinischen. Misericordia wurde zur Barmherzigkeit. Es benennt die Herzensöffnung auf den Armen hin. Darum also geht es: Sind wir bereit, uns aus innerer Zuneigung, aus den Quellen des Herzens heraus, uns für den zu öffnen, der in seinem Elend vor uns liegt: der Kranke, der Bettler, die Witwe, die Waisen, die Verstümmelten und Entrechteten, die Verlassenen und Betrogenen, all die zerschlagenen Herzens sind und denen wir nun unser Herz öffnen. In der Barmherzigkeit geht es gleichsam um eine umfassende Herztransplantation. Von meinem guten, lauteren, starken Herzen gebe ich dir die Hälfte ab, damit dein verwundetes Herz wieder heilen und gesunden kann.

Barmherzigkeit, die lateinische misericordia, dahinter stehen zwei griechische Wörter, die uns das Neue Testament schenkt: Oiktirmos und Eleos. Das Wort Eleos bestimmt die Parabel vom barmherzigen Samariter, unsere Lesung heute. Das Wort Eleos steht im Wortsinn für die Zerschneidung des Herzens. Wir sagen manchmal: Es schneidet mir ins Herz, so viel Qual, so viel Leid, so viel Schmerz. Es schneidet mir ins Herz, mitansehen zu müssen, wie eins um andere mal das Leben zerstört wird, der Hass triumphiert, die Gier regiert und die Angst ihr lähmendes Schwert erhebt. Es schneidet mir ins Herz, so viele Situationen mit erleiden zu müssen, da einer den andern kalt stellt, eine die andere mobbt, die Lüge die Wahrheit niederhält, und der Wahn die Weisen packt. Es schneidet mir ins Herz ja, aber dann handle ich, packe zu, reiße ein Stück meines Herzens heraus, um es dir zu geben, der du getäuscht wurdest und das Vertrauen verlierst, der du entmündigt wurdest und keine Stimme mehr hast, der du aus so vielen Wunden blutest, inneren und äußeren, und mich brauchst, mein Herz, das es für dich einspringe, für dich schlage, bis du gesundest, aufstehst, und dann dein Herz schenkst dem, der dich braucht.

Barmherzigkeit heißt nicht anderes als dem Menschen ein Mitmensch werden, ein Herz für die Menschen haben, die uns brauchen. Wie? Davon spricht das zweite Wort für Barmherzigkeit Oiktirmos, das hier an dieser Stelle bei Lukas steht, nicht zufällig, sondern ganz bewusst gesetzt an dieser Stelle im Evangelium, da Lukas Jesu Wort der Feindesliebe im Geist der Großmut, der wohlwollenden Güte, Hand in Hand mit der Goldenen Regel umsetzt für das alltägliche Tun. Oiktirmos, das Wort redet vom Klagen, Wehklagen, Mitklagen. Es ist die Stimme des Weinens, die Empfindung der Tränen, ein tief empfundenes, auch erlittenes Mitgehen, Mitdabeisein mit dem, dem nur noch der Schmerz bleibt, der laute oder der leise, langsam schon verstummende Schmerz. Ohne den Sinn für das Leid, ohne die Bereitschaft, die Stimme der Opfer zu hören, ohne emotionale Intelligenz kann sich das Land der Verheißung  nicht für uns öffnen. Seid barmherzig, werdet barmherzig. So ihr die Barmherzigkeit tut, öffnen sich euch die Tore in das Land der Güte.

Doch hinter misericordia, hinter Eleos und Oiktirmos, steht noch der hebräische Wurzellaut für unser deutsches Wort Barmherzigkeit. Es lautet Rachamim. Das biblische Erbarmen, so oft von Gott ausgesagt, so oft angerufen in der Not, so oft erfahren, so oft, wie eine Mutter sich um ihr Kind sorgt, seinen Schmerz hört, sein Herz ihm öffnet, es in die Arme schließt und mit einem sanften Lied wieder einschlummern und zur Ruhe finden lässt. Rachamim, das biblische Erbarmen, selber herkommend vom Wort für die Gebärmutter, benennt diese mütterliche, tröstende, segnende Kraft, es ist die einzigartige Kraft der Liebe, der Fürsorge, dieses Wunder der emotionalen Intelligenz. Mehr Mütter bräuchte das Land, viel mehr Mütterlichkeit! Die Frau, die unter Schmerzen gebiert, freut sich des Lebens, das ihr anvertraut ist.

Die innerste Mitte der Barmherzigkeit ist diese nicht endende Freude am Leben. Das Wunder der Barmherzigkeit ist die Liebe des Lebens. Kehren wir nach dieser Reise an die Quelle, zurück in unser tägliches Tun und Lassen, gesegnet vom Zuruf der Barmherzigkeit, bereit das Leben zu lieben, es einander zu gönnen und darum immer wieder aufs neue für einander einzutreten. Lasst uns Schüler der Barmherzigkeit sein, denn wir dürfen Liebhaber des Lebens sein - ein Becher voll des Glücks, der Güte und der Barmherzigkeit, ein Kelch voll Zuversicht, der darauf hofft und darauf setzt, dass auch mitten im Staub, mitten im Leid der Welt Schönheit aufglimmt, Kinderlachen erschallt, und der Bruder, die Schwester, mein Nächster gleich mir ein Recht auf Leben hat. Liebhaber des Lebens sollen wir sein - und deshalb schauen wir nach dem Guten im Andern, nach dem Funken der Wahrheit, der noch in der bittersten Not und in der Enttäuschung aufflammt. Liebhaber des Lebens sollen wir sein - ein Becher voll Barmherzigkeit. Da zählt das Richten nicht, dieses grässliche Streben den anderen lieber Versagen, Böswilligkeit und Nichtsnutzigkeit zu attestieren, als selber sein Herz zu öffnen und mit anzupacken für eine Welt, in der es fairer zugeht. Liebhaber des Lebens sollen wir sein - ein Becher voll Barmherzigkeit. Da darf kein Verdammen mehr sein. Da darf vergeben werden, auf dass der immer länger, immer schwerer werdende Rocksaum an Schäbigkeiten, Versäumnissen und Dummheiten abgeschnitten und die Hand zum Neubeginn ausgestreckt werde.

Liebhaber des Lebens sollen wir sein - ein Becher voll Barmherzigkeit. Da heißt es geben, geben in Freiheit, wo die Not zu sehr drückt, wo das Leben zu ersticken droht in der Ausweglosigkeit der Armut  wie in Sinnlosigkeitserfahrungen inmitten einer Welt des Überflusses. Es schneidet mir ins Herz, ich weine mit, ich packe zu. Ich gebe aus gutem Herzen, mit offenen Händen und wachem Blick. Ich kann mit Geldern die großen Werke der Barmherzigkeit unterstützen. Ich mag mit einem guten Wort manchen Streit schlichten. Ich schenke mein Ohr dem Schmerz des andern, und ich bete für ihn.

Liebhaber des Lebens dürfen wir sein - Menschen, die barmherzig mit sich selber umgehen lernen, die sich nicht ununterbrochen überfordern, sondern wieder lernen, ihrem Herzen und ihrem Gewissen zu trauen. Nur, wer sich selber im Morgenrot der göttlichen Barmherzigkeit verstehen kann, kann wirklich selbstlos und frei dem andern, seinem Mitmenschen barmherzig werden. Ein Glück, dass ER, der himmlische Schöpfer, ein Liebhaber des Lebens ist. Er ist nichts als Barmherzigkeit, ein Gebärer und Bewahrer. Von ihm her, der Quelle des Lebens, vollzieht sich immer neu das Wunder, dass das Dunkle und Finstere ins Licht gehoben wird, dass die Güte aufstrahlt, und die Dinge in Wohlwollen getaucht werden, auf dass Ortlose zur Ruhe und Weinende zum Frieden finden. Uns Menschen ist keine andere und tiefere Wahrheit beschieden als es Gott gleich zu tun, Schüler seines Erbarmens, Jünger seiner Liebe zu werden, Gebärende und Bewahrende und dies in Tat und Wort, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.



Pfarrer Dr. Dieter Koch
Stuttgart-Riedenberg
E-Mail: dieter-k-koch@web.de

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