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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 05.07.2009

Predigt zu Lukas 6:36-42, verfasst von Reinhard Gaede

Liebe Gemeinde!

„Nein, Herr Pastor", sagt die Frau am Telephon, „Sabine wohnt nicht mehr bei uns. Mein Mann hat sie rausgeschmissen, seit sie mit diesem Afghanen zusammenlebt. Also wissen Sie, wie der sich benommen hat...Nein, wir haben überhaupt keinen Kontakt mehr mit ihr. Da muss sie eben selbst sehen, wie sie zu Recht kommt. Sie ist schließlich alt genug." Ein typisches Gespräch. Eine Beziehung ist zerrissen. Das Urteil, der Richtspruch ist gefällt. Ein Mensch entspricht nicht mehr den allgemein gültigen Vorstellungen. Bilder seiner Eigenschaften entstehen: Aufsässig, undankbar, faul, nachlässig, unzuverlässig und unordentlich usw. Das Urteil fußt auf berechtigten oder unberechtigten Erwartungen, Enttäuschungen, und verallgemeinert sie zum Bild eines abzulehnenden Charakters. Tragisch, wenn so familiäre oder freundschaftliche Beziehungen zerreißen! Schmerzhafter als ein heftiger Streit ist das Nicht-Verhältnis, der Abbruch der Beziehungen. Kein Gruß, kein Blick mehr, alles aus.

Der Dichter Max Frisch hat immer wieder anders eine Erkenntnis wiederholt, die er beim Bibellesen gewonnen hatte: Das Verbot, sich ein Bildnis von Gott zu machen, so als sei Gott verfügbar, soll auch für die Beziehungen zwischen Menschen gelten. „Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat", sagt Max Frisch. In seinem Theaterstück „Andorra" hat er den Rassenwahn seiner Zeit enthüllt. Ein kleiner Junge wird als jüdisches Pflegekind ausgegeben, damit so seine uneheliche Abstammung verwischt werden kann. Im Lauf der Zeit werden ihm so genante jüdische Unarten angedichtet, bis der Junge schließlich selbst glaubt, er habe sie, bis er selbst die Wahrheit seiner Herkunft nicht glauben kann, bis er schließlich ein Opfer der Verfolgung durch Nazis wird. Das schablonenhafte Bild verfehlt die Wirklichkeit. Das Richten wird zum Hinrichten.

„Richtet nicht! Verdammt nicht! Vergebt!" sagt Jesus. Matthäus sieht ihn als Lehrenden auf dem Berg. Lukas sieht ihn als Predigenden auf dem Feld, dessen Kraft übergeht auf Menschen, die Hilfe brauchen.

Vom Reich Gottes predigt Jesus. Mit seinem Kommen bricht die Herrschaft Gottes herein und stürzt die Welt um. Die Armen, die Hungernden, die Weinenden, die Gehassten, Ausgestoßenen, Geschmähten und Verworfenen - gerade sie sind eingeladen ins Reich Gottes. Sie werden das Reich erben. Sie werden satt werden, sie werden lachen, sie werden voller Freude den Lohn der Hoffnung empfangen. Denn Gottes Sohn preist sie glückselig. Seine Weherufe gelten den Reichen, die nur an sich denken. Ihr Lohn ist mit ihrem vergänglichen Gut dahin.

Wie lässt sich das Leben im Reich Gottes beschreiben? Mit einem Satz der Predigt Jesu: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist." (V. 36) Barmherzigkeit ist die Grundordnung des Reiches Gottes. Und sie entfaltet Jesus.

Schenken und Leihen ist das Kennzeichen der Christinnen und Christen, die im Reich Gottes leben. Weltweit arbeitet Oikocredit, die ökumenische Entwicklungsgenossenschaft. Sie zeigt in über 750 Projekten in ca. 70 Ländern, dass die ärmsten Gemeinschaften aus eigener Kraft zu menschenwürdigen Lebensverhältnissen kommen, wenn ihnen eine Starthilfe durch ein Darlehen gewährt wird. Es braucht nur der übliche Zinssatz zu gelten, und die Zeit für die Rückzahlung muss angemessen sein, z.B. 10 Jahre. In unserm Partnerkirchenkreis Sinabun, Nordsumatra, Indonesien, sieht das so aus: Bankangestellte gehen zu den Händlerinnen auf den Markt und tragen in ihr Büchlein die Darlehen ein, die gewährt werden und was an Zins und Tilgung zurückkommt. Die verliehenen Summen werden bei Oikocredit vollständig zurückgezahlt. Die ökumenische Entwicklungsgenossenschaft ist ein Gegenmodell zu ungerechten Weltwirtschaft, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.  

Barmherzigkeit gegenüber dem nächsten Mitmenschen zeigt sich über besonderen Herausforderungen: Die Liebe zum Nächsten bewährt sich in der Feindesliebe, von der zuvor die Rede ist (Verse 27-35) Gemeint ist: In den Kreislauf der Rache und Vergeltung treten Christen und Christinnen gar nicht erst ein, sondern ihr Verhalten ist so offen und freigiebig, dass es Feindschaft in Freundschaft umzuwandeln vermag. Kritiklosigkeit oder Nachgiebigkeit gegenüber ungerechtem Verhalten ist nicht gemeint. „Immer und immer wieder", schrieb Mahatma Gandhi, der politische und geistige Führer Indiens in die Unabhängigkeit (1869-1948), „habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Gute Gutes hervorruft, das Böse aber Böses erzeugt. Wenn daher dem Ruf des Bösen kein Echo wird, so büßt es aus Mangel an Nahrung seine Kraft ein und geht zugrunde. Das Übel nährt sich nur von seinesgleichen. Weise Menschen, denen diese Tatsache klar geworden ist, vergalten daher nicht Böses mit Bösem, sondern immer nur mit Gutem und brachten dadurch das Böse zu Fall."  Gewaltfreiheit ist die Fähigkeit, Gewalt hinzunehmen, ohne zurückzuschlagen, aber auch ohne zurückzuweichen, um sie auf diese Weise zu überwinden. Sie wirkt wie ein Gegengift, welches das Gift der Gewalt, das in unsere sozialen Beziehungen eingedrungen ist und sie zersetzt, neutralisiert." Heere können ein Land erobern, kontrollieren können sie es nicht, wenn die Einwohner die Zusammenarbeit verweigern. Passiver Widerstand kann die Kosten der Besetzung eines Landes ins Unermessliche steigen lassen, bis die Eroberer das Interesse an der Besetzung verlieren.

Feindesliebe wird oft als passives Hinnehmen der Gewalt verstanden. Da meint Jesus nicht. Wer bereit ist, Gewalt hinzunehmen, ohne ein Gefühl von Hass oder Rache gegen den Übeltäter, bringt damit eine Kette der Gewalttaten, die sich durch die Geschichte hinzieht, an ein Ende. Er reinigt die Gesellschaft vom Gift der Gewalt und heilt auf diese Weise die sozialen Beziehungen in seiner Umwelt. Gewaltfreiheit, Wahrheitskraft, Nächsten- und Feindesliebe muss sich folglich im täglichen Leben bewähren oder sie ist nichts wert. In extremen Ausnahmefällen, nämlich angesichts brutaler Gewaltanwendung, haben Menschen  gewaltlosen Widerstand unter dem Opfer ihres Lebens geleistet. Dann standen sie an der Seite Jesu. Oberflächlich betrachtet, hat der Römer Pilatus, der Jesus foltern und ermorden ließ, gesiegt. Zu Ostern aber wird verkündet: Der Gekreuzigte überlebt seine Mörder. Die Liebe Jesu, der noch für seine Mörder um Vergebung bat, war stärker als Grausamkeit und Gewalt. Gerade nach dem Tod Jesu und dem Tod christlicher Märtyrer ist die Kirche entstanden und unaufhaltsam gewachsen. Zu Ostern wird Jesu Sieg über Tod und Gewalt verkündet.

 

Die Mahnungen zur Barmherzigkeit verdeutlichen Gleichnisse. Sie warnen davor, vom Weg ins Reich Gottes, dem Weg der Barmherzigkeit, abzuweichen. Wenn Blinde anderen Blinden den Weg weisen wollen, werden beide in die Grube fallen. In die Grube fallen wie Blinde und ihre blinden Führer - das ist das Gegen-Beispiel zum schützenden, bergenden Gottesreich. Jesus mutet uns zu, Vorbilder barmherzigen Handelns zu werden.

„Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister", sagt Jesus. Das griechische Wort „Mathätäs", immer mit „Jünger" übersetzt, bedeutet eigentlich „Lernender". Und das griechische Wort „didaskalos", übersetzt „Meister", bedeutet eigentlich „Lehrer". In der Schule Jesu lernen wir Barmherzigkeit. Passse dich nicht den harten und grausamen Regeln der Welt an; meine nicht, als Schülerin oder Schüler alles besser zu wissen als dein Lehrer, sagt Jesus.

Unsere germanischen Vorfahren kannten kein Wort für „barmherzig". Es wurde ihnen von den iro-schottischen Mönchen, den Missionaren in Deutschland, geschenkt als Übersetzung des lateinischen Wortes misericors. „Arm-herzig, ein Herz für die Armen haben, bedeutet das. Das griechische Wort oiktirmon, das Lukas verwendet, kommt im klassischen Griechisch gar nicht vor. Luther übersetzt: „barmherzig". Es wurde gebildet von oiktiro, beklagen, Mitleid haben mit jemandem. Im Mittelhochdeutschen gab es das Wort miteliden als Lehnübersetzung von dem lateinischen Wort compassio, das seinerseits eine Lehnübersetzung vom griechischen Wort sympatheia ist. Wer mitleidig ist, hat Sympathie mit den Leidenden, leidet mit ihnen und versucht zu helfen. Im Geiste Jesu finden wir zur Haltung der Barmherzigkeit.

„Den Splitter im Auge des anderen" sehen, „den Balken im eigenen Auge „ aber nicht - Diese Warnung Jesu vor Selbstgerechtigkeit und Verurteilung von Mitmenschen ist sprichwörtlich geworden. Natürlich, keiner ist ohne Fehler. Nur Gott sieht die ganze Wahrheit. Immer wieder irren wir in der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ideologien können massenhaft verbreitet werden. Feindbilder können zu Kriegen führen. Zurzeit hat die Ideologie des kapitalistischen Marktradikalismus einen Spielhallen-Betrieb rund um die Welt organisiert, Schuldscheine als Gewinne verkauft, bis das Gebäude von Spekulationen zusammenbrach und viele ins Elend trieb. Die rechte Sicht gewinnen wir eben nicht durch Überheblichkeit, Selbstgerechtigkeit und Unwilligkeit zu lernen.

Jesus führt uns heraus aus diesem Schlachtfeld „Jeder gegen jeden zum eigenen Vorteil". Er bringt uns dorthin, wo Blumen blühen und Vögel singen, Zeichen der Fürsorge und Barmherzigkeit Gottes. Hier helfen sich die Barmherzigen, die um ihre eigenen Fehler wissen, gegenseitig zurecht, ziehen sich behutsam ihre Splitter, beginnen bei den eigenen Balken, so dass alle klarer sehen, wie schön die Welt ist und bleiben könnte, wenn wir in die Schule der Barmherzigkeit Jesu gehen.

Gudrun Pausewang hat einer ihrer Geschichten die Überschrift „Trotzdem" gegeben. Sie bezieht sich auf den Rand der Gesellschaft. Da sind junge Menschen im Gefängnis. Einer bekommt Besuch, von seiner Großmutter. Ja, dass sie kommt, kann keiner verstehen. Auch nicht die Frau, die im Wartesaal neben ihr sitzt. Ihr Sohn hat nur ein paar kleine Einbrüche auf dem Kerbholz. Dieser aber hat eine ganze Schule angezündet, die Schule seines Scheiterns. "Den würde ich nicht besuchen", sagt die Jüngere. „Der ist gemeingefährlich."  „Aber er hat doch niemanden als mich", sagt die alte Frau. Dann geht die Tür auf, und ein junger Mann tritt ein, begleitet von einem Wärter. „Junge", sagt die alte Frau und steckt ihre Hände aus. Die Tränen kommen. Dann weint auch der junge Mann. Er hat ihr Angebot gehört. Wenn er aus der Haft auf Bewährung freikommt, darf er bei ihr wohnen, so wie früher, als er noch klein war. „Ach Oma, dass du mich annimmst", sagt der junge Mann unter Schluchzen und legt seinen Kopf auf ihre Schulter.

Nicht Richten, nicht Verdammen! predigt Jesus. Vergeben - das ist die Gestalt der Gnade, wie sie im Reich Gottes erfahrbar wird. Unsere Barmherzigkeit soll weiter verweisen auf die Barmherzigkeit Gottes. Und dass wir ein Herz für die Armen haben, soll daran erinnern, dass Gott ein Herz für uns Arme hat. Denn wir leben von der Barmherzigkeit Gottes, an die die Vögel und die Lilien erinnern. Die Lilien weben und spinnen nicht. Aber schöner als sie sah der König Salomo auch nicht aus, predigt Jesus. Wir sollen die Zeichen der Güte Gottes sehen. Sonnenschein und Rauschen der Blätter, sanfte Maiglöckchen und dunkle Tannen, Schnee und Wind, Schmetterlinge und der Blick auf die Sterne. Wir sind eingeladen, die Tage, die Abende, die Nächte von Gott, dem Schöpfer allen Lebens. Seine Güte und Barmherzigkeit dürfen wir widerspiegeln.

Und habt keine Angst, dass ihr dabei zu kurz kommt, predigt Jesus. „Gebt, so wird euch gegeben!" Das Maß ist bis zum Rand gefüllt, die Getreidekörner werden noch einmal gerüttelt, so dass jeder Hohlraum ausgefüllt ist, noch einmal gedrückt, dass noch mehr hineinpasst, ein kleiner Hügel, von dem noch etwas überfließt, hinein in den Schoß der Beschenkten, deren Gewand alles auffängt. „Unser täglich Brot" bekommen wir von Gott. Er zählt und belohnt, was in der Welt als Verlust notiert wird: Das Schenken, das Leihen. Denn er gebietet, was er bietet: Barmherzigkeit. 

                                                                   Amen



Pfarrer i.R. Dr. Reinhard Gaede
Kirche zu Laar, Herford
E-Mail: reinhard-gaede@gmx.de

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